eJournals Forum Modernes Theater 28/2

Forum Modernes Theater
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2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2013
282 Balme

Eva Holling. Übertragung im Theater. Theorie und Praxis theatralerWirkung. Berlin: Neofelis Verlag 2016, 350 Seiten.

2013
Julia Wehren
einmal neu gewendet. Besonders anregend wird hier die Argumentation mit und gegen Gilles Deleuzes vitalistisch geprägtes Konzept des „ Ritornells “ als kritischer Form gegen den Chaosmos (S. 31, 33) bei Alexander Jakobidze-Gitman; vor allem aber die kritische Re-Lektüre des Verhältnisses von Innen und Außen in Deleuzes Die Falte bezogen auf den musikalischen Rhythmus des Barock. Eine Theorie des Rhythmus, so die Herausgeber, „ müsste eine Theorie des Konkreten sein, in der sich das Verhältnis von Maß und Bewegung, von Kontinuität und Diskontinuität je spezifisch ausbalanciert “ (S. 12) und vor dem Hintergrund dieses Desiderats entfaltet sich auch der gelungene Band: Er stellt einen interdisziplinären Dialog her - zwischen der Bildtheorie, der Musikwissenschaft, Philosophie und Kulturgeschichte - und ist in seiner Anlage zum Gefüge-Denken anschlussfähig an Fragen der Theater- und Tanzwissenschaft. Er unterstreicht ein Denken von Verhältnissen, wie es beispielsweise auch Patrick Primavesi und Simone Mahrenholz in ihrem Band Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten (2005) für die Performance Studies begonnen und gebündelt hatten. (Es wird empfohlen, die neue, digitale Fassung des Bandes bei transcript zu verwenden, die Fehler der gedruckten Fassung anpasst.) Düsseldorf M AREN B UTTE Eva Holling. Übertragung im Theater. Theorie und Praxis theatraler Wirkung. Berlin: Neofelis Verlag 2016, 350 Seiten. Theater zwischen Liebe und Ideologiekompetenz Übertragung geht aus der Begegnung zweier Subjekte hervor, genauer noch: Sie bestimmt ebendiese Zusammenkunft immer schon im Vornherein. Diese grundlegende Annahme aus der Psychoanalyse überträgt Eva Holling auf das Theater. Wenn Zuschauende auf eine Theatersituation treffen, ist dies in der Anlage nichts anderes als ein „ intersubjektiver Rapport “ , so die Gießener Theaterwissenschaftlerin. Er entfaltet seine Wirkung im Prozess und trägt wesentlich zur Subjektkonstitution und damit Identitätsbildung des Einzelnen bei. Theater als sozialer Katalysator also, als eine ästhetische Erfahrung, die im Zuschauenden eine zunächst imaginäre und dann symbolische Formierung eines Ichideals vornimmt. Die Struktur der Subjektbildung, die dabei wirksam ist, ist derjenigen der Liebe nicht unähnlich, wie Holling anhand von Lacans Begriff des Begehrens ausführt. Der Prozess der Übertragung ermöglicht hier „ das Sehen von etwas Wertvollem in jemand anderem “ (S. 122) und adelt so das Theater als der Liebe zumindest strukturell verwandt. Wie erhellt das hier vorgestellte Modell einer psychoanalytischen Gesprächssituation das Spannungsverhältnis von Publikum und Bühne? Welcher Erkenntnisgewinn ergibt sich mit dem Übertragungsbegriff für das Theater? Eva Holling beschreibt Theater als Vorgand, der dem Begehren der Subjekte Raum bietet und über komplexe Austauschprozesse der Innen- und Außenwahrnehmung (das Lacansche Spiegelstadium findet hier Anwendung) ein reflektiertes Ich hervorbringt. Sie unterscheidet dabei zwischen einer instrumentellen und einer experimentellen Ausprägung, die beide auf ihre Wirkungsmuster hin untersucht werden können. Über drei zentrale Kapitel arbeitet sie das Begehren (die agalma), die Machtkonstellation (das sujet-supposé-savoir) und die Übertragung (die maîtrises théâtrales) als Grundsituationen theatraler Modelle mit Lacans Begriffsvokabular heraus, welches sie immer wieder schärft, um andere Lektüren erweitert, auf den Gegenstand des Theaters zuspitzt und schließlich anschaulich an Beispielen vorführt. Zur Erläuterung des instrumentellen Modells zieht die Autorin die weinenden Gesichter der Ausstellungsbesucher*innen in Marina Abramovi ć s The Artist is present bei. Sie deutet sie als reüssierte Übertragungsprozesse von gezielt gesteuerten Affekten auf Ebene der Produktion, mit Abramovi ć als einem sogenannten sujetsupposé-savoir, einem „ Subjekt, dem unterstellt wird, wissend zu sein “ , wie Holling Lacans Grundbegriff übersetzt. Der Status der Performancekünstlerin und die institutionelle Rahmung verunmöglichen eine Situation auf Augen- Forum Modernes Theater, 28/ 2 (2013 [2018]), 208 - 210. Gunter Narr Verlag Tübingen 208 Rezensionen höhe derart, dass das Sehnen nach dem Anderen unweigerlich zu einem Sich-Ausliefern der Zuschauenden führt. Diese Konzeption eines wissendenden Subjekts beruht sowohl auf Fiktion (auf imaginierten, aber doch wirkungsmächtigen Anteilen im zwischenmenschlichen Rapport), wie auf der zugewiesenen Funktion als dem „ Platz, auf den das Gegenüber jeweils versetzt wird [. . .] “ (S. 186), wie Holling schreibt. Sie führt weiter zu der Frage, inwiefern die Zuschauenden durch diese fiktiven und funktionalen Bedingungen im Setting von Abramovi ć von einem Subjekt in die Position eines Objekts gedrängt werden können. Für diese Diskussion um symbolische Macht zieht Holling auch Pierre Bourdieus Pouvoir symbolique und Jacques Rancières Maîtres ignorants bei. Dem Subjekt wird darin unter anderem die „ Möglichkeiten zur praktizierten Äquivalenz “ (S. 198) zugeschrieben, das Potential also, der Anfälligkeit für Autorität, welche die Intersubjektivität in sich birgt und die Holling in dem Abramovi ć -Beispiel sieht, gerade zu widerstehen. Einem derart instrumentalisierenden Setting stellt Holling das Beispiel Amt für Umbruchsbewältigung entgegen, 2012 als Teil der Ausstellung Demonstrationen. Vom Werden normativer Ordnungen in Frankfurt am Main vorgestellt. Es betreibt ein fiktives Amt nach Büroschluss des tatsächlichen Presse- und Informationsamtes und bietet rund 40 Expert*innen aus unterschiedlichsten Themenfeldern für Zweiergespräche an. Wie The Artist is present offeriert es eine Art Audienz-Situation mit einer wissenden und einer zuschauenden Person, jedoch ist die grundlegend asymmetrische Begegnung nun vielfach verschoben, indem die Künstler*innen eine ihnen fremde Institution bevölkern, die Zuschauenden ohne Publikum agieren und die gesamte Situation einer offensichtlichen Fiktion unterstellt ist. Holling wertet dieses Setting als experimentell und überträgt den Ansatz wiederum auf das Lacansche sujet-supposé-savoir, wobei der Einsatz von Wissen und der Umgang mit der Übertragung hier ergebnisoffen strukturiert sind. Dies bedeutet auch, dass die Zuschauenden die Wirkungsweisen, denen sie sich unterwerfen, selber erkennen, reflektieren und in ihre Subjektwerdung einbeziehen können. Diese zumindest strukturell mögliche Einsicht leitet Holling zu der abschließenden Frage, ob die Übertragungsperspektive gar grundsätzlich zur „ Interpellation widerständiger Subjekte beitragen [kann, J. W.], indem sie Ideologiekompetenz schafft “ (S. 334). Holling rückt also dezidiert den Zuschauer als Subjekt in den Fokus, um von da aus Wirkungsweisen als soziale und politische Strategien offenzulegen. Genau um solche Finessen in den theatralen Zusammenkünften geht es Holling. Sie rollt im vierten Teil ihrer Studie nochmals die verschiedenen Felder auf, in denen Übertragung und Theater bereits von anderen zusammengedacht worden sind (Robert Pfaller, Marianne Streisand, Gabriele Schwab, Gerald Siegmund). Mit Rekurs auf Louis Althusser, Helga Finter, Patrice Pavis und der Performerin Kate McIntosh zeigt sie schließlich auf, wie Theater immer zwischen Simulation und Spiel pendelt, seine Wirksamkeit entweder ausspielend oder aber brechend. Das Beispiel von Forced Entertainment, das den fundamentalen Theaterbegriff, welcher Hollings Studie unterliegt, besonders deutlich macht ( „ We are here, you are there, and this is the moment we are engaged in together “ , Tim Etchells, zit. nach S. 295), dient schließlich dazu, das Begehren im Theater als ein wechselweise ausgestelltes und ausgesetztes zu zeigen. Gemäß Holling setzen die Techniken der Einfühlung und Brechung nicht etwa erst einen Vorgang der Übertragung in Gang. Ein solcher ist immer schon gegeben. Sie strukturieren ihn bloß, und diese Struktur lässt sich mit Hollings Instrumentarium präzise und kritisch analysieren. Man könnte ihre aufführungsanalytische Methode auch als reflektiertes Sehen im doppelten Sinne bezeichnen, wenn die Analyse die Möglichkeit bietet zu fragen, „’ welche ’ Subjekte sich konstellieren und wie und auch wer diese Konstellationen evtl. initiiert, vornimmt, nutzt, welche Interpellationen im Spiel sind und von wo aus sich symbolische Macht generieren kann “ (S. 329). Den psychoanalytischen Blick auf subjektive Handlungsbedingungen hievt Holling so auf die Ebene der politischen Funktion von Theater. Dass das psychoanalytische Modell minutiöse Vorarbeit und ein fundiertes Studium der Grundlagen voraussetzt, macht auch Hollings Studie, die auf einem Dissertationsprojekt gründet, deutlich. Das mag mit ein Grund sein, 209 Rezensionen weshalb an Lacan ausgerichtete Aufführungsanalysen nicht zu den gängigen theaterwissenschaftlichen Methoden zählen. Hollings Verdienst ist es deshalb auch, einen solchen Versuch unternommen und fundiert durchexerziert zu haben. Umgekehrt erhält, wer immer schon die psychoanalytische Theoriebildung Lacanscher Prägung anschaulich erklärt haben wollte, mit dem Buch ein in jeder Hinsicht fundiertes, lustvolles und sprachlich verspielt verfasstes Angebot. Bern J ULIA W EHREN Denis Leifeld. Performances zur Sprache bringen. Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst. Bielefeld: transcript 2016, 306 Seiten. Zeitgenössische Performance konfrontiert das Publikum mehr denn je durch „ Momente der Irritation, Überforderung, Faszination und des Erstaunens “ und damit mit der Schwierigkeit, sie „ zur Sprache zu bringen “ (S. 19). Diese Beobachtung veranlasst Denis Leifeld dazu, sich in seiner Dissertation mit der Frage nach der sprachlichen Darstellung von „ Phänomenen des Unbegreifbaren “ auseinanderzusetzen. Damit schließt der Verfasser unmittelbar an die methodologische Diskussion zum Umgang mit dem Transitorischen an, die den theaterwissenschaftlichen Diskurs um die Aufführungsanalyse wesentlich geprägt hat. Die Rede vom Unbegreifbaren wird dabei zum (neuen) Topos des Undarstellbaren, dem der Verfasser in umfangreichen Darstellungen seiner eigenen Aufführungserfahrungen Raum gibt. Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Performance La Mélancolie des Dragons von Philippe Quesne (2008), in der die Performerin selbst zur Zeugin des Geschehens wird und die Vorgänge auf der Bühne mit Ausrufen des Erstaunens und der Verwunderung kommentiert, die die Erfahrung des Unbegreifbaren begleiten. In einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Erhabenen (u. a. Kant, Lyotard, Mersch, Seel, Welsch) begründet Leifeld im Folgenden eine „ Ästhetik des Unbegreifbaren “ , durch die jene Darstellungsformen beschreibbar werden sollen, die die Wahrnehmung irritieren, „ zu einem Problematischwerden kognitiven Begreifens führen und Gefühle der Überwältigung, Faszination und des Schocks auslösen “ (S. 102). Dabei werden theaterwissenschaftliche Konzepte wie „ Liminalität “ (Fischer-Lichte), „ markanter Moment “ (Roselt) oder „ intensive Erfahrung “ (Lehmann) in die Argumentation einbezogen und bilden den Hintergrund für die methodischen Ausführungen (Kapitel 2), die der Verfasser ausgehend von seiner eigenen Beschreibung am Beispiel der Straßenperformances der Cosplayer in Tokyo (2009) entwickelt. Sie zeichnet sich durch ein „ nahes Beschreiben “ aus, dessen Qualität in einem plastischen Einfühlen in ein vergangenes Geschehen liegt, das in der Beschreibung durch geeignete sprachliche Mittel re-inszeniert wird (S. 151). Diese umfassen etwa den Einsatz vieler Gedankenstriche oder Kommata, kurze Beobachtungsketten, fragmentarisch und assoziativ anmutende Textpassagen, die Aneinanderreihung sowie Häufungen von Adjektiven, Verben und Substantiven. Der Gestus ist von einer suchenden und schwebenden Bewegung gekennzeichnet, die stets verschiedene Möglichkeiten der Annäherung offenhalten will (S. 181). Anders als das „ analytische Schreiben in Distanz “ zeichne sich die „ nahe Beschreibung “ durch eine theoretisch wie begrifflich voraussetzungslose Auseinandersetzung mit der Aufführung aus. Stattdessen vermittelt sich ebenso wie in der Lektüre der folgenden Textbeispiele zu Hey Girl (2007) von Romeo Castellucci und The Cradle of Humankind (2012) von Steven Cohen ein geradezu kindlich anmutendes (und austauschbares) Staunen, das in wiederkehrenden Fragen und Ausrufen wie „ Was ist da was? “ , „ Ist da - da ist - nein, nichts [. . .] “ , „ Ist das - männlich oder weiblich? “ , “ Dann, da ist es wieder “ , „- und - was ist das? -“ , „- was war das? “ Ausdruck erhält. (S. 220 f). In dieser Nähe, „ die durch sprachliche Strategien beinahe gewalthaft erzeugt werden “ , liege „ die Stärke des hier angewandten Schreibens “ (S. 240). Dabei bezieht sich der Verfasser in seinen Beschreibungen meist auf die gesamte Aufführungssituation, während dem Performer, sowohl in den Beschreibungen als auch in der methodologischen Reflexion einer Forum Modernes Theater, 28/ 2 (2013 [2018]), 210 - 211. Gunter Narr Verlag Tübingen 210 Rezensionen