eJournals Forum Modernes Theater 28/2

Forum Modernes Theater
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2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2013
282 Balme

Meike Wagner. Theater und Öffentlichkeit im Vormärz. Berlin, München undWien als Schauplätze bürgerlicher Medienpraxis. Deutsche Literatur. Studien und Quellen 11. Berlin: Akademie Verlag 2013, 415 Seiten.

2013
Martin Schneider
Rezensionen Meike Wagner. Theater und Öffentlichkeit im Vormärz. Berlin, München und Wien als Schauplätze bürgerlicher Medienpraxis. Deutsche Literatur. Studien und Quellen 11. Berlin: Akademie Verlag 2013, 415 Seiten. Die Habilitationsschrift der in Stockholm lehrenden Theaterwissenschaftlerin Meike Wagner widmet sich mit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer Epoche der deutschen Theatergeschichte, die in der Forschung bislang wenig Interesse auf sich gezogen hat. Die Zeit, die auf die Etablierung der Nationaltheater und die Dramen Lessings, Goethes und Schillers folgt, gilt immer noch als Phase der Epigonalität und des ästhetisch minderwertigen Unterhaltungs- und Kommerztheaters. In theaterhistorischer Perspektive setzt eine neue Phase erst mit der Bühnenreform Richard Wagners und damit in der Zeit nach 1848 ein. Nach der Lektüre von Wagners Studie wird man dieses Urteil revidieren müssen. Ihr wesentliches Anliegen ist die Verortung des Theaters des Vormärz „ in der medialen und gesellschaftlichen Moderne “ (S. 33). Sie zeigt, dass von der Bühne der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts innovative Impulse ausgingen und sich neue Theaterformen ausbildeten, die auf die Umstrukturierung der Öffentlichkeit und ihrer Medien zurückzuführen sind. Sie bewegt sich damit im Kontext des wieder erwachten Interesses an theatraler Öffentlichkeit, von dem Studien wie Patrick Primavesis Das andere Fest (2008) und Christopher Balmes The theatrical public sphere (2014) zeugen. Zunächst unterzieht die Autorin verschiedene Theorien der Öffentlichkeit, von Kant über Habermas bis Luhmann, einer kritischen Überprüfung. Ins Zentrum rückt das Phänomen „ konkurrierender Öffentlichkeiten “ (S. 46). Sie sollen als Raum begriffen werden, „ in dem eine kulturelle und ideologische Auseinandersetzung “ stattfinden kann (S. 50). Diese Öffentlichkeiten werden jedoch mit staatlichen Institutionen konfrontiert, die ihre Tendenz zur Auflösung sozialer Herrschafts- und Klassenverhältnisse zu regulieren versuchen. Presse und Theater funktionieren im Vormärz „ flächig “ (S. 64), sie erfassen zunehmend untere Gesellschaftsschichten. Die Behörden reagieren mit Disziplinierungs- und Zensurversuchen. Demgegenüber propagiert der progressive und liberale Theaterdiskurs des Vormärz das Theater als politisches und öffentliches Medium. Die deutschen Bühnen sollen nicht mehr der staatlichen Repräsentation dienen, sondern Teil des medialen Zirkulationsprozesses der Öffentlichkeit werden. Sozialhistorische Grundlage sind die Expansion von Zeitungen und Zeitschriften, technische Neuerungen wie die Schnellpresse, innovative Distributionswege wie Straßenzeitungen sowie das neue berufliche Selbstverständnis von Journalisten. Der strukturelle Wandel der Öffentlichkeit im Vormärz bewirkt eine „ zunehmende Durchlässigkeit zwischen den Medien Theater und Zeitung “ (S. 111), Theater wird zum öffentlichen Medium, Journalismus wird theatral. Kernstück des Buches sind die Fallstudien der städtischen Theaterlandschaften in Berlin, München und Wien. Wagner beschreibt, wie sich im Wechselspiel von Konfliktaustragung, staatlicher Regulierung und Performativität unterschiedliche Formen von Öffentlichkeit herausbilden. Das Berlin gewidmete Kapitel macht dabei die Akteure theatraler Öffentlichkeit - Direktion, Behörden, Journalisten, Autoren, Schauspieler, Publikum - und ihre medienpolitischen Strategien sichtbar. Die Analyse erfolgt anhand öffentlicher Auseinandersetzungen um das königliche Theater und das königsstädtische Theater. Wagner zeigt, dass die Behörden zwischen der „ produktiven öffentlichen Kritikfunktion “ der Presse (S. 148) und dem Schutz des Theaters als staatlicher Institution abwägen mussten. Journalisten wie Moritz Saphir, die scharfe Kritik an den Berliner Theatern übten, bedienten sich gekonnt der neuen Möglichkeiten der Presse. Saphir schrieb „ für ein breites Publikum, verständlich, aktuell und orientierend “ (S. 153). Dies zwang die Theaterdirektionen, Medienpolitik zu betreiben, auf beiden Seiten des Konfliktfeldes kommt es zu einer „ gesteigerten Medienkompetenz “ (S. 159). Forum Modernes Theater, 28/ 2 (2013 [2018]), 205 - 206. Gunter Narr Verlag Tübingen Die Untersuchung der Theaterkultur Münchens zeigt, wie egalitäre und elitäre Konzeptionen von Öffentlichkeit in Konkurrenz treten, untere Gesellschaftsschichten in das Theater einbezogen oder von ihm ausgeschlossen werden, was die Zensurbehörden wie schon in Berlin vor eine komplexe Aufgabe stellt. Dabei tritt die „ institutionelle Funktion “ (S. 252) unterschiedlicher städtischer Theaterformen zu Tage. Vor allem die Liebhabertheater, durch die Handwerker, Studenten, Staatsdiener und Geistliche an der Theateröffentlichkeit partizipieren, drohen durch ihre „ Überschreitung der Klassenzugehörigkeit “ die soziale Ordnung zu stören (S. 249). Am Isarthor-Theater wiederum lässt sich das Zusammenspiel von bürgerlicher und höfischer Einflussnahme bei der Herausbildung des Theaters als öffentlicher Institution beobachten. Es kommt, in erster Linie aufgrund der Kombination staatlicher und privater Finanzierung, zu einer „ Mischform des Hof- und Privattheaters “ (S. 264). Im Zentrum der letzten Fallstudie steht die performative Konstitution von Theateröffentlichkeit während der Revolution in Wien 1848 und die Rolle der Vorstadttheater bei der Etablierung einer Versammlungsdemokratie. Es wird deutlich, wie die Bühnen theatrale Elemente studentischer Straßen-Politik und der Kaffeehaus-Öffentlichkeit durch die „ Herstellung einer kollektiven Performativität “ und „ die symbolische Darstellung einer politischen Gruppenzugehörigkeit “ (S. 316) produktiv aufnehmen. Damit in Verbindung steht die Politisierung der Presse. Bäuerles Allgemeine Theaterzeitung und Saphirs Humorist versuchen, „ sich imitierend an eine Versammlungsöffentlichkeit anzunähern “ (S. 319). Davon ist auch die Dramenproduktion betroffen. Während ein Erfolgsstück wie Benedix ’ Das bemooste Haupt zu spontanen Gemeinschaftsstiftungen im Publikum führt, bringt Johann Nestroys Freiheit in Krähwinkel die performativen Praktiken der Revolution „ wieder zurück in den repräsentativen Rahmen “ (S. 391). Eine der Stärken der Studie ist der Einbezug zahlreicher, bislang unerschlossener Archivmaterialien, die die Autorin zur Analyse der Fallbeispiele heranzieht. Ihre Einordnung in einen anspruchsvollen theoretischen Rahmen gelingt auf souveräne Weise. Wagner schafft es, sämtliche Facetten der Theateröffentlichkeit des Vormärz zu beleuchten: die institutionellen Reformen ebenso wie die Verbindung von Bühne und Presse, die Rollen der verschiedenen Akteure und der dramatischen Werke. Der einzige methodische Vorwurf, den man dieser Arbeit machen könnte, ist die teilweise zu starke Personen- und Ereignisbezogenheit ihrer Analyse. In einigen wenigen Abschnitten verliert sie sich zu stark in die Rekonstruktion der Konflikte zwischen einzelnen Akteuren. Ein weiteres Manko besteht in der fehlenden Auseinandersetzung mit der institutionengeschichtlichen Studie Hoftheater von Ute Daniel, die nur in einer Fußnote kurz erwähnt wird (S. 224). Diese Einwände können aber die herausragende Leistung der Arbeit nicht schmälern. Meike Wagner hat eine überzeugende Gesamtdarstellung des deutschsprachigen Theaters des Vormärz vorgelegt. Und nicht nur das: Ihre „ mediale[ ] Theaterhistoriographie “ (S. 33) ist methodisch innovativ, ermöglicht sie doch, Theater als politische Institution und öffentliches Medium zu begreifen, ohne Performativität und Ästhetik zu vernachlässigen. Von hier aus eröffnen sich neue Perspektiven auf das Verhältnis von Theater und Öffentlichkeit in anderen Zeiträumen. Vor allem aber ist zu hoffen, dass die von ihr geleistete Verknüpfung von quellennaher Archivarbeit und avancierter Theoriebildung in der Theaterwissenschaft Nachfolger findet. Hamburg M ARTIN S CHNEIDER Christian Grüny und Matteo Nanni (Hg.). Rhythmus - Balance - Metrum. Formen raumzeitlicher Organisation (= Edition Kulturwissenschaft Band 30). Bielefeld: transcript 2014, 214 Seiten. Der Sammelband Rhythmus - Balance - Metrum, der auf eine internationale Tagung im Kontext des NFS eikones/ Bildkritik an der Universität Basel zurückgeht, denkt über den Rhythmus als einer raumzeitlichen Organisationsform in unterschiedlichen Kontexten, den Künsten, Philoso- Forum Modernes Theater, 28/ 2 (2013 [2018]), 206 - 208. Gunter Narr Verlag Tübingen 206 Rezensionen