eJournals Forum Modernes Theater 28/2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2013
282 Balme

Julia Wehren: Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis. Bielefeld: transcript Verlag 2016, 274 Seiten.

2013
Katja Schneider
möglichen „ Analyse von Performern “ (Kapitel 3) vergleichsweise wenig Raum geschenkt wird. Das „ nahe Beschreiben “ , das der Verfasser als Performative Describing von dem Konzept des in den 1990er Jahren im angloamerikanischen Raum entstandenen Performative Writing abgrenzt, wird gegenüber einem analytischen Schreiben bevorzugt, das durch theoretische Fragestellung den Gegenstand einzuengen und das Unbegreifbaren zu glätten drohe (S. 194). Wenngleich dem Verfasser der „ theoretische Begriff im Vergleich zur Frage des Beschreibens eher nebensächlich “ erscheint (S. 252), ist der theoretische Horizont, den er für seine Studie wählt, weit gefasst. Im Rekurs auf aufführungs- und performancetheoretische Positionen (Bormann, Schneider) wird das Unbegreifbare dabei als ein Phänomen gedacht, dessen Wirksamkeit sich nicht nur auf den Moment der Begegnung bezieht, sondern sich vor allem im Nachtrag entfaltet (S. 117). In dieser aufführungstheoretischen Perspektive liegt eine Qualität der vorliegenden Studie, die den Fokus von der auf die Dauer der Aufführung begrenzte Erfahrung des Zuschauers auf die Zeit danach erweitert. Das Potential dieses Ansatzes für die theaterwissenschaftliche Reflexion und Analyse der Aufführung aufzugreifen, hieße jedoch, die melancholische Haltung des Verlustes gegenüber dem ‚ transitorischen Ereignis ‘ aufzugeben. Sie prägt jedoch Leifelds Konzept vom Unbegreifbaren, das, wie mehrfach im Text betont wird, stets ungreifbar bleibt. Angesichts der umfangreichen selbst verfassten Texte mutet diese Diagnose dabei wie eine Legitimation an, das eigene Schreiben so ungreifbar wie möglich zu halten, was die Lektüre dieser Arbeit so mühsam macht. Dass unsere Wahrnehmung uns nie unmittelbar - greifbar - gegeben und stets schon durch Begriffe geprägt ist, wird dabei außer Acht gelassen. Sie stellen nicht den Abstand, sondern den Zugang zum Geschehen her. Demgegenüber wird hier die begriffliche Auseinandersetzung mit Performances und Performern, wie der Verfasser am Beispiel einer gendertheoretischen Perspektivierung aufzeigt, als Nivellierung und Festlegung empfunden (S. 246). Um diese Position zu begründen, hätte eine über die ausführliche (Selbst-)Reflexion des eigenen Schreibens hinausgehende, kritische Auseinandersetzung mit theaterwissenschaftlichen Texten anderer Autorinnen und Autoren, in denen Aufführungen immer wieder zum Gegenstand werden, ein anderes Ergebnis gebracht. Dass aber die theoretische wie praktische Auseinandersetzung mit aufführungsanalytischen Verfahren des Schreibens in jedem Fall lohnend ist, davon zeugt auch diese Studie. Leipzig I SA W ORTELKAMP Julia Wehren: Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis. Bielefeld: transcript Verlag 2016, 274 Seiten. Als 2011 „ Tanzfonds Erbe “ in Deutschland und 2012 die Schweizerische Fördereinrichtung „ Kulturerbe Tanz “ Projekte unterstützten, die sich künstlerisch mit der Geschichte der eigenen Kunst auseinandersetzten, reagierten diese Initiativen zum einen auf eine manifeste Strömung im zeitgenössischen Tanz, zum anderen griffen sie regulierend in diese Szene ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich über Jahre bereits ein internationaler Diskurs konstituiert: Hier interferierten choreografische Zugriffe etwa von Martin Nachbar, Le Quatuor Albrecht Knust oder Jérôme Bel, theoretische Konturierungen von Archiv und Repertoire (zum Beispiel Taylor 2003), Reenactment oder Tanz als Wissenskultur (Brandstetter 2007; Huschka 2009) sowie kulturpolitische Regulierungsmaßnahmen wie etwa das UNESCO-Übereinkommen zum Erhalt immateriellen Kulturerbes (2003). Zu diesem Kontext gehörten zahlreiche Tagungen, Veranstaltungsreihen und Publikationen; auch Julia Wehren widmete sich bereits 2010 dem Thema getanzter Tanzgeschichte und gab zusammen mit Christina Thurner den Band „ Original und Revival “ heraus, der auf einer Tagung 2008 am Berner Institut für Theaterwissenschaft beruhte. Den Untertitel ihres damaligen Beitrags ( „ Choreografie als kritische Reflexion von Tanzgeschichte “ ) greift Julia Wehren in ihrem aktuellen Untertitel ( „ Choreografie als historiographi- Forum Modernes Theater, 28/ 2 (2013 [2018]), 211 - 213. Gunter Narr Verlag Tübingen 211 Rezensionen sche Praxis “ ) wieder auf. In der Publikation „ Körper als Archiv in Bewegung “ , die auf ihrer 2014 an der Universität Bern angenommenen Promotionsschrift basiert, werden unterschiedliche Aspekte dieses Diskurses zusammengeführt und unter historiografischer Perspektive konstelliert. Ziel ist es, Choreografie als historiografische Praxis und den Körper als Archiv in Bewegung zu konzipieren, sowie, so die These, auf produktive Weise Theorie und Praxis zu verschränken, um „ die Möglichkeiten der historischen Recherche, Selektion und Interpretation gleichermaßen neu zu denken, wie die Artikulation und Präsentation tanzhistorischer Erkenntnisse im Rahmen einer Aufführungssituation “ (S. 26). Sechs markante und für die vergangenen rund 25 Jahre kanonisch gewordene künstlerische Positionen bilden die zum Teil eingehender behandelten, zum Teil skizzierten Untersuchungsgegenstände und ästhetischen Fluchtpunkte von Wehrens in vier eingängig, aber nicht ausreichend spezifisch überschriebene Kapitel ( „ Umbrüche “ , „ Dispositive “ , „ Körper “ , „ Geschichte(n) “ ) gegliederte Publikation: Zu den Arbeiten von Le Quatuor Albrecht Knust (1994 - 96), Jérôme Bels „ Véronique Doisneau “ (2004), Olga de Sotos Oral- History-Projekt „ histoire(s) “ (2004), Foofwa d ’ Imobilités und Thomas Lebruns „ Mimésix “ (2005) sowie Janez Jansas „ Fake it! “ (2007) gesellt sich als jüngstes Projekt „ Flip Book “ (2008/ 09) von Boris Charmatz. Diesen Positionen werden Lektüren theoretischer Ansätze an die Seite gestellt, in denen Julia Wehren wichtige Kategorien, wie „ Flüchtigkeit “ , „ Dokument “ , „ Archiv “ , „ Spur “ , „ Reenactment “ , „ Narration “ , konturiert und diskutiert. Dabei akzentuiert sie eine entscheidende paradigmatische Verschiebung, die in ihrer Perspektive die Entwicklungen seit den frühen 1990er Jahren bündelt: „ ein radikales Neudenken und eine Abkehr von dem Paradigma der Flüchtigkeit “ (S. 109), das lange konstitutiv für das Konzept von Tanz in der Tanzwissenschaft gewesen ist. An seine Stelle rückte ein archivalischer Impuls, der sich erstens körperlich äußert in Praktiken des Trainings, Einstudierens, Aufführens, zweitens am Gestus des reflexiven Zugriffs auf tanzgeschichtliche Ereignisse, drittens in der biographisch informierten Perspektive auf die Auseinandersetzung mit Quellen oder viertes gerade im Gegenteil in der distanzierten Professionalität vielgestaltiger professioneller Tänzer, die lustvoll in den eigenen Archiven nach Spuren suchen. Dabei zu konstatieren ist „ immer auch eine Artikulation von Wissen, welches sich als dynamisch, kontingent, körperlich und implizit, aber ebenso auch explizit und diskursiv, artikulierbar und vermittelbar präsentiert. “ (S. 190). Wehren entfaltet in der Verschränkung von Beschreibung des künstlerischen Beispiels und theoretischer Relektüre noch einmal eine Zusammenschau brisanter Themenfelder. Die einschlägigen Begriffe und Konzepte, die sie referiert, konturiert sie für ihr Thema: So setzt sie dem „ Reenactment “ als Bezeichnung beispielsweise „ historiografische Praktiken in der Choreografie “ (S. 94) entgegen. Diese speisen sich aus Erinnerungs- und Wahrnehmungsweisen des Körpers, aus seiner Fähigkeit zu lernen und Wissen zu aktualisieren und aus dem Umstand, dass der Körper immer schon kulturell imprägniert ist und dadurch zugänglich für Dritte, das Publikum, wird. Julia Wehrens Studie zielt darauf, das identifizierte Forschungsdesiderat, eine umfassende und eingehende Darstellung „ mit Fokus auf die historiografische Praxis “ (S. 22), zu erfüllen. Die künstlerischen Strategien werden in Wehrens exemplarischen Korpus abgedeckt, theoretisch unternimmt sie eine Revision eines Diskursfeldes, das sowohl an seinen Rändern wie in seinem Zentrum bereits in mehreren Anläufen angegangen wurde. Der Forschungsstand ist entsprechend hoch und im Kontext einer solchen Publikation kaum vollständig abzudecken. Doch hat Julia Wehren wichtige und interessante Positionen selektiert und referiert. Darüber hinaus hätte man sich mehr an eigenständiger Argumentation oder kritischer Diskussion gewünscht, die sich zum Beispiel als Reflexion der Widersprüche in diesem Feld - sowohl in den künstlerischen Strategien als auch in den theoretischen Side- Kicks - angeboten hätte (wie es Constanze Schellow in ihren „ Diskurs-Choreographien “ für den Topos des „ Nicht-Tanz “ in zeitgenössischem Tanz und jüngerer Tanzwissenschaft gelungen ist). Das Fernziel der Arbeit, der „ Entwurf für eine mögliche Geschichtsschreibung von Tanz “ (S. 26) ist mit dieser Publikation noch nicht erreicht, in 212 Rezensionen jedem Fall aber kann das Buch mit Gewinn als Einführung in ein weitverzweigtes Gebiet gelesen werden, an dem die Tanzwissenschaft seit Mitte der 1990er Jahre sehr interessiert ist und mit dem sich Wehren produktiv auseinandersetzt. München K ATJA S CHNEIDER 213 Rezensionen