eJournals Forum Modernes Theater 30/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2015-0004
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In der medizinischen Ausbildung wird seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum auf sogenannte Simulationspatienten (SPs) zurückgegriffen. Professionelle und Laienschauspieler dienen den Studierenden als gespielte Patienten, um unter anderem Untersuchungstechniken und Gesprächsführung zu üben. Untersuchungen haben gezeigt, dass Simulationspatienten von Studierenden wie erfahrenen Medizinern kaum bis gar nicht von echten Patienten unterschieden werden können. Der Aufsatz möchte den Einsatz von SPs als Untersuchungsgegenstand für die Theaterwissenschaft vorschlagen und dazu drei Auffälligkeiten fokussieren: Die authentische Patientendarstellung von Laienschauspielern, den Unterschied zwischen SPs und Schauspielern sowie die Auswirkungen der Simulation auf Studierende und Simulationspatienten.
2019
301-2 Balme

Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung

2019
Mathias Müller
Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung. Ein theaterwissenschaftlicher Zugang Mathias Müller M. A. (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) In der medizinischen Ausbildung wird seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum auf sogenannte Simulationspatienten (SPs) zurückgegriffen. Professionelle und Laienschauspieler dienen den Studierenden als gespielte Patienten, um unter anderem Untersuchungstechniken und Gesprächsführung zu üben. Untersuchungen haben gezeigt, dass Simulationspatienten von Studierenden wie erfahrenen Medizinern kaum bis gar nicht von echten Patienten unterschieden werden können. Der Aufsatz möchte den Einsatz von SPs als Untersuchungsgegenstand für die Theaterwissenschaft vorschlagen und dazu drei Auffälligkeiten fokussieren: Die authentische Patientendarstellung von Laienschauspielern, den Unterschied zwischen SPs und Schauspielern sowie die Auswirkungen der Simulation auf Studierende und Simulationspatienten. Wenn davon die Rede ist, dass in der medizinischen Ausbildung Studierende mit Schauspielern Gesprächsführung und Untersuchungstechniken üben, 1 verbirgt sich hinter dieser Aussage gleichermaßen der Ausgangswie auch ein erster Streitpunkt der folgenden Überlegungen. Seit den 1960er Jahren hat sich zunächst im USamerikanischen, später im angelsächsischen und inzwischen auch im deutschsprachigen Raum ein Wandel in der medizinischen Ausbildung vollzogen. Vermehrt wird Wert auf das Lehren angewandten medizinischen Handelns gelegt, welches sowohl die konkrete Durchführung bestimmter Untersuchungen, aber auch vor allem die Kommunikation mit Patienten, beispielsweise bei der Anamnese oder beim Überbringen schlechter Nachrichten, beinhaltet. 2 Damit die Medizinstudierenden dies ausführlich üben können, 3 werden sogenannte Simulationspatienten (kurz: SP) eingesetzt. Bei SPs handelt es sich um ausgebildete Schauspieler oder Laien, welche eine vorgegebene Patientenbiographie mit einem bestimmten detaillierten Krankheitsbild darstellen. Dies geschieht nicht nur zu Übungszwecken, sondern auch im Rahmen von Prüfungen, in welchen der SP an der Bewertung der Studierenden beteiligt wird. Dazu werden nicht nur Erwachsene, sondern auch Jugendliche und sogar Kinder als SPs eingesetzt. Simulation bedeutet in diesem Zusammenhang demnach, „ dass bestimmte Bedingungen oder Merkmale von Situationen aus dem realen Leben nachgebildet oder kreiert werden, damit jemand, der daran teilnimmt, etwas lernt, übt oder seine bzw. ihre Leistung bewertet wird “ . 4 Der Einsatz von SPs ist nicht unumstritten, jedoch bietet das Üben und Lernen in simulierten Szenarien diverse Vorteile gegenüber dem echten Patienten: Studierende fühlen sich weniger überfordert oder ins kalte Wasser geworfen; es können (Extrem-)Situationen geübt werden, wie sie in der Realität nur selten auftreten; Gespräche und Untersuchungen können beliebig oft wiederholt werden, wobei gleichzeitig kein Patient zu Schaden kommen kann. Darüber hinaus sei das Üben an und mit einem SP weitaus authentischer als beispielsweise der Umgang mit einem technischen Simulator. 5 Weiterhin gehört zum Forum Modernes Theater, 30/ 1-2 (2015 [2019]), 34 - 46. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2015-0004 Üben mit SPs stets eine Feedbackrunde am Ende der Simulation, bei der der SP dem Studierenden Rückmeldung gibt, wie er die Situation erlebt hat. Dazu werden die SPs von ihren Trainern, mit denen sie ebenfalls gemeinsam die entsprechenden Patientenrollen vorbereiten, im Geben von Feedback geschult. Kritiker setzen dem entgegen, dass die Studierenden sich durch Lernen mit dieser Methode ein mechanisches Verhalten antrainieren würden. Die angehenden Mediziner seien zwar geübt darin, Empathie vorzuspielen, jedoch nicht wirklich zu empfinden. Weiterhin seien die Szenarien mit SPs so standardisiert und in ihrer Komplexität reduziert, dass diese keine unvorhersehbaren oder untypischen Vorkommnisse mehr beinhalten würden und damit kein adäquates Abbild der Realität mehr seien. 6 Überhaupt seien Simulationen mit SP niemals authentisch genug, da selbst die besten Schauspieler Authentizität allenfalls vortäuschen könnten. 7 Aus wissenschaftlicher Perspektive erhält die Arbeit mit Simulationspatienten die größte Aufmerksamkeit von Seiten der Medizindidaktik und -theorie. Dabei wird vor allem Fragen bezüglich des Lernerfolgs der Studierenden sowie der Wirkung des Simulierens auf die SPs selbst nachgegangen. 8 Des Weiteren wird untersucht, wie der Einsatz von SPs optimiert und in welche Bereiche der Lehre er ausgeweitet werden kann. 9 Einige wenige kulturwissenschaftlich-philosophische Betrachtungen fokussieren vordergründig die Anforderungen an den ausgebildeten Arzt wie Empathie und Authentizität, welche beim Üben mit SPs expliziert werden. 10 Im Folgenden wird eine theaterwissenschaftliche Untersuchung des Einsatzes von SPs annonciert, welche überraschenderweise bisher im deutschsprachigen Raum kaum bis gar nicht stattgefunden hat. Einzig aus der Theaterpädagogik gibt es bisher Überlegungen, die das Training der SPs thematisieren und beispielsweise diskutieren, mit welchen Schauspieltechniken und -kniffen SPs ihre Rolle am besten vorbereiten und standardisieren können oder wie ihnen der Rollenein- und Ausstieg am besten gelingt. Als Ansatzpunkte für eine theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik werden nachfolgend drei Fragen vorgeschlagen, welche auch aus der Perspektive anderer Disziplinen zumindest bereits angerissen wurden. So wird zunächst der Ausgangsfrage nachgegangen, ob Laien oder professionelle Schauspieler die „ besseren “ SPs im Sinne einer ‚ authentischen ‘ Darstellung sind und welche Prämissen der Besetzung von Patientenrollen zugrunde liegen. Darauf aufbauend sind Überlegungen anzustellen, inwiefern es sich bei Simulationspatienten überhaupt um Schauspieler handelt beziehungsweise ob und wie sich die Performances von SPs und Schauspielern voneinander unterscheiden. Aus der lehrenden Funktion der SPs ergibt sich letztlich die Frage danach, welche Auswirkungen das Rollenspiel auf die an der Simulation Beteiligten haben kann? Der Laie als authentischer Simulant? Um Simulationspatient zu werden, durchlaufen die Bewerber ein Casting an der jeweiligen medizinischen Ausbildungsstätte, welches vom dortigen SP-Trainer durchgeführt wird. Um einen Patienten darzustellen, gibt es zunächst keine Grundvoraussetzungen. Die beiden Leiter des Simulationspatientenausschusses der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) - Christian Thrien und Tim Peters - haben in ihrer jüngsten Publikation auf den Erfahrungen des Ausschusses aufbauend jedoch einige Empfehlungen herausgegeben, welche Eigenschaften einen Bewerber für die Tätigkeit als SP qualifizieren. Dazu gehören neben sozialen Kompetenzen 35 Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung. Ein theaterwissenschaftlicher Zugang wie Empathie und einer wertschätzenden Grundhaltung auch Handlungskompetenzen wie Improvisationsfähigkeit und schauspielpraktische Vorerfahrung. 11 Dazuzuzählen sind ebenso sprachliche Kompetenzen wie „ Sprachflexibilität an bestimmte Rollen angepasst “ und ein „ angemessenes Sprechtempo “ . 12 Gerade diese erwarteten Handlungskompetenzen lassen zunächst vermuten, dass professionell ausgebildete Schauspieler die erste Wahl bei der Besetzung von darzustellenden Patientenrollen sind. Dafür spräche außerdem die bereits oben genannte Forderung nach einer stetig wiederholbaren, immer gleichen Darstellung. Die Praxis zeigt jedoch, dass es sich überwiegend um Laien, meist tatsächlich mit schauspielerischer Vorerfahrung, handelt, die zum Einsatz kommen. Dies mag mehrere Gründe haben: Zum einen sind professionelle Schauspieler, wenn sie sich beispielsweise in einem festen Engagement befinden, zeitlich weniger flexibel als Studierende oder Rentner. Zum anderen wird seitens der Medizindidaktik befürchtet, dass jene die Darstellung eines Patienten als künstlerische Herausforderung wahrnehmen, vom vorgegebenen Verlauf des Szenarios abrücken und die Rolle über die festgelegten Verhaltensmuster hinaus ausagieren könnten. 13 Eine bemerkenswerte Erkenntnis ist nun, dass in verschiedenen Studien zur Überprüfung der Authentizität von Simulationspatienten festgestellt wurde, dass diese, obwohl es sich bei den Darstellern um Laien handelte, von Studierenden wie Ärzten in der Regel nicht als solche identifiziert werden konnten, sondern für echte Patienten gehalten wurden. 14 Die SPs wurden offensichtlich als authentische Patienten wahrgenommen. Dies wirft die Frage auf, wie es den Laiendarstellern gelingt, ihre Rollen so überzeugend zu spielen und sogar Mediziner mit mehrjähriger Berufserfahrung zu täuschen. Dabei sei vor allem bedacht, dass die SPs in den simulierten Szenarien, um ein Hineinsteigern in ein Krankheitsbild zu vermeiden, üblicherweise Erkrankungen darstellen, zu denen sie - von der Auseinandersetzung während der Rollenvorbereitung abgesehen - keine persönlichen Bezugspunkte haben. Bei den oben genannten durchgeführten Studien wussten die Studierenden im Gegensatz zu einer üblichen Unterrichtssituation nicht, ob es sich bei dem zu behandelnden Patienten um einen SP oder einen echten Patienten handelte. Im Unterricht hingegen ist die Situation stets von vornherein als Simulation gerahmt und der SP als ein solcher benannt. Nichtsdestotrotz wird auch in diesen Situationen, in denen es sich offenkundig um die reine Darstellung eines Patienten handelt, dieser als ungemein echt wahrgenommen. Bemerkungen der Studierenden wie „ Man vergisst sofort, dass es nur gespielt ist “ oder „ Das war wie echt “ sind keine Seltenheit, sondern klingen in den anschließenden Feedbackrunden häufig an. 15 Körperliche Reaktionen der Studierenden wie Schwitzen, ein stockender Redefluss oder Rot-Werden weisen auf eine starke affektive Wirkung der Situation hin. Worin könnte diese auffallend große Befähigung der Laien bei der Übernahme von Patientenrollen, also deren Authentizität als Patienten, begründet sein? Zunächst könnten zur Erklärung die Trainings herangezogen werden, welche der SP im Vorfeld seiner Darstellung durchläuft. Gemeinsam mit dem SP-Trainer oder auch in der Anwesenheit des Autors, welcher das Szenario für den Unterricht verfasst hat, wird das Krankheitsbild erklärt, die biographischen Hintergründe der Rolle erarbeitet und schließlich die Darstellung gemeinsam geübt. 16 In der Theorie wird dazu seitens der Medizindidaktik empfohlen, auf die Schauspielmethodik Stanislawskis zurückzugreifen und sich mit Hilfe des „ als ob “ in das zu spielende Szenario einzufinden. 17 In der 36 Mathias Müller Praxis bleibt den SPs jedoch in der Regel selbst überlassen, wie sie das Szenario erarbeiten; der Fokus liegt auf der Darstellung der Symptome, welche nach vorheriger Erklärung vor- und nachgespielt werden, bis sie dem Autor des Szenarios authentisch erscheinen. Praktisch bedeutet dies allerdings kein wochenlanges Proben, sondern nur einige Stunden, manche davon zu Hause im Eigentraining. Mit einer schauspielerischen Ausbildung ist dies also keinesfalls vergleichbar. Dass dies gerade bei den SPs ohne größere schauspielerische Vorerfahrung ausschlaggebend dafür ist, um als realer Patient wahrgenommen zu werden, kann bezweifelt werden. Dennoch werden vorherrschende Darstellungskonventionen des Laienspiels wie „ Luftmalerei “ oder „ Laiengezappel “ 18 wenig bis kaum erfüllt. Als Untersuchungsansatz wird an dieser Stelle der Begriff des „ Experten “ vorgeschlagen. Dieser taucht nicht zuletzt im Diskurs über die Arbeit mit Laien(darstellern) im professionellen Kontext im Rahmen des postdramatischen Theaters auf. In Arbeiten von Volker Lösch oder Rimini Protokoll werden Akteure ohne professionellen Schauspielhintergrund als sogenannte „ Experten des Alltags “ eingesetzt. Diese treten häufig nicht in einer Rolle, sondern als ‚ sie selbst ‘ auf, erzählen ihre eigene Geschichte, sind also Experten des eigenen Alltags. Mit ihnen bricht sozusagen das ‚ wahre Leben ‘ in die Bühnenrealität ein. 19 ‚ Echte Menschen ‘ stehen im Mittelpunkt der Regiearbeit und dienen der Auseinandersetzung von Realität und Fiktion. Sie bauen dabei auf einem Wissen auf, welches sie aus der Praxis ihres alltäglichen Lebens entnehmen können: sich verstellen, präsentieren oder einen bestimmten Eindruck auf sein Gegenüber zu machen, gehört fest zum Alltag in Arbeit und Freizeit dazu. 20 Diese Experten des Alltags unterscheiden sich von den Laien-Patientendarstellern insofern, dass diese niemals als sie selbst, sondern in einer festgelegten Rolle nach strengen Regeln agieren. Der Einsatz der Laien im postdramatischen Theater ist Ausdruck einer bestimmten Ästhetik, da deren Körper „ nicht ausschließlich beherrschbare Ausdrucksmedien und virtuose Körperinstrumente “ sind, sondern „ den Eigensinn und die Widerständigkeit des Körpers vor[führen], der eben nicht nur Mittel, sondern auch Hindernis sein kann “ . 21 Dies ist bei den SPs gerade nicht der Fall. Hier soll der Körper komplett beherrscht werden, da in standardisierten Szenarien körperliche Hinweise auf die simulierte Krankheit genau und immer gleich wiedergegeben werden sollen. Wie kommt es bei den SPs dazu, dass jener Eigensinn des Körpers so gut beherrscht werden kann und deren Darstellung nicht als übertriebenes Spiel wahrgenommen wird? Obwohl sich die Rimini Protokoll-Akteure und die SPs offensichtlich deutlich voneinander unterscheiden, scheint der Begriff des „ Experten “ dennoch eine Spur zu sein, der sich nachzugehen lohnt. In seinem Buch „ Experten des Alltags “ beschäftigt sich der Soziologe Karl Hörning mit der Wiederentdeckung praktischen Wissens gegenüber theoretisch-methodischen Wissensformen. Durch eine längere Beschäftigung mit komplexen Handlungszusammenhängen kann der Alltagspraktiker zu Kompetenzen gelangen, die ein rein theoretisches Wissen übersteigen und ihn vom Laien zum Experten machen, so Hörnings These. 22 So wie die Akteure des postdramatischen Theaters durch ihre Alltagspraxis zu Experten des eigenen Lebens wurden, zu Piloten, Rentnern, Arbeitslosen und so weiter, so mag es sich bei Simulationspatienten ihrerseits ebenfalls um ein bestimmtes Expertentum handeln. Damit kann jedoch kein Expertentum auf die darzustellenden Krankheitsbilder gemeint sein, denn zu diesen sollen die SPs ja eine möglichst große Distanz aufweisen. Aber worin sind die SPs dann Experten? Zu den anfänglichen Überlegun- 37 Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung. Ein theaterwissenschaftlicher Zugang gen der Ausgangsfrage zurückkehrend, soll dafür noch einmal ein Blick auf vorgeschlagene Eigenschaften eines angehenden SPs geworfen werden. Neben den bereits zuvor erwähnten Handlungs- und sprachlichen Kompetenzen wird über erste schauspielerische Erfahrung hinaus auch erste ‚ Feedbackerfahrung ‘ gewünscht. 23 Des Weiteren gelten als gute Eigenschaften des Bewerbers, wenn dieser „ nicht in erster Linie nach Bezahlung und Zeitaufwand “ fragt sowie eine „ wohlwollende Einstellung [. . .] in Bezug auf das Gesundheitswesen “ aufweist. 24 Handelt es sich bei den Simulationspatienten also um Feedback-Experten, die aus einer wie auch immer gearteten, jedoch nicht primär finanziellen intrinsischen Absicht Teil der medizinischen Ausbildung sein möchten? 25 Verfolgt man diesen Gedanken, stellen sich weitere Fragen: Im Anschluss an ein simuliertes Szenario gibt der SP dem Studierenden Feedback darüber, wie er die Situation aus Patientensicht erlebt hat - wie empathisch war der Arzt, wie gelungen waren seine Erklärungen, hatte er eine ansprechende Körpersprache, hielt er Blickkontakt und so weiter. Auf welches Vorwissen greift der SP zurück, wenn er Eigenschaften und Verhalten des Studierenden im Feedback bewertet? Wie kann das Feedback authentisch sein, wenn der SP in der Regel selbst über keine Erfahrung mit dem von ihm dargestellten Krankheitsbild verfügt? 26 Dazu wird der SP einerseits im Vorfeld instruiert, auf welches Verhalten er beim Studierenden zu achten hat, andererseits greift er dabei auf seine eigenen persönlichen Erfahrungen und Wünsche als Patient zurück. Demnach scheint es sich aus medizindidaktischer Sicht bei Simulationspatienten nicht nur um Akteure zu handeln, die besonders gut reflektieren und rückmelden können, sondern auch um eine Art Patientenexperten. Für die Darstellung der Patientenrollen werden demnach zumindest implizit Personen gesucht, die an der Ausbildung von Medizinstudierenden interessiert und gewissermaßen ‚ Experten im Patient-Sein ‘ und dadurch besonders authentisch wirken. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass diese chronisch oder in der Vergangenheit häufig krank gewesen sein müssen, 27 sondern dass diese ihre eigene Rolle als Patient und die eigenen Wünsche an ein Arzt-Patient-Verhältnis in besonderem Maße reflektieren können. Hierbei scheint sich ein Widerspruch aufzutun: Gerade nicht-professionelle Darsteller sind durch ihr Expertentum die professionellsten Simulationspatienten. Sie stellen zwar eine Krankheit dar, greifen jedoch in der Grundsituation als Patient ähnlich den Rimini Protokoll-Akteuren auf ihr Wissen als Experten zurück. Die Leiterin des Simulationspatientenprogramms der medizinischen Hochschule Brandenburg Henrike Hölzer betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der „ Rolle der Personen ‚ hinter ‘ den SP[s] “ , welche nicht zu unterschätzen sei, da die persönliche Wahrnehmung nicht unerheblichen Einfluss auf die Darstellung und das Feedback der SPs habe. 28 SPs brächten zwangsläufig ihre eigenen Erfahrungen als Patienten und ihre eigenen Biographien mit, sodass sich reale Patienten und Simulationspatienten nicht grundsätzlich, sondern nur graduell voneinander unterschieden. 29 Hölzer führt bei dieser Feststellung scheinbar unfreiwillig die Unterscheidung von phänomenalem sinnlichem Leib und semiotischem Körper an. 30 Der Schauspieler verwandelt seinen in der Welt befindlichen Leib in einen Körper, der als Zeichen beziehungsweise Zeichenträger fungiert. Dabei ist jedoch die Bedeutung des Leibes nicht zu vernachlässigen, welcher als Sitz der Erfahrungen und des sinnlichen Spürens des Schauspielers Einfluss auf jede Darstellung hat. Sprich: Auch in ihrer Patientenrolle können die SPs nicht aus ihrer eigenen Haut. Demnach handelt es sich eben nur teilweise 38 Mathias Müller um ein Spielen seitens der SPs und teilweise um ein reales Patient-Sein. Diese Feststellung führt zu einem Paradoxon, da der Verlauf der Simulation durch das Rollenskript und festgelegte Reaktionen auf bestimmte Handlungen des Arztes zu einem bestimmten Teil vorgegeben ist und somit die Natürlichkeit und das Nicht-Spiel des SPs eingeschränkt werden. Die Simulationspatientin und SP-Trainerin Laura Nelles formuliert dies wie folgt: „ While it can be said that we are not acting, it is also true that we are not not acting. “ 31 Der scheinbare Widerspruch aus gelungener Patientendarstellung und der Laienhaftigkeit der Akteure als Ausgangspunkt der Überlegungen lässt sich abstrahieren auf ein Verständnis von Schauspiel als Produkt eines Kunsttheaters, welches die Aspekte der Institution, der Ausbildung und der Ästhetik verhandelt und sich von einem Amateurtheater abgrenzt. 32 Demnach ging der Diskussion um die SPs nämlich bisher unumgänglich die Annahme voraus, dass es sich bei Simulationspatienten um Schauspieler handelt. Dies wird jedoch in den nachfolgenden Überlegungen zu diskutieren und dabei das SP-Paradox von Rollenspiel und Authentizität noch einmal aufzugreifen sein. Sind Simulationspatienten Schauspieler? Personen, welche im Kontext der medizinischen Ausbildung Patientenrollen darstellen, haben im Laufe der Zeit in ihrer Funktion neben „ Simulationpatient “ noch weitere Bezeichnungen erhalten. So ist am häufigsten noch von „ Standardisierten Patienten “ (standardized patients) und „ Schauspielpatienten “ die Rede. 33 Hölzer erklärt, dass in den entsprechenden Fachgesellschaften eine eindeutige Terminologie festgelegt wurde, um das Wort „ Schauspieler “ im Zusammenhang mit SPs zu vermeiden. Dies sei vorrangig geschehen, um keinen Zweifel an der Authentizität der Methode Simulation aufkommen zu lassen. 34 Sie verweist in diesem Zusammenhang auf eine Aussage der Leiterin des SP-Programms der Pritzker School of Medicine der Universität Chicago, Kris Slawinski: In fact, the word ‚ actor ‘ is a dirty word in my facility, as it is clear to me - and eventually becomes clear to faculty when they refrain from using the word in discussing the sessions with students - that students do better with SPs when they are focused on encountering a patient, rather than meeting with an actor who is playing a patient. [. . .] I make it clear to the SPs that their input is valuable in honing the training materials, sniffing out undeveloped elements and details that don ’ t ring true to the scenario, and keeping it as real as possible. 35 Handelt es sich demnach bei den SPs gar nicht um Laien-Schauspieler und ist deswegen der Vergleich zu professionellen Schauspielern sowie die Frage nach der Authentizität deren Darstellung obsolet? Wenn dem so ist, worum handelt es sich bei SPs dann stattdessen? Die Medizindidaktik hat diese Frage bisher dahingehend beantwortet, dass es sich bei SPs nicht um Schauspieler per se handelt, wie die oben angeführte Verbannung der Wörter „ actor “ beziehungsweise „ Schauspielpatient “ zeigt. Gleichzeitig wird jedoch eingeräumt, dass SPs und Schauspieler durchaus große Ähnlichkeiten miteinander haben, da sie beide mit dem eigenen Körper vor einem Publikum jemand anderen darstellen. 36 Nichtsdestotrotz werden mehrere Unterschiede zwischen den beiden Darstellungen ausgemacht. Vor allem liege diesen jeweils ein anderes Ziel zugrunde: [SPs] do something different from actors too, relating to the purpose of performance. The actor is an artist, bringing to life a character in the service of the playwright, a director ’ s 39 Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung. Ein theaterwissenschaftlicher Zugang vision or a producer. SPs are ‘ patients ’ as teachers. They embody another person, such as a patient, not so much to pretend that they are this other but to serve as their proxy and to work towards clinician learning. 37 Es lässt sich ablesen, dass in der Medizin scheinbar eine geradezu naive und eingeschränkte Vorstellung vom Schauspieler vorherrscht, der einerseits nur als Darsteller in Diensten einer dramatischen Rollenfigur zu figurieren, andererseits als ‚ Illusionist ‘ oder ‚ Betrüger ‘ nicht in der Lage zu sein scheint, als authentischer Patient für die medizinische Ausbildung zu dienen. Diese Vorstellung vom Status des Schauspielers ist jedoch längst überholt. Mit Blick auf das postdramatische Theater und dessen Diskurs, dem für diesen Aufsatz bereits der Begriff des ‚ Experten ‘ entnommen wurde, soll auf das Konzept des affektiven Schauspielers nach Wolf-Dieter Ernst verwiesen werden. Mit dem Konzept des affektiven Schauspielers wird einer Entwicklung Rechnung getragen, bei der eben nicht mehr das Ausgieren einer Rollenfigur im Vordergrund steht, sondern die Performativität des Schauspielers, welcher mit der „ Entladung und Hemmung von Energien “ spielt. 38 Als Affekt wird hierbei die „ Wirkung und das Wirkungsprinzip einer schauspielerischen Darstellung “ sowie „ eine besondere Relation, in welcher Darstellung, Dargestelltes und Betrachtung aufeinander bezogen sind “ . 39 Der affektive Schauspieler steht demnach theaterhistorisch im Kontext der Debatte, ob der Schauspieler die Gefühle der von ihm zu verkörpernden Figur selbst fühlen muss, um den Zuschauer zu bewegen. 40 Gerade an diese Debatte schließen die Gedanken der Medizindidaktik an: Wie und von wem müssen Krankheiten dargestellt werden, damit angehende Mediziner diese bestmöglich identifizieren und die Situation des Patienten nachempfinden können. Wie bei der Spielweise des affektiven Schauspielers, welche zwar einem Probenprozess unterliegt, bei der jedoch die Affekte „ dereguliert “ sind und „ [frei] flottieren “ , unterliegen die SPs einer vorgegebenen und geprobten Rolle. 41 Allerdings (re-)agieren sie in jeder Simulation frei, je nachdem wie sich die Situation entwickelt und sich der ihnen gegenüberstehende Studierende verhält. Auch Ernst verweist bei seinen Ausführungen zum affektiven Schauspieler auf Helmuth Plessners Konzept von „ Leib-Sein “ und „ Körper-Haben “ und betont dabei die Bedeutung des Schauspielerleibes, der den Sitz dessen Erfahrungen bildet, welcher bereits als eine wichtige Basis für das Expertentum der SPs identifiziert wurde. 42 Die SPs können als stark affektive Schauspieler betrachtet werden, die auf ihren eigenen Erfahrungsschatz rekurrieren. Die zuvor gewonnene Erkenntnis, dass SPs durch ihren Expertenstatus authentisch wirken und statt Spielende echte Patienten zu sein scheinen, lässt sich an dieser Stelle erweitern: Während die Ebenen von Akteur, Rolle und Figur im (Schau)Spiel oszillieren und hervorgebracht werden, wird im Falle der SPs die zu spielende Patientenrolle vom Akteur selbst überlagert. 43 Die Rolle fungiert hierbei als Rahmen, in welchem der SP nicht als Werkzeug des Szenarios agiert, sondern die eigenen Energien entlädt und dabei sein Gegenüber affiziert. Die beschriebene Funktion des Spielenden als Lehrender für die Zuschauenden erinnert ferner an das Konzept des Lehrstücks von Bertolt Brecht. Ähnlich wie bei den Simulationen in der medizinischen Ausbildung ist hierbei das Spiel der Akteure primär didaktisch gerahmt und die ästhetische Rahmung auf ein Minimum reduziert. In diesem soll die Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren dahingehend aufgehoben werden, dass es sich bei allen Teilnehmenden an der theatralen Situation um Mitspielende handelt, welche gleichzeitig Lernende sind. 44 Die Methode der Simu- 40 Mathias Müller lation funktioniert ähnlich: In kleinem Rahmen sind auch die Studierenden, welche nicht gerade selbst mit dem SP üben oder interagieren, insofern beteiligt, dass sie die Situation bewerten und in der späteren Feedbackrunde kommentieren müssen und daraus letztlich Schlüsse auf das eigene Verhalten ziehen sollen. Häufig werden dabei mehrere Stationen durchlaufen, d. h. mit unterschiedlichen SPs werden nacheinander unterschiedliche Fälle simuliert, bei denen jeweils ein anderer Studierender in die Rolle des behandelnden Arztes schlüpft. Dass alle Teilnehmenden von einer Rolle zur Nächsten wechseln, sodass jeder die gleiche praktische Kenntnis gewinnen und in einer anschließenden Diskussion alle Positionen nachvollziehen kann, findet sich so ebenfalls im Konzept des Lehrstücks wieder. 45 Durch das Handeln im Spiel, d. h. durch das Annehmen bestimmter Haltungen, die Durchführung bestimmter Handlungen und die Wiedergabe bestimmter Reden, und die anschließende Reflexion darüber sollen die Teilnehmenden eines Lehrstücks erzogen werden. 46 Erziehung bedeutet in diesem Zusammenhang „ die Stärkung der sozialen Kompetenz der Übenden “ . 47 Eben diese ist eines der wesentlichen Ziele der Arbeit mit Simulationspatienten, obgleich Brecht sich hierbei klar auf politische Kompetenzen bezieht. SPs spielen also nicht bloß vor einem Publikum, sondern gemeinsam mit anderen Teilnehmern an einer theatralen Situation respektive an der Simulation. Sie sind keine echten Patienten, agieren aber gemeinsam mit den Studierenden in einer echten Situation, wie Nelles beschreibt: „ [A] simulation isn ’ t real and I, in the instance of a simulation am not a real patient, yet the experience of the interaction is real, no matter that it may be based on performed culture or hegemonic structure. “ 48 Diese Echtheit der Situation und des gemeinsamen Spiels mag eine weitere Grundlage die authentische und stark affizierende Wirkung auf die Studierenden sein. Darüber hinaus betont Nelles, dass nicht nur die eigene Biographie in die Patientendarstellung miteinfließt, sondern auch die Rolle des SPs als Teil des medizinischen Ausbildungsapparates: „ [. . .] I not only perform the role of the patient but also perform my professional view of my function in the medical milieu [. . .]. “ 49 Wenn in den simulierten Situationen SPs wie Studierende spielend miteinander lernen und die Affekte (des SPs) dabei fluktuieren, soll abschließend auf die Frage eingegangen werden, welche Wirkung jenes Spiel letztlich auf die einzelnen Beteiligten haben kann. Denn schließlich verbirgt sich hinter der Methode der Simulation eine eindeutig formulierte Wirkungsabsicht, die sich nicht auf das bloße Erproben bereits erlangen Wissens bezieht, sondern bei der es darüber hinaus darum geht, „ [. . .] die Arztrolle für sich zu definieren, sich eine entsprechende Rollenidentität anzueignen [. . .] “ . 50 Das Spiel mit SPs ist für die Studierenden also auch ein Spiel mit der eigenen Identität. Die Auswirkungen des Spiels auf die Teilnehmenden Eine laufende Studie der Medizinischen Universität Wien untersucht, welche Auswirkungen die Tätigkeit als SP auf die Patientendarsteller hat. 51 Dabei liegt der Fokus darauf zu prüfen, ob SPs im Laufe der Zeit Verhaltensmuster und vor allem Krankheitssymptome der von ihnen dargestellten Rollen übernehmen. Bisherige Studien haben nachgewiesen, dass sich negative Folgen bei SPs vor allem auf körperlicher Ebene als Begleiterscheinungen des Spielens äußern. So wurden Erschöpfung nach häufigem Spielen, Nervosität vor dem Spiel oder Unzufriedenheit mit der eigenen darstellerischen Leistung als übliche 41 Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung. Ein theaterwissenschaftlicher Zugang Folgen des Spielens festgehalten. 52 Gleichzeitig hat sich jedoch gezeigt, dass das Spiel auch die Wahrnehmung des Patientendarstellers über die eigene private Situation als Patient im Sinne eines sogenannten „ patient empowerment “ 53 verändert. Gesteigertes subjektives Selbstbewusstsein bei der Artikulation der eigenen Bedürfnisse gegenüber dem Arzt, mehr Verständnis für die ärztliche Arbeitssituation sowie eine größere Aufmerksamkeit bei der Arztkonsultation wurden als die drei zentralen Themen ausgemacht, bei denen die befragten SPs an sich selbst Veränderungen festgestellt haben. 54 Nicht nur die Studierenden gewinnen demnach durch die Simulationen an Verständnis für die Situation der Patienten, sondern auch die Darsteller selbst. Auch von Studierendenseite wird angegeben, dass die Simulationen positive Auswirkungen auf sie haben: Befragungen zeigen, dass Studierende deutlich zufriedener mit der Vermittlung von Kommunikationskompetenzen sind und sich besser für den Berufsalltag vorbereitet fühlen. 55 Neben diesen empirisch belegten Auswirkungen lässt sich aus theaterwissenschaftlicher Perspektive der Lernprozess der Studierenden in der Simulation als Schwellenerfahrung und Transformation beschreiben. Dazu soll an den bereits beschriebenen Echtheitsgrad der Situation angeknüpft werden, welcher die Rahmung der Situation als Simulation unterwandert, was in den eingangs skizzierten Reaktionen der Studierenden ( „ Das war wie echt “ ) deutlich wird. Dieser Gegensatz von Wirklichkeit und Simulation lässt sich mit Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen dahingehend deuten, dass er die Teilnehmenden in einen Zustand des krisenhaften Dazwischen versetzt und eine liminale Erfahrung ermöglicht. Der Studierende erwartet einerseits, in der Simulation sein bisher theoretisch erworbenes Wissen problemlos praktisch anwenden zu können, andererseits wird er von der Authentizität der Situation überrascht und unter Umständen überfordert. Schweißige Hände, Hilfe suchende Blicke in Richtung des Dozenten und der Kommilitonen, beschämtes Unter-sich-gucken, wenn man nicht mehr weiter weiß - diese körperlichen Reaktionen der Studierenden während der Simulation sind typisch für einen Zustand des Dazwischen, die sich laut Fischer-Lichte zu allererst als körperliche Transformation äußert. 56 Diese Auswirkungen auf die Beteiligten werden auch von Henrike Hölzer festgehalten: Die Beschwerden des Patienten und das Setting sind simuliert, nicht jedoch die während der Interaktion erzeugten Affekte. Beide Parteien identifizieren sich mit ihrer Rolle und dies bleibt keineswegs nur äußerlich [. . .]. 57 Die Studierenden geraten in einen Zustand „ einer labilen Zwischenexistenz “ , 58 in dem sie zum einen zwischen Simulation und Realität hin und her gerissen sind und zum anderen mit der Aneignung der bis dato noch nicht mit vollkommener Sicherheit erprobten Rolle des Arztes zu kämpfen haben. Die Studierenden werden gezwungen, sich mit der eigenen zukünftigen Rolle als Arzt auseinanderzusetzen und zunehmend Sicherheit in dieser zu gewinnen. Mit Beginn der Simulation müssen sie in einer anderen Funktion agieren und versuchen, dabei nicht aus der Rolle zu fallen. Überforderung durch die Echtheit und den Schwierigkeitsgrad der Situation oder mangelnde Ernsthaftigkeit und Irritation ob des Hintergrundwissens, dass ja doch alles nur gespielt ist, führen zu jener Zwischenexistenz. Diese vermag sich letztlich als Schwellenerfahrung beschreiben zu lassen. Außerdem werden die Studierenden, wie zuvor beschrieben, zu Mitspielern des SPs und agieren in der Kleingruppe auf unterschiedliche Weise mit ihm zusammen. Diese Inter- 42 Mathias Müller aktion kann nach Fischer-Lichte als ein Grundmerkmal von Schwellenerfahrungen festgehalten werden. 59 Ferner kann der Simulation eine besondere Ereignishaftigkeit zugeschrieben werden, da die Studierenden dabei gezielt Situationen durchleben, die ihnen häufig bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht begegnet sind. Laut Fischer- Lichte sind Schwellenerfahrungen dazu im Stande, die Beteiligten eine Transformation durchlaufen zu lassen. 60 Diese Transformation erstreckt sich über den Prozess der Aufführung respektive Simulation hinaus, da die angehenden Mediziner dauerhaft und irreversibel in ihre berufliche Rolle hineinwachsen sollen. Durch diese dauerhafte Transformation der Beteiligten durch das gemeinsame Handeln weist die Simulation ritualhafte Züge auf und mag dementsprechend dazu im Stande sein, bei den Beteiligten eine Schwellenerfahrung auszulösen, welche sich in einer auf das Erwerben einer beruflichen Kompetenz bezogenen Transformation äußert. 61 Nach weiteren Überlegungen verlangt an dieser Stelle die Frage, welche Erfahrungen seitens der SPs gemacht werden können. Die durch die bisherige empirische Forschung gewonnenen Erkenntnisse, dass jene gleichermaßen innerlich - im Zuge neuer Verhaltensweisen und Ansichten - wie äußerlich - beispielsweise durch körperliche Erschöpfung - durch das Simulieren beeinflusst werden, könnten dafür erste Anknüpfungspunkte bieten. Zukünftige SP-Forschung Ziel dieses Beitrags war es, den Einsatz von Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung für eine theaterwissenschaftliche Untersuchung vorzuschlagen und dafür erste Denkanstöße zu liefern. Die Expertise der SPs bei der Darstellung von Patienten und im Geben von Feedback; die Erkundung, was und wie in der Simulation eigentlich gespielt wird; die Veränderungen, welche SPs wie Studierende dadurch erleben - diese Fragen und Beobachtungen beschäftigen nicht nur die Medizindidaktik bei der weiteren Entwicklung und Erforschung der Methode Simulation, sondern sind auch aus theaterwissenschaftlicher Perspektive von Interesse. Denn abseits des Kunst- und Laientheaters im öffentlichen Raum hat sich hinter den Mauern der Universitätskliniken ein Konzept entwickelt, bei dem Ärzte als Dramaturgen und Regisseure agieren und Krankheiten, scheinbar extrem realistisch von Menschen häufig ohne Schauspielausbildung, ohne Erfahrung mit dieser Krankheit, sondern nur mit einem scheinbar stark ausgeprägten Verständnis für das Patient-Sein, dargestellt werden. Warum fühlen sich SPs nach dem Spielen unzufrieden? In welchem Verhältnis steht die affektive Spielweise der SPs zu deren Laienhaftigkeit? Wie wirken die entwickelten Szenarien und die erhofften Lerneffekte beim Studierenden zusammen? Welchen Unterschied würde es machen, Studierende selbst als Darsteller einzusetzen? Bei der Beantwortung dieser und weiterer ungeklärte Fragen können im Gegenzug theaterwissenschaftliche Überlegungen helfen. Die zu untersuchenden und zu interpretierenden Ergebnisse des Simulierens in der medizinischen Ausbildung mögen durch einen interdisziplinären Austausch besser verstanden und die Methode weiterentwickelt werden. Anmerkungen 1 Vgl. Ärzte Zeitung 12. 02. 2014: Ärzte in spe üben mit Schauspielern: https: / / www.aerztezeitung.de/ panorama/ article/ 854073/ patientengespraech-aerzte-spe-ueben schauspielern.html [Zugriff am 19. 09. 2018]. 2 Vgl. ebd. 43 Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung. Ein theaterwissenschaftlicher Zugang 3 Obgleich der Fokus dieses Aufsatzes auf dem Einsatz von Simulationspatienten zu Ausbildungszwecken im Studium der Humanmedizin liegt, ist anzumerken, dass auch bei der Ausbildung anderer medizinischer Berufe SPs eingesetzt werden. 4 Henrike Hölzer, „ Authentizität spielen lernen. Simulation in der medizinischen Ausbildung “ , in: Monika Ankele, Céline Kaiser und Sophie Ledebur (Hg.), Aufführen-Aufzeichnen-Anordnen: Wissenspraktiken in Psychiatrie und Psychotherapie, Wiesbaden 2018, S. 91 - 111, hier, S. 92. 5 Vgl. zu den Vorteilen der Simulationspatienten aus medizindidaktischer Sicht beispielsweise Jonathan Silverman, “ Teaching clinical communication: a mainstream activity or just a minority sport? “ , in: Patient education and counseling 76/ 3, (2009), S. 361 - 367; Henrike Hölzer, „ Simulanten und dressierte Affen? Die Simulation von Arzt-Patienten- Kontakten in der medizinischen Ausbildung “ , in: Walter Bruchhausen und Céline Kaiser (Hg.), Szenen des Erstkontakt zwischen Arzt und Patient, Göttingen 2012, S. 107 - 117 sowie Hölzer 2018. 6 Vgl. Kori LaDonna et al., „ Staging a performance: Learners ’ perceptions about direct observation during residency “ , in: Medical Education 51/ 5 (2017), S. 498 ff. 7 Vgl. Ged Murtagh, „ Simulated interaction and authentic interaction - a place for Conversation Analysis? “ , in: Debra Nestel und Margaret Bearman (Hg.), Simulated Patient Methodology: Theory, Evidence and Practice. Oxford 2015, S. 46 - 52, hier S. 48. 8 Vgl. dazu beispielsweise Anne Simmenroth- Nayda et al., „ Working as simulated patient has effects on real patient life - Preliminary insights from A qualitative study “ , in: GMS Journal for Medical Education 33/ 3 (2016). Doc 42, ohne Seitenangabe: https: / / www. egms.de/ static/ en/ journals/ zma/ 2016 - 33/ zma001041.shtml [Zugriff am 19. 09. 2018]. 9 Vgl. beispielsweise Anne Felton und Nicola Wright, „ Simulation in mental health nurse education: The development, implementation and evaluation of an educational innovation “ , in: Nurse Education in Practice 26 (2017), S. 46 - 52. 10 Vgl. dazu beispielsweise Hölzer, „ Simulanten und dressierte Affen? “ sowie Hölzer „ Authentizität spielen lernen “ . 11 Vgl. Andrea Rietfort und Renate Strohmer, „ Akquise von SPs - Rekrutierung und Auswahl “ , in: Tim Peters und Christian Thrien (Hg.), Simulationspatienten. Handbuch für die Aus- und Weiterbildung in medizinischen und Gesundheitsberufen, Göttingen 2018, S. 25. 12 Ebd. 13 Vgl. ebd., S. 24. 14 Vgl. dazu beispielsweise Nu Viet Vu und Howard S. Barrows, „ Use of Standardized Patients in Clinical Assessments: Recent Developments and Measurement Findings “ , in: Educational Researcher, 23/ 3 (1994), S. 23 - 30. 15 Der Autor beruft sich hierbei auf seine eigene Erfahrung als Schauspielpatient und Hilfskraft an der Rudolf-Frey-Lernklinik der Universitätsmedizin Mainz. 16 Nicht zwangsläufig muss immer ein Arzt der Autor eines Szenarios sein. Beispielsweise kann es sich auch um Psychologen oder andere in der medizinischen Ausbildung tätige Mitarbeiter handeln. 17 Vgl. Sibylle Heim et al., „ Schauspielkunst - oder die Fähigkeit, etwas als ‚ echt ‘ erscheinen zu lassen “ , in: Tim Peters und Christian Thrien (Hg.), Simulationspatienten. Handbuch für die Aus- und Weiterbildung in medizinischen und Gesundheitsberufen, Göttingen 2018, S. 103. 18 Jens Roselt, „ In Erscheinung treten. Zur Darstellungspraxis des Sich-Zeigens “ , in: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hg.), Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 60. 19 Vgl. ebd., S. 58. 20 Vgl. ebd. 21 Ebd., S. 62 f. 22 Vgl. Karl Hörning, Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001. 23 Vgl. Rietfort und Strohmer, „ Akquise von SPs - Rekrutierung und Auswahl “ , S. 25. 24 Ebd., S. 24 und S. 25. 25 Was Menschen tatsächlich dazu motiviert, als SP tätig zu werden, ist bisher noch un- 44 Mathias Müller zureichend erforscht und bedarf vor allem empirischer Untersuchungen. 26 Vgl. Hölzer, „ Authentizität spielen lernen. “ , S. 97. 27 Tatsächlich kann es jedoch vorkommen, dass SPs selbst chronisch krank sind und daher ihre Motivation für ihre Tätigkeit nehmen. In diesem Fall würden sie jedoch ebenfalls mit einer Rolle, die nicht ihrem eigenen Krankheitsbild entspricht, betraut werden. Vgl. dazu Hölzer, „ Authentizität spielen lernen. “ , S. 99. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. Henrike Hölzer und Simone Scheffer, „ Die Arzt-Patient-Beziehung in der studentischen Lehre der Charité-Universitätsmedizin “ , in: Hans-Christian Deter (Hg.), Die Arzt-Patienten-Beziehung in der modernen Medizin: Die Kunst der Beziehungsgestaltung in der ärztlichen Heilkunde, Göttingen 2010, S. 139 - 149, hier S. 144. 30 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2004, S. 131. 31 Laura Jayne Nelles, „ My Body, Their Story: Performing Medicine “ , in: Canadian Theatre Review (2011), Vol. 146, S. 55 - 60, hier S. 56 (Hervorhebung im Original). 32 Vgl. Meike Wagner, „ Diskurse des Liebhabers “ , in: Milena Cairo et al. (Hg.), Episteme des Theaters: aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit. Bielefeld 2016, S. 552 - 556, hier S. 552. 33 Hölzer, „ Authentizität spielen lernen. “ , S. 92 f. 34 Karen Lewis et al., „ The Association of Standardized Patient Educators (ASPE) Standards of Best Practice (SOBP) “ , in: Advances in Simulation, 2/ 1 (2017): https: / / advancesinsimulation.biomedcentral.com/ articles/ 10.1186/ s41077 - 017 - 0043 - 4 [Zugriff am 19. 09. 2018]. 35 Kris Slawinski, „ Innovations in standardized patient methodology - Professionalizing SPs “ , in: ASPE Quarterly 2/ 1 (2003), ohne Seitenangabe. 36 Vgl. Cathy M. Smith et al., „ The dramatic arts and simulated patient methodology “ , in: Debra Nestel und Margaret Bearman (Hg.), Simulated Patient Methodology: Theory, Evidence and Practice, Oxford 2015, S. 39 - 45, hier S. 40. 37 Ebd., S. 40 [Hervorhebung im Original] 38 Wolf-Dieter Ernst, Der affektive Schauspieler. Die Energetik des postdramatischen Theaters, Berlin 2012, S. 10. 39 Ebd., S. 16. 40 Vgl. ebd., S. 9. 41 Ebd., S. 11. 42 Vgl. ebd., S. 12. Für den Originaltext von Plessner siehe: Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne, Frankfurt am Main 1980. 43 Vgl. Friedemann Kreuder, „ Schauspieler (actor): Operational-analytic and Historic Aspects of a Concept in the Theory of Dama “ , in: Meike Wagner und Wolf-Dieter Ernst (Hg.), Performing the Matrix. Mediating Cultural Performances, München 2008, S. 223 - 239, hier S. 233 f. 44 Vgl. Reiner Steinweg, Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und die theaterpädagogische Praxis, Frankfurt 1995, S. 17. Steinweg zitiert hier Werner Hecht et. al, (Hg.), Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Frankfurt 1989ff, Bd. 21, S. 396. 45 Vgl. ebd., S. 18. An dieser Stelle ist nicht nachvollziehbar, auf welchen Originaltext sich Steinweg bezieht, da unter der entsprechenden Anmerkung im Verzeichnis der Verweis fehlt. 46 Vgl. ebd., S. 17. Steinweg bezieht sich hier auf mehrere Textstellen: Elisabeth Hauptmann und Werner Hecht (Hg.), Bertolt Brecht. Gesammelte Werke, Frankfurt 1967, Band 17, S. 1022 und S. 1024 f; Werner Hecht et al. (Hg.), Bertolt Brecht. Werke. Frankfurt 1989 ff., Bd. 21, S. 398 sowie Bd. 22, S. 500. 47 Steinweg, Lehrstück und episches Theater, S. 19. 48 Nelles, „ My Body, Their Story: Performing Medicine “ , S. 57. Hervorhebungen im Original. 49 Ebd., S. 56. 50 Hölzer und Scheffer, „ Die Arzt-Patient-Beziehung in der studentischen Lehre der Charité Universitätsmedizin “ , S. 146. 51 Federführend bei dieser Untersuchung ist Maria Asisa Butollo, Koordinatorin des 45 Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung. Ein theaterwissenschaftlicher Zugang SchauspielpatientInnen-Programms im Teaching Center der Medizinischen Universität Wien. 52 Vgl. dazu u. a. Paul M. Wallach et al., „ Standardized patients ‘ perceptions about their own health care “ , in: Teaching and Learning in Medicine 13/ 4, (2001), S. 227 - 231, sowie Kevin Fiscella et. al., „ Ratings of physician communication by real and standardized patients “ , in: The Annals of Family Medicine 5/ 2 (2007), S. 151 - 158. 53 The Lancet, „ Patient empowerment - who empowers whom? “ , in: The Lancet, Vol. 379, 05. 05. 2012, S. 1677. 54 Anne Simmenroth-Nayda et al., „ Working as simulated patient has effects on real patient life - Preliminary insights from a qualitative study “ . 55 Vgl. Hölzer und Scheffer, „ Die Arzt-Patient- Beziehung in der studentischen Lehre der Charité Universitätsmedizin “ , S. 139. 56 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 309. 57 Hölzer und Scheffer, „ Die Arzt-Patient-Beziehung in der studentischen Lehre der Charité Universitätsmedizin “ , S. 143 f. 58 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 305. 59 Ebd., S. 307 ff. 60 Vgl. ebd., S. 307 ff. 61 Vgl. Erika Fischer-Lichte, „ Ästhetische Erfahrung “ , in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2014, S. 27. 46 Mathias Müller