eJournals Forum Modernes Theater 30/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2015-0003
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Ausgehend von einem Fallbeispiel widmet sich dieser Beitrag dem Verhältnis von Zirkus und Theater im späten 19. Jahrhundert. Ab etwa 1850 entwickelte sich der Zirkus in Deutschland zu einer erfolgreichen Kulturinstitution, die für das bürgerliche Kunsttheater ab den 1870er Jahren eine bedrohliche Konkurrenz darstellte. Deshalb gingen insbesondere die Bühnenorganisationen Deutscher Bühnenverein und Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger sowie Theaterverfechter*innen nicht nur auf diskursiver, sondern auch auf politischer Ebene gegen die Zirkusse vor. Durch ihre Lobbyarbeit erzielten sie Veränderungen des öffentlichen Theaterrechts, die sich einerseits in einer Vorrangstellung der eigenen Theaterform und andererseits in einer Benachteiligung der zirzensischen Künste materialisierten. Die in den damaligen Theaterdebatten geläufigen Diffamierungen des Zirkus sowie sein juristisch festgeschriebener, minderwertiger Status prägen nicht nur bis heute das gängige Zirkusbild. Sie sind zudem mitverantwortlich für die Abwesenheit des Zirkus in (theater)wissenschaftlichen Debatten wie auch im System der förderungsberechtigten Künste.
2019
301-2 Balme

Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen

2019
Mirjam Hildbrand
Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen. Über die Aufwertung des „ Theaters “ auf Kosten der zirzensischen Künste. Mirjam Hildbrand (Bern) Ausgehend von einem Fallbeispiel widmet sich dieser Beitrag dem Verhältnis von Zirkus und Theater im späten 19. Jahrhundert. Ab etwa 1850 entwickelte sich der Zirkus in Deutschland zu einer erfolgreichen Kulturinstitution, die für das bürgerliche Kunsttheater ab den 1870er Jahren eine bedrohliche Konkurrenz darstellte. Deshalb gingen insbesondere die Bühnenorganisationen Deutscher Bühnenverein und Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger sowie Theaterverfechter*innen nicht nur auf diskursiver, sondern auch auf politischer Ebene gegen die Zirkusse vor. Durch ihre Lobbyarbeit erzielten sie Veränderungen des öffentlichen Theaterrechts, die sich einerseits in einer Vorrangstellung der eigenen Theaterform und andererseits in einer Benachteiligung der zirzensischen Künste materialisierten. Die in den damaligen Theaterdebatten geläufigen Diffamierungen des Zirkus sowie sein juristisch festgeschriebener, minderwertiger Status prägen nicht nur bis heute das gängige Zirkusbild. Sie sind zudem mitverantwortlich für die Abwesenheit des Zirkus in (theater)wissenschaftlichen Debatten wie auch im System der förderungsberechtigten Künste. Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Artistik-Fachzeitschrift Der Artist im Jahr 1908 stellte ihr damaliger Chefredakteur Emil Perlmann in „ Ein Blick in die Vergangenheit, Kleine Auszüge aus 1000 Nummern des ‚ Artist ‘“ eine Reihe von besonders wichtigen Meldungen aus den zurückliegenden Ausgaben des Wochenblatts zusammen. Darunter befindet sich auch folgender Eintrag zu der Ausgabe vom 30. September 1888: Dem in Leipzig weilenden Circus Corty-Althoff wird die Aufführung von Pantomimen und Ausstattungsstücken untersagt. Infolgedessen wird eine Zusammenkunft der Circusdirektoren in Berlin geplant, um wegen geeigneter Massregeln gegen diese Verfügung schlüssig zu werden. 1 Ein in einer Akte der Berliner Theaterpolizei eingeklebter Artikel aus der Berliner Zeitung vom 16. Oktober 1888 bestätigt das genannte Aufführungsverbot: Die Circus-Direktoren reichen, wie bereits mitgetheilt wurde, eine Petition beim Reichstage ein, um in der Aufführung von Ballets und Pantomimen nicht behindert zu sein. Die Erlaubnis dazu war ihnen wiederholt und zuletzt noch in Leipzig verweigert worden. 2 Wie weiterhin aus dem Artikel hervorgeht, durfte Circus Corty-Althoff seine Pantomimen und Ballette in Leipzig schließlich doch aufführen, allerdings nur, da die Zirkusdirektorin Adele Althoff inzwischen ebenfalls eine Erlaubnis als Schauspiel-Unternehmerin besaß. Letztere hatte sie dem Artikel zufolge kurzfristig von der königlichen Regierung in Düsseldorf erhalten, die dem Zirkus über die vergangenen 20 Jahre auch stets den gesetzlich erforderten Wandergewerbeschein ausgestellt hatte. Der Leipziger Stadtrat sei erstaunt gewesen, fährt der Artikel fort, als Frau Althoff die besagte Erlaubnis vorwies und man der Direktorin die Aufführung von Ballet und Pantomimen nicht mehr verweigern konnte. 3 Dieses aus heutiger Perspektive kuriose Fallbeispiel diente mir als wichtiger Anhalts- Forum Modernes Theater, 30/ 1-2 (2015 [2019]), 19 - 33. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2015-0003 punkt für meine theaterhistorische Forschungsarbeit, da es - über seinen anekdotischen Unterhaltungswert hinaus - sowohl Hinweise für das Verhältnis von Zirkus und Theater im ausgehenden 19. Jahrhundert als auch für die Hintergründe des heute noch gängigen Zirkusbildes liefert. Den Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dieser Thematik bildete meine Frage, wie der Zirkus zu seinem Status einer sogenannten niederen Kunst und einer von der Theaterwissenschaft kaum beachteten (vermeintlichen) Nicht-Theaterform kam, während sich das Theater als sogenannte hohe Kunst und staatlich geförderte Kulturinstitution etablieren konnte. Indizien wie das für Circus Corty-Althoff in Leipzig ausgesprochene Aufführungsverbot deuteten darauf hin, dass Antworten in den Theaterentwicklungen des 19. Jahrhunderts zu finden sein könnten. Im vorliegenden Beitrag möchte ich, ausgehend von dem angeführten Fall, einen Einblick in das Verhältnis von Zirkus und Theater und damit einem bislang kaum erforschten Teil der deutschen Theatergeschichte geben. Mein Aufsatz ist in drei Teile gegliedert: Zunächst soll der (theater-) historische Kontext des Falls Corty-Althoff beleuchtet werden, um - unter anderem anhand von weiteren historischen Quelltexten - die spannungsgeladene Beziehung der beiden Theaterformen zu umreißen. Anschließend gehe ich auf die mit dem Aufführungsverbot verbundenen politischen Vorstöße der Interessenvertretung der Theaterschaffenden ein. Abschließen möchte ich mit einem Ausblick auf die daraus resultierenden Konsequenzen, die unser Zirkusbild bis heute prägen. (Theater)historischer Kontext Durch die beginnende Industrialisierung (rasches Bevölkerungswachstum, wirtschaftlicher Aufschwung) und begünstigt durch politische Veränderungen (wie das Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/ 71), entstanden aus Städten wie Berlin und Leipzig im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts urbane Ballungszentren, welche die Entwicklung einer lebendigen Theaterlandschaft ermöglichten. Ein breites, durch neue Verkehrsmittel immer mobileres Publikum fand in den Theaterangeboten Abwechslung, Unterhaltung und Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen, während Investor*innen im Bau bzw. Besitz von Spielstätten lukrative Anlagemöglichkeiten sahen. Als 1869 in den Ländern des Norddeutschen Bundes die Gewerbegesetze liberalisiert wurden (da die Theater zu diesem Zeitpunkt Gewerbestatus besaßen, unterstanden sie wie andere Unternehmen der Gewerbeordnung), kam es - insbesondere im 1871 zur Reichshauptstadt ernannten Berlin - zu einer Vervielfachung der Spielstätten. Diese buhlten mit unterschiedlichen, teils neuartigen Formaten um die Gunst des Publikums. 4 „ Zahlen verdeutlichen den ungeheuren Aufschwung. [. . .] Von 1870 - 1885 werden 104 Neubauten [. . .] errichtet, von 1850 - 1870 waren es nur 46 “ ist in diesem Zusammenhang beispielsweise bei Bucher et al. zu lesen. 5 Gab es 1859 in Berlin lediglich sieben Theaterhäuser, so zählte die Stadt neben den zwei bzw. ab 1896 drei königlichen Bühnen 1885 bereits über 20 und um 1900 sogar mehr als 30 kommerzielle Theaterveranstaltungsorte - die zahlreichen kleinen Bühnen in den sogenannten Schankwirtschaften und Sommergärten nicht mitgerechnet. Die größten Platzkapazitäten besaßen die Spielstätten für Theaterformen wie Zirkus, Operette, Posse und Schwank sowie die sogenannten Spezialitätenbühnen (Vorläufer des Varietés). 6 Die Zirkusse verfügten zur damaligen Zeit mit Räumen, die meist zwischen 3000 und 4500 Zuschauer*innen und damit dreibis viermal so viele Menschen wie die Häuser des Bildungs- und Literaturtheaters fassen konnten, jedoch nicht nur über enor- 20 Mirjam Hildbrand me Platzkapazitäten. 7 Mit ihren Gebäuden in den Stadtzentren erlangten sie außerdem einen wortwörtlich festen Platz inmitten der deutschen Theaterlandschaft. 8 Traten die gastierenden Zirkusse zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch in einfachen, aber permanenten Holzbauten auf, dienten bereits ab den 1850er Jahren vielerorts feste Steinbauten als Spielstätten. 9 Um die Jahrhundertwende herum besaßen große Zirkusgesellschaften wie Renz, Busch und Schumann jeweils mehrere prestigeträchtige, den Theaterbauten der Zeit ähnliche Gebäude in verschiedenen deutschsprachigen Städten, die sie alternierend und mit wechselndem Angebot bespielten. 10 Aber nicht nur auf der architektonischen Ebene näherte sich die verhältnismäßig jüngere Institution Zirkus dem bürgerlichen Theater an, sondern auch ästhetisch: Narrative Inszenierungen (darunter viele Adaptionen von Dramen und Opern) bildeten den Zirkuskanon der Zeit und gehörten bereits seit der Entstehung des modernen Zirkus im ausgehenden 18. Jahrhundert zu dessen Aufführungspraxis. Die Zirkusinszenierungen des 19. Jahrhunderts entsprechen also in weiten Teilen nicht der heute geläufigen Vorstellung von traditionellem Zirkus, das heißt jener eines Aufführungsformats, bei dem in sich geschlossene Akrobatik-, Clownerie- und Tierdressurnummern durch die Moderation von Conférenciers und die Begleitung eines Zirkusorchesters verbunden werden. Parallel zur Aufwertung und Institutionalisierung des bürgerlichen Kunsttheaters etablierte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Zirkus, eine „ verbürgerlichte Form der Jahrmarktskünste “ , 11 als beliebte Theaterform im Gefüge der Bühnenkünste im deutschsprachigen Raum. Laut einem Artikel im Berliner Tageblatt vom 22. Oktober 1887 waren beispielsweise die Vorstellungen von Circus Renz in Breslau „ Tag für Tag ausverkauft. [. . .] Aus der Umgegend Breslaus treffen sogar wöchentlich mehrmals Extrazüge ein, welche eigens für die Cirkusbesucher arrangirt worden. “ 12 Mit ihren vielseitigen Inszenierungen begeisterten die Zirkusse nicht nur ein großes, sondern auch ein sozial durchmischtes Publikum: „ Bei Renz traf sich ganz Berlin, die Gardeoffiziere saßen in den Logen, die ‚ kleinen Leute ‘ oben auf den Galeriebänken. Zu Nachmittagsvorstellungen konnte jeder Erwachsene ein Kind kostenlos mitbringen. “ 13 Neben Militärs, ‚ kleinen Leuten ‘ und Eltern mit ihren Kindern nahm aber auch die Oberschicht an den Vorstellungen teil: „ Sich bei Renz zu treffen gehörte geradezu zum guten Ton, und für diejenigen Kreise, die in den Hoftheatern eine ständige Loge besaßen, war es verpflichtend, auch bei Renz eine Loge zu haben. “ 14 Auch die heute gängige Vorstellung, Zirkus richte sich hauptsächlich an eine soziale Unterschicht, trifft auf das 19. Jahrhundert demnach nicht zu. 15 Während die Zirkusse große Publikumserfolge verzeichneten, schienen die Bildungs- und Literaturtheaterbetriebe eher Mühe zu haben, das Interesse der Zuschauer*innen zu wecken bzw. aufrechtzuerhalten. In einem Pamphlet des Schauspielers und Theaterkritikers Maximilian Harden von 1888 ist diesbezüglich zu lesen, das Theater benötige nicht nur „ Geld vom Staat “ , sondern auch „ Interesse vom Publikum “ . 16 Gleich zu Beginn seines Textes fragt der Autor: „ Wer geht denn heute noch in ’ s Theater? ! [. . .] Die Frage erscheint paradox, aber sie ist durchaus berechtigt. Es ist ja nicht zu verkennen, daß besonders in der Reichshauptstadt ein großes Theaterpublikum vorhanden ist. “ 17 Der Berliner Zeitungsverleger August Scherl meinte 1898 sogar: „ Berlin hat kein Theater-Publikum. “ 18 Denn unter letzterem, so der Autor weiter, möchte ich eine für die dramatische Kunst warm und lebhaft sich interessierende Einwohnerschaft verstanden wissen [. . .]. 21 Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen Betrachtet man die Berliner Theater auf ihre Frequenz hin, so wird man alsbald die Wahrnehmung machen, daß durchschnittlich die Hälfte aller vorhandenen Plätze leer bleibt. 19 Blieb das Publikum aus, drohten (außer den wenigen subventionierten königlichen Bühnen) Konkurse und Theaterschließungen. So erstaunt es wenig, dass Verfechter*innen des bürgerlichen Literaturtheaters nicht ohne Argwohn und Neid auf die Zirkusse blickten, denn der Konkurrenzdruck - nicht ausschließlich, aber auch durch die Zirkusse verursacht - war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sehr groß. Birgit Peter, eine der wenigen Theaterwissenschaftler*innen, die historisch zum Thema Zirkus arbeitet, schreibt in diesem Zusammenhang: „ Zu Ende des 19. Jahrhunderts stehen Zirkus und Theater in scharfer Konkurrenz zueinander “ , weswegen „ vor allem in Theaterdebatten [. . .] der Zirkus als Zeichen von Verfall und Dekadenz [dient]. “ 20 Zahlreiche im Rahmen dieser Theaterdebatten verfasste Schriften geben Aufschluss darüber, inwiefern die konkurrierende Theaterform Zirkus „ als Zeichen von Verfall und Dekadenz “ bewertet wurde. So ist beispielsweise in der 1892 herausgegebenen Schrift Der Verfall der deutschen Bühne. Ein Mahnwort an alle, die es angeht zu lesen: Es giebt eine Menge von Schaustellungen, auch solche in dramatischem Gewande, an welche niemand einen künstlerischen Maßstab legen wird, [. . .] die mit anderen Vergnügungen des modernen Kulturmenschen, mit Gastmählern und Bällen, Wettrennen, Circus und Taschenspielerstücken auf einer Stufe stehen, ja oft genug noch erheblich niedriger. Sie brauchen die Bühne als räumliches Mittel der Darstellung, im übrigen haben sie mit den Brettern, die die Welt bedeuten, [. . .] nichts gemein. 21 Der Zirkus galt jedoch nicht nur als minderwertig und kunstfern, er ‚ erniedrigte ‘ zudem das dramatische Theater. Dies wird etwa in einem Text des Schauspielers und Autors Erich Schlaikjer aus dem Jahr 1912 deutlich: Das bewusste Herausrechnen einer Sensation steht mit den Spekulationen der Schmutzliteratur auf einer Stufe [. . .]. Das Theater wird zum Zirkus erniedrigt, indem man mit Spannung den Todessprung des Desperado erwartet. Der Schauspieler tritt mit den Artisten in eine Reihe und der Dichter scheidet überhaupt aus. 22 Eine gern genutzte Schuldzuweisung seitens der Theaterverfechter*innen. Auch der Regisseur und Theaterkritiker Paul Linsemann nutzt diese Argumentation bezüglich der artistischen Aufführungspraxen der Spezialitätenbühnen in einer Streitschrift von 1897: An dem Verfall der Theaterkünste in Berlin und an dem damit Hand in Hand gehenden Niedergange des Geschmackes haben die Späße der Spezialitäten ihren hervorragenden Antheil. Sie unterminiren den Geschmack, und sie fangen an, das Theater zu erorbern [. . .]. [. . .] Das Uebermaß der Spezialitätenbühnen [. . .] und der widerlich ordinäre Theil ihres Programmes - das ist es, was einen so schädlichen Einfluß ausübt. [. . .] Die Invasion der apokryphen Künste des Tingeltangels und Gassenhauers hat mit dem guten Geschmack fast völlig aufgeräumt; [. . .]. 23 Die als kunstlos und „ niedrig “ diffamierten zirzensischen Künste schadeten also, diesen Argumentationen zufolge, nicht nur dem „ eigentlichen “ Theater, sondern auch dem Geschmack des Publikums. Der beschriebene Diskreditierungsdiskurs stand einerseits im Zusammenhang mit der ökonomischen, aber, wie gesehen, zugleich ästhetischen Bedrohung des Theaters durch den Zirkus. Andererseits ist er auch mit den - im Zuge der Nationalthea- 22 Mirjam Hildbrand terbewegung sowie des Ästhetikdiskurses des 18. Jahrhunderts einsetzenden und über das 19. Jahrhundert fortdauernden - Bestrebungen verbunden, das Theater als sogenannte schöne und förderungswürdige Kunst zu legitimieren. 24 So wurde die beschriebene Argumentation sowohl zur Einschränkung der Zirkuskonkurrenz wie auch, zum Teil implizit, zur Unterfütterung der eigenen Vorrangstellung im Kampf um Anerkennung und staatliche Subventionen angeführt. 25 Das Schauspiel konnte im Laufe dieser Aufwertungsprozesse den Ruf des Handwerklichen, des rein Körperlichen bzw. Sinnlichen ablegen sowie allmählich von der Vorstellung befreit werden, es sei Prostitution oder eine schädliche Gaukelkunst. 26 Diese Vorurteile blieben jedoch mit der Theaterform Zirkus assoziiert - verstärkt durch die beschriebenen Diskurse. 27 So entwickelte sich innerhalb der darstellenden Künste eine Hierarchie, die bis heute - wie etwa die Vorstellung von Zirkus als ‚ niederer ‘ Kunst eindrücklich bezeugt - fest in Sprache und Denken verankert ist. 28 Aus den Forschungsergebnissen Birgit Peters ergibt sich, dass der Zirkus als Sammlungsort der vom regelmäßigen Theaterbetrieb ausgeschlossenen Fertigkeiten [. . .] in diesem Konkurrenzkampf um eine Kultur- und Kunstdefinition, nicht wegen mangelnden Erfolgs und Publikumszuspruchs [verlor], sondern aufgrund tradierter Vorurteile gegen seine Praxis und Ästhetik, die als Anderes des Theaters diesem seine spezifischen, identitätsstiftenden Fertigkeiten zu formulieren half. 29 Doch hat dieser Verlust, um auf das einleitend beschriebene Spielverbot des Circus Corty-Althoff in Leipzig zurückzukommen, nicht ausschließlich mit „ tradierte[n] Vorurteile[n] “ und diskursiven Diskreditierungen zu tun, sondern auch mit jahrzehntelanger politischer Überzeugungsarbeit, insbesondere seitens der Bühnenorganisationen Deutscher Bühnenverein (DBV) und Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA). 30 Politische Klagen Am 4. August 1888, also kurz vor dem Vorfall mit Circus Corty-Althoff im September desselben Jahres, hatte die Leipziger Kreishauptmannschaft eine achtseitige „ General-Verordnung an sämmtliche Amtshauptmannschaften und Stadträthe der Städte “ in Bezug auf die Bewilligung von Zirkusvorführungen erlassen. Anlass zur besagten Weisung der Kreishautpmannschaft an die ihr untergeordneten Behörden hatte, so ist in der Verordnung zu lesen, ein Schreiben des DBV gegeben: Gegenwärtig wird nun in einem [. . .] Schreiben des Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins [. . .] darüber geklagt, dass durch die in neuerer Zeit üblich gewordene Aufnahme von Balletvorstellungen und größeren Ausstattungsstücken in die Programme der Cirkusvorstellungen den Theatern größerer Städte eine nicht zu unterschätzende Konkurrenz insofern erwachse, als nicht nur das Publikum bei seiner Geneigtheit für derartige Schaustellungen dem Besuche der besseren Theater entfremdet, sondern auch das tüchtigste und brauchbarste Balletpersonal den letzteren entzogen werde. Mit diesen auf langjährigen Erfahrungen von hervorragenden Stadttheatern gestützten Klagen wird unter Hinweis auf die mit solchen minderwerthigen theatralischen Schaustellungen verknüpfte Gefährdung der dramatischen Kunst und der Geschmacksrichtung des Publikums die Bitte verbunden, soweit möglich auf administrativem Wege der Darbietung solcher Schaustellungen mit den Kunstreitermarstallungen entgegenzutreten, insonderheit aber auf eine grundsätzliche Versagung der zu derartigen theatralischen Vorstellungen erforderlichen behördlichen 23 Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen Konzession und thunlichste Einschränkung bereits ertheilter Konzessionen [. . .] hinzuwirken. 31 Den Zirkusgesellschaften die Aufführung von Balletten und Pantomimen komplett zu untersagen, so erläuterte die Kreishauptmannschaft im weiteren Verlauf der Verordnung, sei nach der geltenden Gewerbeordnung nicht möglich. Doch habe das höher gestellte sächsische Innenministerium die Anweisung gegeben, Zirkusse zukünftig weitestgehend auf das Gebiet der „ Kunstreiterei und Gymnastik “ zu beschränken: [D]as Königliche Ministerium des Innern [hält] dafür, daß gegenüber den in neuerer Zeit nach und nach hervorgetretenen, auch hierorts wahrzunehmen gewesenen Bestrebungen der Cirkusunternehmer, durch Darbietung von der Kunstreiterei und Gymnastik in der Hauptsache fern stehenden theatralischen und sonstigen Darstellungen für den weniger gebildeten Theil des Publikums eine besondere Anziehungskraft zu schaffen, es am Platze sei, einer Ueberhandnahme derartiger, die Geschmacksrichtung der Zuschauer unvortheilhaft beeinflussenden und die wahre Kunst schädigenden Produktionen auf geeignete Weise entgegenzutreten; [. . .]. 32 In der Verordnung wird ebenfalls deutlich, dass sich das sächsische Innenministerium auf ein „ von dem Reichsamte des Innern zur Erwägung empfohlenen Schreiben des Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins “ beruft. 33 Offenbar legte also der Reichsinnenminister den Innenministerien der Länder nahe, die Klagen des DBV gegenüber der Zirkuskonkurrenz ernst zu nehmen. So überrascht es wenig, dass sich auch in den Akten des Berliner Landesarchivs ein vom preußischen Innenminister Ernst Ludwig Herrfurth unterzeichnetes Schreiben vom 21. Juli 1888 findet, das sich auf den Vorstoß des DBV bezieht. Darin schreibt Herrfurth, dass die Zirkusgesellschaften dem Direktorenverband zufolge „ in der neueren Zeit fast regelmäßig Ballets und größere Ausstattungsstücke, in welchen sogar gesprochen und gesungen werde, veranstalteten und in dieser Weise den Theatern eine schwer zu bestehende Konkurrenz machten. “ 34 Der DBV versuchte also offensichtlich, die Behörden davon zu überzeugen, die „ theatralischen Vorstellungen “ der Zirkusse zu unterbinden und letztere auf diese Weise dazu zu zwingen, sich ausschließlich auf die vermeintlich eigentlichen Zirkusformate „ Kunstreiterei und Gymnastik “ zu beschränken. 35 Weiterhin gibt die Generalverordnung der Leipziger Kreishauptmannschaft Aufschluss darüber, welche Maßnahmen die Behörde vorsah, um die restriktive sächsische Politik gegen die Zirkusse umzusetzen. Die Ortspolizeiabteilungen sollten bei Bewilligungsanfragen für Vorstellungen von Zirkusunternehmer*innen ihren Ermessensspielraum nutzen, um Spielgenehmigungen im Falle der Verbindung von Reitkunst mit Schauspiel, Tanz und Gesang oder aber aus Rücksichtnahme auf ortsansässige Spielstätten zu untersagen. Die Kreishauptmannschaft selbst plante, um Genehmigungen versagen zu können, bei ihr eingehende Konzessionsgesuche kritischer als bisher zu prüfen und genau zu klären, ob der Bedarf an Konzessionen für Zirkusunternehmen im entsprechenden Regierungsbezirk nicht bereits gedeckt sei. In diesen Maßnahmen spiegeln sich auch die ab 1880 zunehmenden Restriktionen im Theaterrecht wider. Nach Einführung der liberalisierten Gewerbeordnung im Norddeutschen Bund im Jahr 1869 (ab 1871 im gesamten Deutschen Kaiserreich gültig) beteiligte sich unter anderem die Theaterlobby maßgeblich daran, die Theatergesetze wieder einzuschränken. Die sonst opponierenden Interessenvertretungen DBV und GDBA stimmten in dieser Angelegenheit überein. Zur Bekämpfung der Zirkuskon- 24 Mirjam Hildbrand kurrenz sollte ihrer Meinung nach entweder ein neues Theatergesetz geschaffen oder zumindest Paragraf 32, der Theaterparagraf der Gesetzgebung von 1869, stark modifiziert werden. 36 An dieser Stelle sei erwähnt, dass die neue Gewerbeordnung von Beginn an zwischen festen und reisenden Theaterbetrieben unterschied: Der Gesetzgeber ging davon aus, dass bei „ umherziehenden “ Theaterunternehmen „ ein höheres wissenschaftliches oder Kunst-Interesse nicht obwaltet “ . 37 Es sei denn, letztere konnten die Behörden in sogenannten Probeaufführungen vom Gegenteil überzeugen. 38 Im Verhältnis zu den festen Theatern unterlagen die Wanderbühnen daher restriktiveren, durch Paragraf 55 der Gewerbeordnung festgelegten Bedingungen. 39 Während der 1870er Jahre blieben die Bestrebungen der Theaterlobby, eine Veränderung der liberalisierten Theatergesetze zu erwirken, zunächst erfolglos. 40 Insbesondere die GDBA hielt jedoch an dem Anliegen fest und verfasste 1880 gemeinsam mit der Genossenschaft dramatischer Autoren und Komponisten (1871 - 1899) eine Petition, die das Ziel einer Einschränkung von Paragraf 32 der Gewerbeordnung verfolgte. Das Ansuchen wurde im Reichstag diskutiert und letztlich, insbesondere durch die Unterstützung der konservativen Parteien, gutgeheißen. 41 Das konkrete Ergebnis der Petition bestand darin, dass zum einen die bahnbrechende Formulierung von 1869, „ Beschränkungen auf bestimmte Kategorien theatralischer Darstellungen sind unzulässig “ , aus Paragraf 32 gestrichen wurde. 42 Im 1884 herausgegebenen Gesetzeskommentar von Robert Landmann ist diesbezüglich nachzulesen, dass eine Konzession fortan wieder auf bestimmte Kategorien von theatralischen Vorstellungen beschränkt oder aber unter Ausschluß bestimmter Kategorien ertheilt werden [kann]. Es ergibt sich dies unzweifelhaft aus der gelegentlich der Novelle von 1880 erfolgten Streichung des Abs. 2 des früheren § 32 [. . .]. Ueberschreitung der Erlaubniß ist alsdann nach § 147 Ziff. 1 strafbar. 43 Zum anderen wurde die Nachweispflicht über die „ Zuverlässigkeit, insbesondere in sittlicher, artistischer und finanzieller Hinsicht “ für Aspirant*innen einer Theaterkonzession wieder eingeführt, 44 um den Zugang zu Bewilligungen zu erschweren. Die Einschränkung von Paragraf 32 brachte jedoch nicht die gewünschten Erfolge. Daher wurden im Rahmen der allgemeinen Überarbeitung der Reichsgewerbeordnung in den frühen 1880er Jahren alle für das Theaterwesen relevanten Paragrafen verschärft. Das geänderte Gesetzeswerk trat am 1. Januar 1884 in Kraft. Paragraf 32 selbst blieb zwar unverändert, allerdings erhielt der Folgeabsatz, der sich ursprünglich nur auf Gast- und Schankwirtschaften bezog, einen für Theaterunternehmen bedeutenden Zusatz: den Paragrafen 33 a. Mit dieser Ergänzung wurde innerhalb der Kategorie der stehenden Theater eine klare Hierarchie zwischen verschiedenen Theaterformen in die Gesetzgebung eingeführt bzw. die für umherziehende Theater bereits existierende rechtliche Benachteiligung auf bestimmte Theaterformen der festen Häuser ausgeweitet. Der Paragraf 33 a regelte nämlich fortan das Veranstalten von „ Singspielen, Gesangs- und deklamatorischen Vorträgen, Schaustellungen von Personen oder theatralischen Vorstellungen ohne höheres Kunstinteresse “ . 45 Letztere, also zum Beispiel Zirkuspantomimen oder -ballette, erhielten jedoch einen Zwischenstatus: Zu ihrer Aufführung war zusätzlich zu einer Genehmigung nach Paragraf 33 a auch eine Konzession nach Paragraf 32 notwendig. Nur für jene Veranstalter*innen war eine Bewilligung nach Paragraf 33 a ausreichend, die ausschließlich „ Singspiele, Gesangs- und deklamatorische 25 Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen Vorträge “ und „ Schaustellungen von Personen “ anboten, „ ohne daß ein höheres Interesse der Kunst oder Wissenschaft dabei obwaltet “ . 46 Wurden Aufführungen nach Paragraf 33 a im öffentlichen Raum gegeben, war überdies eine Erlaubnis der örtlichen Polizeibehörde erforderlich (vorgesehen durch Paragraf 33 b). 47 Der Kommentar von Landmann ergänzte die Aufzählung der Theaterformen in Paragraf 33 a durch solche von „ höherem Kunstinteresse “ , die durch Paragraf 32 geregelt blieben - namentlich Tragödien, Dramen, Lustspiele, Opern, Operetten, Ballette sowie Pantomimen. 48 Pantomimen lagen demzufolge nach Meinung des Gesetzgebers klar im Bereich des Theaters mit „ höherem Kunstwert “ . Was jedoch einen solchen genau ausmachte, wurde weder in den Gesetzen noch im Kommentar definiert. 49 Die Gesetzesnovellierung von 1883 hatte für Zirkusse bedeutende Konsequenzen. So benötigten die festen Zirkusbetriebe ab 1884 neu eine Genehmigung nach Paragraf 33 a, denn Landmann zufolge „ [wird] [a]uch die Veranstaltung akrobatischer Vorstellungen zur ‚ Schaustellung von Personen ‘ zu rechnen sein [. . .]. Ein stabiler Cirkus wird daher in der Regel einer Konzession nach § 33 a bedürfen [. . .] “ . 50 Und da die festen Zirkushäuser in der Regel Pantomimen oder Tanzstücke aufführten, war für sie, wie beschrieben, eine Bewilligung nach Paragraf 33 a nicht ausreichend - sie bedurften zusätzlich einer Schauspielkonzession nach Paragraf 32. Ein Schreiben der Berliner Polizei von 1899 bestätigt eine derartige Auslegung der revidierten Gesetzgebung: Circusunternehmer wie Renz, Busch, Schumann werden [. . .] als konzessionspflichtig im Sinne des § 33 a R. G. O. angesehen. Soweit von denselben Pantomimen vorgeführt werden wird gleichzeitig der Besitz einer zur Aufführung von Pantomimen berechtigender Konzession aus § 32 R. G.O verlangt. 51 Auch für die reisenden Zirkusse ergaben sich aus der Überarbeitung der Gesetze einige Änderungen. 52 Während bislang ein Wandergewerbeschein nach Paragraf 55 genügte, benötigten sie fortan, wie anhand des Beispiels von Circus Corty-Althoff deutlich wird, zur Aufführung von Zirkuspantomimen ebenfalls zusätzlich eine Konzession nach Paragraf 32: So konnte Circus Corty- Althoff, wie eingangs beschrieben, nur dank der kurzfristig von der Düsseldorfer Behörde ausgestellten, zusätzlichen Schauspielgenehmigung seine Inszenierungen in Leipzig im Herbst 1888 zur Aufführung bringen. Nach der umfänglichen Revision der Reichsgewerbeordnung von 1883/ 84 wurden die Theatergesetze (bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933) zwar nicht mehr bzw. nur noch leicht verändert. Allerdings wurde der Gesetzesvollzug der für Theaterformen „ ohne höheres Kunstinteresse “ relevanten Paragrafen (33 a und 55 RGO) zunehmend strenger gehandhabt. Auch darauf nahm die Theaterlobby Einfluss, wie die auf einen Vorstoß des DBV basierende Generalverordnung der Leipziger Kreishauptmannschaft vom August 1888 zeigt. Die GDBA ergriff ebenfalls Maßnahmen, um eine „ dem höheren Kunstbetriebe günstige Verschärfung des Vollzuges herbeizuführen [. . .] “ , wie in einem 1891 publizierten Bericht zu lesen ist. 53 Als Ergebnis dieser Vorstöße kann auch eine 1893 von Botho zu Eulenburg (der Nachfolger von Ernst Ludwig Herrfurth) für Preußen erlassene Vorschrift betrachtet werden, der zufolge für die Vergabe von Konzessionen nach Paragraf 32 die GDBA sowie der DBV zu konsultieren seien - der Bühnenverein „ in Fragen der künstlerischen und technischen Eignung “ , die Genossenschaft „ für die Beurteilung der finanziellen Bonität des Kandidaten “ . 54 Insgesamt verschaffte der Gesetzgeber mit der Einschränkung der Theatergesetze 26 Mirjam Hildbrand den zuständigen Behörden wieder mehr Spielraum. Wie beschrieben, wurde bei der Vergabe einer Konzession nach Paragraf 32 ab 1880 die Zuverlässigkeit in artistischer, finanzieller und sittlicher Hinsicht der Gesuchsteller*innen geprüft. Die Ablehnung eines Antrags musste zwar auf Tatsachen gründen, doch war gesetzlich nicht definiert, was diese drei Zuverlässigkeiten genau bedeuteten. 55 Auch im Fall der Bewilligungen nach Paragraf 33 a wurden die Antragsteller*innen auf ihre „ guten Sitten “ hin geprüft, 56 wobei ebenfalls nicht genauer ausgeführt wurde, was mit „ guten Sitten “ gemeint war. 57 Es liegt also sehr nahe, dass sich bei Bedarf irgendeine ‚ Tatsache ‘ zur Verweigerung einer Bewilligung für unerwünschte Theaterformate oder Aufführungen finden ließ. Für Paragraf 33 a wurde als zusätzlicher Versagensgrund einer Konzession die sogenannte Bedürfnisfrage eingeführt, die bereits seit 1869 für die reisenden Theaterunternehmen (Paragraf 55) galt. 58 Die Bedürfnisprüfung ermöglichte es den Behörden, die Zahl der Theaterunternehmen „ ohne höheres Kunstinteresse “ zu beschränken. Bei beiden Paragrafen (33 a und 55) bestand kein Berechnungsschlüssel, der besagte, wie viele Spielerlaubnisse pro Verwaltungsbzw. Gemeindebezirk zulässig waren. Es ist daher davon auszugehen, dass die entsprechenden Behörden nach eigenem Dafürhalten entscheiden konnten. So ist etwa in Ausführungsbestimmungen für Preußen von 1923 in Bezug auf Paragraf 33 a zu lesen, dass „ [d]ie Bedürfnisfrage nach freiem Ermessen “ zu prüfen und „ strenger zu würdigen “ wäre. 59 Die Generalverordnung der Leipziger Kreishauptmannschaft von 1888 weist auch explizit auf die Nutzung dieser Ermessenspielräume im Vorgehen gegen die Zirkusse hin. Entsprechend der bereits etablierten Praxis der Dresdner Polizeidirektion sollten auch die Ortspolizeibehörden, da das [. . .] ihnen eingeräumte freie Ermessen keinen gesetzlich bestimmten Beschränkungen unterliegt, [. . .] in der Lage sein, die Genehmigung zur Verbindung von theatralischen Schaustellungen mit den eigentlichen Kunstreiter-Vorstellungen unter Umständen ganz, beziehentlich auf Zeit zu versagen oder nur mit gewissen Einschränkungen nachzulassen. 60 Die sächsischen Polizeibehörden sollten also mithilfe der Bedürfnisprüfung Auftritte von gastierenden Zirkussen verhindern oder zumindest einschränken. Unter „ Anlegung eines strengeren Maßstabes an die Bedürfnißfrage “ wollte fortan auch die Leipziger Kreishauptmannschaft die „ Ausstellung oder Ausdehnung von Wandergewerbescheinen “ nach Paragraf 55 vornehmen. Außerdem trug sie sich selbst auf, den Zulassungen nach Paragraf 32 eine „ besonders vorsichtige Prüfung der Zuverlässigkeit des Gesuchstellers, vornehmlich in artistischer und sittlicher Hinsicht vorausgehen zu lassen “ . 61 Die Leipziger Generalverordnung und das oben angeführte Schreiben des preußischen Innenministers sind nur zwei von vielen Beispielen, die den Versuchen der Bühnenorganisationen Ausdruck verleihen, die konkurrierenden Zirkusaufführungen entweder komplett zu unterbinden oder sie zumindest auf vermeintliche „ Nicht- Theater-Formate “ zu beschränken. Auswirkungen auf das Zirkusbild der Gegenwart Die jahrzehntelange Lobbyarbeit des DBV, der GDBA und weiterer Theaterorganisationen trug nicht nur zur Einschränkung der Zirkuskonkurrenz, sondern auch maßgeblich zur Verstaatlichung oder Kommunalisierung der Hoftheater sowie zur Übernahme der Pachttheater durch die Städte zu Beginn der Weimarer Republik bei. 62 Damit konnten jene Spielstätten, deren Werke ein 27 Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen „ höheres Kunstinteresse “ zugesprochen wurde, endlich die verhasste Stellung als „ Geschäftstheater “ ablegen. 63 Denn mit der finanziellen Förderung durch die öffentliche Hand änderte sich der Status des staatlichen bzw. städtischen Theaters: Es war von nun an eine der Kunst und der öffentlichen Bildung verpflichtete Institution, die nicht mehr der Gewerbeordnung unterstand. Diese betraf fortan und betrifft bis heute nur privat geführte Theaterunternehmen, zu denen auch die Zirkusse zählen. Während Paragraf 32 durch das Theatergesetz von 1934 endgültig abgeschafft wurde, blieben die Paragrafen 33 a und 55 bis zu einer Überarbeitung der Gewerbeordnung im Jahr 1984 für stehende und reisende gewerbliche Theater gültig. 64 Bei dieser Revision wurde in beiden Paragrafen auch die Formulierung „ ohne daß ein höheres Interesse der Kunst oder der Wissenschaft dabei obwaltet “ gestrichen. 65 Insgesamt ging es dem Gesetzgeber bei dieser Änderung - darüber gibt der Kommentar Auskunft - jedoch nicht um die problematische Hierarchie der darstellenden Künste, sondern um eine Anpassung an zeitgemäße „ Anschauungen über Sitte und Moral “ , 66 sowie darum, „ überzogene Genehmigungserfordernisse [. . .] abzubauen “ bzw. das Reisegewerberecht zu „ liberalisieren “ und zu „ entbürokratisieren “ . 67 Politische Vorstöße von Spielstätten und Interessenverbänden gegen die Zirkuskonkurrenz sind im Übrigen keinesfalls ein spezifisch deutsches Phänomen. So beschwerte sich beispielsweise das junge Basler Stadttheater zwischen 1860 und 1900 regelmäßig bei den lokalen Behörden über die gastierenden Zirkusse, die es „ als ‚ unbillige ‘ oder ‚ gefährliche ‘ Konkurrenz, gar als ‚ böse[n] Feind ‘“ ansah. 68 Und auch in England wurden Zirkusse von Theaterdirektionen bis ins späte 19. Jahrhundert auf Grundlage der Theatergesetze vor Gericht gebracht - etwa wenn sie Pantomimen mit Requisiten oder Dialogen darboten. 69 In Frankreich wiederum kam es im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts beispielsweise seitens der Pariser Oper zu politischen Vorstößen gegen den erfolgreichen Cirque Olympique. 70 Während meiner Auseinandersetzung mit aktuellen und historischen Zirkusformen über die vergangenen Jahre stellte ich immer wieder die Abwesenheit dieses Themas im deutschsprachigen (theater)wissenschaftlichen Diskurs fest - obwohl der Zirkus, ganz nüchtern betrachtet, ebenso eine darstellende Kunst ist wie das, was man üblicherweise unter ‚ Theater ‘ versteht. Doch ist er im deutschsprachigen Raum häufig bzw. nach wie vor mit zahlreichen Vorurteilen behaftet. Die wenigen Theaterwissenschaftler*innen, die sich dennoch mit dem Thema ‚ Zirkus ‘ beschäftigen, sind sich darin einig, dass die einschlägige Forschungslage im deutschsprachigen Raum desolat ist. Stefan Koslowski schreibt von einem „ blinde[n] Fleck im Auge der Forschenden “ , Nic Leonhardt von einem „ ausgegrenzten Teil der deutschen Theatergeschichte “ . 71 Und Birgit Peter betont, dass die fehlende Beschäftigung mit dem Zirkus „ seitens deutschsprachiger Wissenschaftsdisziplinen “ dessen Status als „ Randphänomen zwischen Theater und Sport, Kitsch und Kommerz “ zusätzlich befördert hat. 72 Die in meinem Beitrag beschriebenen Diskreditierungsdiskurse wie auch die von der Theaterlobby erzielten Resultate, insbesondere die Festschreibung einer Theaterhierarchie im öffentlichen Recht, mündeten also letztlich nicht nur in einer Exklusion des Zirkus aus dem System der (förderungswürdigen) Künste, sondern auch aus dem theaterwissenschaftlichen Diskurs. Bis heute werden die ästhetischen und technischen Innovationen der Zirkusse während der Zeit der sogenannten langen Jahrhundertwende, ihr Einfluss auf andere Theaterformen und ihre Verbindungen zum bürger- 28 Mirjam Hildbrand lichen Kunsttheater unterschätzt. Das in diesem Beitrag beschriebene Spielverbot des Circus Corty Althoff in Leipzig sowie die mit dem Verbot zusammenhängenden Verkettungen von Lobbyarbeit und Verschärfungen des gesetzlichen Vollzugs illustrieren deutlich die enge, wenngleich äußerst ambivalente Beziehung der beiden konkurrierenden Theaterformen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die beschriebene Hierarchisierung der beiden Theaterformen spiegelt sich heute nicht nur deutlich in oberflächlichen bzw. fehlenden wissenschaftlichen Betrachtungen wider, sondern auch in der kulturpolitischen Praxis im deutschsprachigen Raum. Während in Frankreich der Zirkus beinahe seit einem halben Jahrhundert wie andere Theaterformen als Kunst gilt und Zirkusproduktionen seit mehreren Jahrzehnten öffentliche Förderungsgelder erhalten, beginnen die Debatten und Bewegungen um den sogenannten Neuen oder zeitgenössischen Zirkus im deutschsprachigen Raum zurzeit gerade erst. So fordern beispielsweise deutsche Zirkusschaffende in einem 2017 veröffentlichten Manifest die Anerkennung des zeitgenössischen Zirkus als Kunstform sowie den Zugang zu Förderstrukturen. 73 In Österreich und der Schweiz wurden in den letzten Jahren bereits erste konkrete Erfolge hinsichtlich der Anerkennung aktueller Zirkusformen als förderungswürdiger Kunst erzielt. 74 Woran es in diesen Debatten jedoch häufig mangelt, sind präzise Kenntnisse über die historische Gewordenheit des heute gängigen Zirkusbildes. Die Theaterwissenschaft sollte es sich zur Aufgabe machen, diese Forschungs- und Wissenslücke in den kommenden Jahren zu schließen. Anmerkungen 1 Der Artist, Nr. 1206, 22. März 1908, o. S. 2 Überliefert ist dieser Zeitungsausschnitt in den Zensurakten des Puhlmann ’ s bzw. American Theater im Landesarchiv Berlin, Acta des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend die in Puhlmann ‘ s Theater (Reiff ‘ s American) zur Aufführung gelangenden Theaterstücke. Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030 - 05, 505. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Nic Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869 - 1899), Bielefeld 2007, S. 54 - 65; Peter W. Marx und Stefanie Watzka (Hg.), Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt, Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1914, Tübingen 2009, S. 9. 5 Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger und Reinhard Wittmann (Hg.), Realismus und Gründerzeit, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848 - 1880, Band 1, Stuttgart 1976, S. 147. 6 Vgl. ebd.; Ruth Freydank (Hg.), Theater als Geschäft, Berlin 1995, S. 10; Leonhardt Piktoral-Dramaturgie, S. 64. 7 Bezüglich der Platzkapazitäten vgl. Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, S. 315 ff.; Paul Linsemann, Die Theaterstadt Berlin, Eine kritische Umschau (1897), hg. Peter W. Marx und Stefanie Watzka, Tübingen 2009, S. 186. 8 Vgl. hierzu auch Sylke Kirschnick, „ Vom Rand ins Zentrum und zurück, Moderner Zirkus und moderne Metropole “ , in: Paul Nolte (Hg.), Die Vergnügungskultur der Großstadt, Orte - Inszenierungen - Netzwerke, (1880 - 1930), Köln 2016, S. 54 - 64. 9 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bestanden in Berlin zehn Zirkusgebäude, einige davon bis ins 20. Jahrhundert: beispielsweise das Zirkusgebäude am Bahnhof Börse bis 1937 oder die 1873 umfunktionierte Markthalle am Schiffbauerdamm bis 1985 - zuletzt unter dem Namen Friedrichstadtpalast. Vgl. Gisela Winkler, Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden. Bd. 1: Die Geschichte der Artistik und des Zirkus, Gransee 2015, S. S. 84 - 100, 118 - 123. 29 Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen 10 Vgl. ebd. S. 118 - 123. 11 Stefan Koslowski, Stadttheater contra Schaubuden, Zur Basler Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts, Zürich 1998, S. 30. 12 Überliefert ist dieser Zeitungsausschnitt in den Zensurakten des Circus Renz im Landesarchiv Berlin, Acta des Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend den Circus »Renz«. Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030 - 05, 1525. 13 Bettina Machner, „ Die Gardeoffiziere saßen in den Logen, die ‚ kleinen Leute ‘ oben auf den Galeriebänken “ , in: Stiftung Stadtmuseum Berlin (Hg.), Zirkus in Berlin, Begleitbuch zur Ausstellung, Dormagen 2005, S. 67. 14 Gerhard Eberstaller, Zirkus und Varieté in Wien, Wien 1974, S. 29. 15 Vgl. hierzu auch Marx und Watzka, Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt, S. 14. 16 Maximilian Harden, Berlin als Theaterhauptstadt (1888), hg. Peter W. Marx und Stefanie Watzka, Tübingen 2009, S. 150. 17 Ebd., S. 147. 18 August Scherl, Berlin hat kein Theaterpublikum! Vorschläge zur Beseitigung der Mißstände unseres Theaterwesens (1898), hg. Peter W. Marx und Stefanie Watzka, Tübingen 2009, S. 276 19 Ebd. 20 Birgit Peter, „ Geschmack und Vorurteil. Zirkus als Kunstform “ , in: Kunsthalle Wien (Hg.), Parallelwelt Zirkus, Nürnberg 2012, S. 73. Die Autorin beschäftigt sich insbesondere diskursanalytisch mit der Geschichtsschreibung und Marginalisierung von Zirkus und Artistik im deutschsprachigen Raum sowie mit der Geschichte des Zirkus in Österreich. 21 Zit. n. Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, S. 73, FN 27. Originaltitel: Adolf Graf von Westarp, Der Verfall der deutschen Bühne, Berlin 1892, S. 3 f. 22 Erich Schlaikjer, Gegenwart und Zukunft der deutschen Schaubühne (1912), hg. Peter W. Marx und Stefanie Watzka, Tübingen 2009, S. 370. 23 Linsemann, Die Theaterstadt Berlin, S. 231 ff. 24 Vgl. Anja Hentschel, „ (. . .) ein ächter Künstler muß sich schämen, so große Einnahmen zu veröffentlichen! “ , in: Forum Modernes Theater 24 (1998), S. 368; Annemarie Matzke, Arbeit am Theater, Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 83; Bernd Wagner, Fürstenhof und Bürgergesellschaft, Zur Entstehung, Entwicklung und Legitimation von Kulturpolitik, Essen 2009, S. 323. 25 Gerechtfertigt wurde die (angestrebte) Vorrangstellung des Bildungs- und Literaturtheaters auch mit den zeitgenössischen Vorstellungen von Sittlichkeit und Moral. Vgl. Angelika Hoelger, „ Die Reglementierung öffentlicher Lustbarkeiten in Berlin um 1900 “ , in: Tobias Becker, Anna Littmann und Johanna Niedbalski (Hg.), Die tausend Freuden der Metropole: Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2014, S. 23 - 42. 26 Vgl. Koslowski Stadttheater contra Schaubuden, S. 93 ff.; Matzke, Arbeit am Theater, S. 83 ff.; Peter „ Geschmack und Vorurteil “ , S. 72. Vgl. zum Thema „ Theater und Prostitution “ auch Melanie Hinz, Das Theater der Prostitution, Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart, Bielefeld 2014. 27 Peter, „ Geschmack und Vorurteil “ , S. 72. 28 Vgl. Koslowski, Stadttheater contra Schaubuden, S. 69. 29 Peter, „ Geschmack und Vorurteil “ , S. 79. Peter präzisiert bezüglich den vom Theater ausgeschlossenen und in den Zirkus integrierten Darbietungsformaten: „ Im Zirkus versammelt sich in dieser Phase der Etablierung von Theater als bürgerlicher Kunst das ‚ andere ‘ Theater - es ist hier nicht die Stegreifkomödie gemeint oder das Extemporieren [. . .], sondern die ‚ Zusatzqualifikationen ‘ , die sich bis ins 18. Jahrhundert im Umfeld wandernder Truppen fanden. “ Ebd., S. 73. 30 Der 1849 gegründete Direktorenverband DBV setzte sich von Beginn an für eine Verbesserung der Lage des deutschen Theaterwesens ein, während die 1871 ins Leben gerufene GDBA ihrerseits das Ziel verfolgte, die soziale Stellung und Absicherung der Schauspieler*innen zu verbessern, die von den Folgen der nach 1869 zunehmend in- 30 Mirjam Hildbrand stabilen Theatersituation unmittelbar betroffen waren. Vgl. Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne, Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 3, Stuttgart 1999, S. 46 f. 31 Die Generalverordnung ist in den Akten der Kreishauptmannschaft Leipzig im Sächsischen Staatsarchivs Leipzig überliefert, Acta der Königlichen Kreishauptmannschaft Leipzig. Sect. IV, die Schauspielunternehmer betreffend, 1884 - 1903. Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 20024 Kreishauptmannschaft Leipzig, Nr. 1871. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Überliefert ist dieses Schreiben in den Zensurakten des Puhlmann ’ s bzw. American Theater im Landesarchiv Berlin, Acta des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend die in Puhlmann ‘ s Theater (Reiff ‘ s American) zur Aufführung gelangenden Theaterstücke. (Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030 - 05, 505). Leonhardt verweist in Piktoral-Dramaturgie, S. 167 f. auch auf diese Quelle, schreibt die Autorschaft jedoch fälschlicherweise dem Präsidenten der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger zu. Tatsächlich ist der Brief von Ernst Ludwig Herrfurth signiert und bezieht sich auf den DBV, nicht auf die GDBA. 35 In den 1888 verfassten Schreiben des preußischen und des sächsischen Innenministeriums ist zu lesen, dass die Zirkusse in „ neuerer Zeit “ Pantomimen, Ballette und Ausstattungstücke in ihre Vorstellungen aufgenommen hätten. Der Blick auf die Aufführungspraxis der Zirkusse im deutschsprachigen Raum widerspricht jedoch der Vorstellung, es sei erst in den 1880er Jahren zu einer Annäherung der Zirkusprogramme an das „ eigentliche “ Theater gekommen. Vielmehr dürfte die Formulierung auf den ab 1869 zunehmenden Konkurrenzdruck zurückzuführen sein. Trotzdem fand die Auffassung, die Zirkusse seien bis 1870 „ theaterfremde Vergnügungsunternehmungen “ (Bucher et al.), Eingang in die deutsche Theatergeschichtsschreibung. Zu sehen bei Bucher et al., Realismus und Gründerzeit, S. 147 und bei Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, S. 279, sowie Leonhardt, „ Metropole als Markt für Mokerie. Parodien auf urbane Unterhaltung als Unterhaltung über Urbanisierung im 19. Jahrhundert “ , in: Forum Modernes Theater 23, 2 (2008), S. 141. 36 Der seit 1869 bzw. 1871 in der Reichsgewerbeordnung bestehende Paragraf lautete folgendermaßen: „ §. 32. Schauspielunternehmer bedürfen zum Betriebe ihres Gewerbes der Erlaubniß. Dieselbe ist ihnen zu ertheilen, wenn nicht Thatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Nachsuchenden in Beziehung auf den beabsichtigten Gewerbebetrieb darthun. Beschränkungen auf bestimmte Kategorien theatralischer Darstellungen sind unzulässig. “ Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (RGO 1869), in: Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes Bd. 1869, Nr. 26, S. 253 f. 37 Ebd., S. 258 f. Die Unterscheidung fand bereits 1811 Eingang in die Gewerbegesetze Preußens. Vgl. Gesetz über die polizeilichen Verhältnisse der Gewerbe, in Bezug auf das Edikt vom 2ten November 1810, wegen Einführung einer allgemeinen Gewerbesteuer, vom 7. September 1811, Nr. 51, in: Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten enth. d. Verordnungen von 1811, S. 272, 277. Ab 1820 wurde dann mittels einer entsprechen Formulierung sowie einer Besteuerung bzw. Steuerbefreiung die Hierarchie zwischen den stehenden Bühnen ( „ höheres Kunstinteresse “ ) und den reisenden Theatergruppen gesetzlich festgeschrieben. Vgl. Gesetz wegen Entrichtung der Gewerbesteuer, vom 30. Mai 1820, Nr. 619, in: Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten enth. d. Verordnungen von 1820, S. 162. 38 Vgl. Anja Brauneck, Die Stellung des deutschen Theaters im öffentlichen Recht, 1871 - 1945, Frankfurt am Main 1997, S. 42. 39 Die Bewilligungen der reisenden Theater waren jeweils nur während eines Kalenderjahrs und ausschließlich im Regierungsbezirk der Ausstellungsbehörde gültig (für die stehenden Theater war hingegen keine zeitliche Beschränkung der Konzessionen zulässig). Auf andere Bezirke des Kaiserreichs konnte die Zulassung nur dann er- 31 Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen weitert werden, wenn die dortige maximale Anzahl an ausgestellten Bewilligungen in den Augen der Behörden nicht bereits erreicht war. Vgl. Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (RGO 1869), S. 255 ff.; Brauneck, Die Stellung des deutschen Theaters im öffentlichen Recht, S. 59. 40 Vgl. Joachim Rübel, Geschichte der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen (GDBA), Berlin 1992, S. 82. 41 Vgl. ebd. sowie Robert Landmann, Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich nach der Fassung vom 1. Juli 1883, unter Berücksichtigung der Materialien der Gesetzgebung, der Entscheidungen der deutschen Gerichtshöfe und der Literatur, erläutert und mit den Vollzugsvorschriften, Nördlingen 1884, S. 113. 42 Gesetz, betreffend die Abänderung des §. 32 der Gewerbeordnung, vom 15. Juli 1880, in: Deutsches Reichsgesetzblatt (RGBl.), Bd. 1880, Nr. 18, S. 179. 43 Landmann, Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich nach der Fassung vom 1. Juli 1883, S. 115. 44 Gesetz, betreffend die Abänderung des §. 32 der Gewerbeordnung, vom 15. Juli 1880, S. 179. 45 Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung, vom 1. Juli 1883, in: Deutsches Reichsgesetzblatt (RGBl.) Bd. 1883, Nr. 15, S. 160. 46 Ebd. Vgl. auch Landmann, Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich nach der Fassung vom 1. Juli 1883, S. 113 f. 47 Vgl. Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung, vom 1. Juli 1883, S. 160. 48 Vgl. Landmann, Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich nach der Fassung vom 1. Juli 1883, S. 113. 49 Eine genaue Bestimmung war nach Landmann nicht notwendig, da sich „ in dieser Hinsicht im Anschluß an die auch schon in der Gewerbeordnung sich findende Bezeichnung bereits eine ziemlich konstante Praxis herausgebildet “ hätte. Ebd., S. 138. 50 Ebd., S. 137. 51 Überliefert ist dieses Schreiben in den Akten zu den Verhandlungen über die Verbesserung und Erweiterung der Gewerbeordnung hinsichtlich der Theaterangelegenheiten, 1903 - 1928. Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030 - 05, 205. Aus dem Schreiben geht ebenfalls hervor, dass es Unklarheiten oder unterschiedliche Auslegungen der revidierten Gesetzgebung gegeben haben muss. Denn das Polizeiamt Altona wandte sich am 8. November 1899 mit folgenden Worten an die Berliner Polizei: „ Es ist hier zur Frage gekommen, ob die besseren Circusvorstellungen, wie die von Renz, Busch dargebotenen, einer gewerbepolizeilichen Erlaubnis bedürfen. Hier ist seither angenommen, dass zu diesen Vorstellungen weder nach § 33 a noch § 55 Ziffer 4 Gewerbe-Ordnung eine Erlaubnis erforderlich sei, indem dabei ein höheres Interesse der Kunst statuiert werden könne. “ (Ebd.) Die Beamten in Altona gingen also möglicherweise schon seit mehreren Jahren davon aus, dass die Aufführungen dieser großen Zirkusunternehmen „ höheren Kunstwert “ besaßen. 52 Vgl. Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung, vom 1. Juli 1883, S. 165 ff. 53 Jocza Savitz, Bericht über die Resultate der Untersuchung des Nothstandes der privaten Theater-Unternehmungen und ihrer Mitglieder. Mitgetheilt im Auftrage des Central- Ausschusses der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger in der Delegirten-Versammlung am 11. Dezember 1890 zu Berlin, Berlin 1891. S. 25, überliefert in einer Zensurakte im Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030 - 05, 505. 54 Rübel, Geschichte der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen (GDBA), S. 84. 55 Vgl. Brauneck, Die Stellung des deutschen Theaters im öffentlichen Recht, S. 44 f.; Landmann, Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich nach der Fassung vom 1. Juli 1883, S. 116. 56 Vgl. Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung, vom 1. Juli 1883, S. 160. 57 Landmann, Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich nach der Fassung vom 1. Juli 1883, S. 140. 58 Vgl. Endnote 39. 59 Fritz Steinbach, Gewerbeordnung für das Deutsche Reich mit den Nebengesetzen und den Ausführungsbestimmungen, Ausgabe für 32 Mirjam Hildbrand Preußen, 2. neubearbeitete Auflage, München 1923, S. 54, 120. 60 Die Generalverordnung ist in den Akten der Kreishauptmannschaft Leipzig im Sächsischen Staatsarchivs Leipzig überliefert: Acta der Königlichen Kreishauptmannschaft Leipzig. Sect. IV, die Schauspielunternehmer betreffend, 1884 - 1903. Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 20024 Kreishauptmannschaft Leipzig, Nr. 1871. 61 Ebd. 62 Vgl. Rübel, Geschichte der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen (GDBA), S. 174. 63 Der Begriff war spätestens seit der 1914 von der GDBA herausgegebenen Schrift Geschäftstheater oder Kulturtheater? verbreitet. Der Verfasser, Ludwig Seelig, war ein führendes GDBA-Mitglied. 64 Vgl. Erich Eyermann, Ludwig Froehler, Gewerbeordnung 1, Landmann-Rohmer, München 1956; Harald Sieg, Werner Leifermann, Gewerbeordnung, erläutert von Harald Sieg u. Werner Leifermann, München 1966. Seit der Novellierung von 1984 bezieht sich Paragraf 33 a nur noch auf „ geschlechtsbezogene Darstellung[en] von Personen “ (Peter J. Tettinger, Rolf Wank und Jörg Ennuschat (Hg.), Gewerbeordnung, Kommentar, München 2011, S. 334.). 65 Vgl. Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung, vom 1. Juli 1883, S. 160, 165; Alfred Dickersbach, „ § 33 a GewO “ , in: Karl Heinrich Friauf (Hg.), Kommentar zur Gewerbeordnung, Neuwied o. J., Rn. 8. Zugriff über JURION Onlineausgabe, Rechtsstand 31. Januar 2017. 66 Ebd., Rn. 5. 67 Tettinger et al., Gewerbeordnung, Kommentar, S. 711. 68 Koslowski, Stadttheater contra Schaubuden, S. 11 f. Die Studie untersucht anhand unterschiedlicher historischer Quellen das Verhältnis des Basler Stadttheaters und den in der Stadt gastierenden Zirkussen und Schaubuden. 69 Vgl. Jacky Bratton, „ What Is a Play? Drama and the Victorian Circus “ , in: Tracy C. Davis und Peter Holland (Hg.), The Performing Century, Nineteenth-Century Theatre ’ s History, Houndmills 2007, S. 252. 70 Vgl. Philippe Chauveau, Les théâtres Parisiens Disparus, 1402 - 1986. Paris 1999, S. 152 f.; Nicole Wild, Dictionnaire des Théâtres Parisiens au XIXe Siècle, Les Théâtres et la Musique, Paris 1989, 83 ff. u. 307 ff. 71 Koslowski, Stadttheater contra Schaubuden, S. 12; Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, S. 9. 72 Peter, „ Geschmack und Vorurteil “ , S. 79. 73 „ Manifest des zeitgenössischen Zirkus “ auf www.initiative-neuerzirkus.de/ manifest-deszeitgenoessischen-zirkus/ [Zugriff am 28. 1. 2018]. Vgl. zur Thematik auch den am 21. November 2017 in der Berliner Zeitung erschienene Artikel „ Geld für Zirkus? Eine Polemik über die ungerechte Verteilung von Fördermitteln “ : www.berliner-zeitung. de/ kultur/ geld-fuer-zirkus - eine-polemikueber-die-ungerechte-verteilung-von-foerdermitteln-28929442 [Zugriff am 11. 1. 2018]. 74 In Österreich fördert das Bundeskanzleramt Kunst und Kultur seit Ende 2015 Neue- Zirkus-Projekte und in der Schweiz stellen zeitgenössische Zirkusproduktionen seit Kurzem in einzelnen Kantonen kein Ausschlusskriterium mehr dar. 33 Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen