eJournals Forum Modernes Theater 28/2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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Bei Boris Nikitins Inszenierung Das Vorsprechen (2015) an den Münchner Kammerspielen handelt es sich nicht nur um ein ‚kritisches‘ Kunstereignis im Sinne der Institutional Critique, sondern zugleich auch um eine ‚reale‘ Vorsprechsituation. Vertreten sind dabei alle Organisationen und individuellen Akteur/innen, die durch ihre Praktiken die Institution des deutschen Sprechtheaters alltäglich re/produzieren: Schauspiel(hoch)schulen, Künstlervermittlungen, Theaterhäuser sowie professionelle und nicht-professionelle Zuschauer/innen. In einer doppelten Lesart dieser Inszenierung geht der Beitrag daher der These nach, dass auch die ‚Objekte‘ und die Praktiken der Beurteilung bzw. der Kritik in diesem Feld nicht autonom sind, sondern bestimmten Legitimitätsprinzipien folgen. Hierfür wird ausgehend von dem den soziologischen Neoinstitutionalismus einst mitbegründenden Konzept des organisationalen Feldes von Paul DiMaggio undWalter Powell ein theoretischer Bezugsrahmen zur empirischen Erforschung von Theater als Institution umrissen.Weiterhin wird die Institutionalisierung des Strukturelements „IVO“ nachgezeichnet und die Darstellungs- und Bewertungspraxis von professionellen Schauspieler/innen beim Übertritt vom Studium in den Beruf anhand von empirischen ‚Daten‘ analysiert. Zur Veranschaulichung des komplexen Verhältnisses von Legitimität und institutionellem Wandel dient dabei die gegenwärtig zu beobachtende De-Institutionalisierung von Ethnizität.
2013
282 Balme

Autonome Kunst?

2013
Hanna Voss
Autonome Kunst? - Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater Hanna Voss (Mainz) Bei Boris Nikitins Inszenierung Das Vorsprechen (2015) an den Münchner Kammerspielen handelt es sich nicht nur um ein ‚ kritisches ‘ Kunstereignis im Sinne der Institutional Critique, sondern zugleich auch um eine ‚ reale ‘ Vorsprechsituation. Vertreten sind dabei alle Organisationen und individuellen Akteur/ innen, die durch ihre Praktiken die Institution des deutschen Sprechtheaters alltäglich re/ produzieren: Schauspiel(hoch)schulen, Künstlervermittlungen, Theaterhäuser sowie professionelle und nicht-professionelle Zuschauer/ innen. In einer doppelten Lesart dieser Inszenierung geht der Beitrag daher der These nach, dass auch die ‚ Objekte ‘ und die Praktiken der Beurteilung bzw. der Kritik in diesem Feld nicht autonom sind, sondern bestimmten Legitimitätsprinzipien folgen. Hierfür wird ausgehend von dem den soziologischen Neoinstitutionalismus einst mitbegründenden Konzept des organisationalen Feldes von Paul DiMaggio und Walter Powell ein theoretischer Bezugsrahmen zur empirischen Erforschung von Theater als Institution umrissen. Weiterhin wird die Institutionalisierung des Strukturelements „ IVO “ nachgezeichnet und die Darstellungs- und Bewertungspraxis von professionellen Schauspieler/ innen beim Übertritt vom Studium in den Beruf anhand von empirischen ‚ Daten ‘ analysiert. Zur Veranschaulichung des komplexen Verhältnisses von Legitimität und institutionellem Wandel dient dabei die gegenwärtig zu beobachtende De- Institutionalisierung von Ethnizität. Von Institutional Critique zu Theater als Institution Zu Beginn dieses Beitrags über Legitimität und institutionellen Wandel im deutschen Sprechtheater sei zunächst ein ‚ Spot ‘ auf eine Inszenierung gerichtet, die thematisch der Institutional Critique zugerechnet werden kann - einem Genre, das sich seit den 1960er-Jahren in den Bildenden Künsten etabliert hat und das die eigenen, institutionalisierten Produktions- und Rezeptionsbedingungen aus- und damit zugleich in Frage stellt. 1 Bei der betreffenden Inszenierung des Schweizer Regisseurs und Kurators Boris Nikitin handelt es sich um eine Koproduktion der Münchner Kammerspiele und der Münchner Otto Falckenberg Schule aus der Spielzeit 2015/ 2016, ihr Titel lautete: Das Vorsprechen. Die hierfür grundsätzlich nach dem Prinzip einer schlichten Guckkastenbühne eingerichtete Kammer 2 der Kammerspiele wies dabei jedoch eine Besonderheit auf: Zwischen der ersten Reihe der Zuschauertribüne und der nur leicht erhöhten, fast ebenerdigen leeren Spielfläche standen sechs kleine Tische mit je einem Stuhl dahinter. An diesen Tischen saß zu Beginn der Premiere am 3. November 2015 je eine Person, den Blick auf die Spielfläche und den Rücken den Zuschauer/ innen zugewandt; vor sich auf dem Tisch: Zettel, Papiere, Broschüren und Schreibmaterial. An den beiden Seiten der Spielfläche standen im hinteren Bereich Instrumente und Requisiten und vorne jeweils mehrere Stühle, die größtenteils von jungen Erwachsenen besetzt waren. Diese blickten ebenfalls auf die Spielfläche oder unterhielten sich leise. Forum Modernes Theater, 28/ 2 (2013 [2018]), 143 - 159. Gunter Narr Verlag Tübingen Der zunächst hell erleuchtete Saal verdunkelte sich dann und auf die große Leinwand am linken ‚ Ende ‘ der Spielfläche wurde ein Video projiziert: In relativ schnellen Wechseln sinnieren darin zehn junge Erwachsene, die anscheinend mit den an der Seite der Spielfläche befindlichen identisch sind, über die Frage: „ Was ist Schauspiel? “ Begleitet von flotter, rhythmischer Musik wird auf der Leinwand danach sukzessive der folgende Text sichtbar: Guten Abend | Herzlich Willkommen zu | DAS VORSPRECHEN | Die Besetzung | Philipp Basener | Jonathan Berlin | Daniel Gawlowski | Bastian Hagen | Colin Hausberg | Nurit Hirschfeld | Merlin Sandmeyer | Maike Schroeter | Irina Sulaver | Caroline Tyka | Die Schauspieler wurden in den letzten drei Jahren an der Otto Falckenberg Schule ausgebildet. | Heute ist ihr Abschlussvorsprechen, genannt IVO. | Normalerweise besteht das Publikum des IVO ausschließlich aus Theaterprofis. | Sie haben unterschiedliche Bewertungskriterien. | Einerseits sind es physische Kriterien wie Größe, Haarfarbe, Stimme und Geschlecht. | Andererseits weichere Kriterien wie Talent, Ausstrahlung, Handwerk und Präsenz. | Heute ist das Publikum des IVO gemischt. | Die Kriterien auch. | Manche der Schauspieler werden nach dem heutigen Abend vielleicht ein Angebot erhalten. | Die folgenden Szenen haben die Schauspieler mit ihren Rollenlehrern angelegt. 2 Es folgt eine Aufblendung auf der Bühne und auf der Leinwand erscheint: „ Erstes Vorsprechen “ und dann „ Merlin Sandmeyer als LDF. Aus: ‚ Einige Nachrichten an das All ‘ von Wolfram Lotz “ . Daraufhin betritt ein junger Mann von rechts zögerlich die Bühne und beginnt eine Szene zu spielen bzw. ist bereits mittendrin. Unterbrochen von einer Pause, folgen diesem ersten „ Vorsprechen “ an dem rund dreistündigen Theaterabend zehn weitere „ Vorsprechen “ , überwiegend Solo-Szenen aus dem klassischen, modernen oder zeitgenössischen Repertoire, oftmals kombiniert mit Liedern. Die Zuschauer/ innen können dies nicht nur anhand der entsprechenden Einblendungen, sondern auch mithilfe einer dem Programmheft beiliegenden Szenen-Übersicht mitverfolgen. Dabei arbeitet die Inszenierung jedoch vor allem am Anfang mit der Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion, sodass in manchen Momenten unklar bleibt, ob die angeblichen Absolvent/ innen nun gerade als sie ‚ selbst ‘ oder bereits als eine der angekündigten Figuren agieren. Zwischen den einzelnen „ Vorsprechen “ werden darüber hinaus vier weitere Videos eingespielt, in denen sie sich in scheinbar privater Manier über ihr zukünftiges Leben als Schauspieler/ innen und ihre diesbezüglichen Vorstellungen und Ängste äußern. So hört man etwa: „ Es kommen ja viel weniger Intendanten und Dramaturgen her. “ , „ An dieser Schule ist ja die. . . ähm. . . Rate, wie man da verkauft wird, ja auch relativ hoch. “ und „ Es gibt doch auch, also es gibt doch nicht nur IVO und dann Festengagement, es gibt doch auch Gastverträge. “ Spätestens während eines fünften tonlosen Videos mit Porträtaufnahmen verlassen alle den Saal durch eine Tür in der Bühnenrückwand, um sich kurz darauf gemeinsam vor den applaudierenden Zuschauer/ innen sowie den sechs separiert an den Tischen sitzenden Personen zu verbeugen. Letztere haben sich über die gesamte Aufführung hinweg mal mehr, mal weniger Notizen gemacht, die in ihrem Rücken befindlichen und im Gegensatz zu ihnen im Dunkeln sitzenden Zuschauer/ innen weitgehend ignorierend. Doch, was hat es mit diesen räumlich exponierten ‚ Beobachtern ‘ auf sich? Ein Text im Programmheft gibt hierzu einen ersten Hinweis: Jeden Herbst reisen Intendant/ innen und Dramaturg/ innen umher, um die jüngsten Abschlussjahrgänge der Schauspielschulen zu bewerten und den Absolventen am 144 Hanna Voss Ende ein Tauschgeschäft anzubieten: Du gibst mir Deine Suggestionskraft und ich zahle Dir Deine Miete. Die hoch konventionalisierte Vorsprechsituation, die jahraus jahrein hinter verschlossenen Türen stattfindet, wird nun selbst zum Schauobjekt. Theaterzuschauer/ innen gucken gemeinsam mit den Profis aus Intendanz und Dramaturgie auf das Ergebnis der jahrelangen Ausbildung. Wie blickt man richtig? Und wessen Urteil stimmt am Ende? 3 Konkreter ist dagegen die Ankündigung der Produktion im Spielzeitheft der Münchner Kammerspiele, denn hier heißt es: Nicht nur angehende Schauspieler sind Teil des Settings. Ihnen gegenüber sitzen die Dramaturgen, Intendantinnen und Agenten. Die Anwesenheit ihres ‚ professionellen Blicks ‘ bringt die Frage nach den Kriterien hervor, mit denen die Qualität des Schauspiels bewertet wird. So schaut das Publikum des Stücks nicht nur den Schauspielerinnen und Schauspielern bei ihrer Arbeit zu. Ebenso im Blick sind die professionellen Zuschauer, die Gegenseite des Schauspielens - ihre beruflich bedingten Weisen des Wahrnehmens und Bewertens. 4 Und im Radio hatte Nikitin laut einem Rezensenten behauptet, „ an den Tischen vor der ersten Reihe werde ‚ professionelles Publikum sitzen ‘“ . 5 Dies wurde im Vorfeld der von mir besuchten und zugleich letzten Aufführung am 20. April 2016 seitens der Produktionsdramaturgin Katinka Deecke im Rahmen der Einführungsveranstaltung ebenfalls betont - verbunden mit der Aufforderung, „ die Bewerter “ zu beobachten und „ sich vorzustellen, wie dieser Zuschauer guckt und nach welchen Kriterien er bewertet “ . 6 Den Zuschauer/ innen wird damit im Sinne Niklas Luhmanns also explizit die Rolle eines Beobachters 2. Ordnung zugedacht, wobei sie gleichzeitig Teil der Aufführung und somit Teil des Systems sind. 7 Nikitin selbst bezeichnet Das Vorsprechen als ein „ Readymade “ , womit er sein inszenatorisches Konzept in der kunsthistorischen Tradition des Objet trouvé verortet. Dies wurde sowohl im Programmheft als auch medial aufgegriffen: In ‚ Das Vorsprechen ‘ steht nun das reale Vorsprechen des Abschlussjahrgangs der Otto Falckenberg Schule als zur Theateraufführung umgedeutetes ‚ ready made ‘ auf dem Programm der Münchner Kammerspiele. 8 Beziehungsweise: Ein ‚ Readymade ‘ nennt der Schweizer Theatermacher sein Projekt ‚ Das Vorsprechen ‘ , bei dem eine ohnehin stattfindende, quasi fertig vorgefundene Bühnenpräsentation insgesamt zum Kunstwerk erklärt und ausgestellt wird. 9 Doch einmal davon abgesehen, dass eine Aufführung sich durch ihre Ereignishaftigkeit gerade dem Objektstatus entzieht, gehen die propagierte Selbstverortung des Regisseurs und die daran anknüpfende Beschreibung des hier zitierten Münchner Merkur nicht voll auf. Denn Nikitin hat in diese „ hoch konventionalisierte Vorsprechsituation “ 10 durchaus inszenatorisch eingegriffen: So spielen die Absolvent/ innen bei diesen Veranstaltungen üblicherweise zwei bis drei kleinere Szenen anstelle einer großen, es gibt normalerweise keine Einspielungen von ‚ privatem ‘ Filmmaterial und auch das professionelle Publikum ist räumlich nicht exponiert, sondern mischt sich im Zuschauerraum mit dem nicht-professionellen Publikum. Letzteres hat nämlich sehr wohl Zutritt zu diesen Absolventenvorsprechen, die jedoch normalerweise nur im Veranstaltungskalender der jeweiligen Schauspiel(hoch)schule angekündigt werden und in der Regel auch keinen Eintritt kosten. Diese Unterschiede sind für die Zuschauer/ innen jedoch nicht unbedingt ersichtlich, so schreibt etwa der Münchner Merkur: 145 Autonome Kunst? - Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater Im Theater gibt es das Prinzip Casting-Show schon ewig, nämlich jedes Jahr im Herbst, wenn die Absolventen der großen Schauspielschulen beim Intendantenvorsprechen (IVO) vor den Chefs und Oberdramaturgen der Theater Proben ihres Könnens geben. Woraufhin die Mächtigen, die an Tischchen neben der Spielfläche sitzen und sich Notizen machen, dem einen oder anderen der hoffnungsvollen Nachwuchsmimen tatsächlich ein Engagement anbieten. Erstaunlich, dass bisher noch keiner darauf gekommen ist, zum IVO auch ganz normale Zuschauer reinzulassen. 11 Während die Aufnahme der für ‚ Theaterleute ‘ eigentlich alltagsweltlich gerahmten Vorsprechsituation in den Spielplan der Kammerspiele und der Verkauf von Eintrittskarten diese also einerseits als ‚ Kunst ‘ rahmen, thematisiert Nikitin andererseits den ursprünglichen Alltagsrahmen und zwar mittels der beschriebenen inszenatorischen Eingriffe und insbesondere mittels der eingeblendeten Texte. Und durch diese Markierung des ‚ Alltagsgegenstandes ‘ thematisiert er im Sinne der Institutional Critique zugleich auch den für diese Situation konstitutiven Vorgang der Bewertung - das Urteilen und die diesem Urteil zugrunde liegenden Kriterien. Oder anders formuliert: Bei Das Vorsprechen handelt es sich aus dieser Perspektive um eine latente Kritik an den im deutschen Sprechtheater gängigen Strukturen und Praktiken der Bewertung von professionellen Schauspieler/ innen beim Übertritt vom Studium in den Beruf und damit um ein Beispiel für Theater als kritische Praxis. 12 Im Folgenden möchte ich mich jedoch weder gemäß der mir in diesem Konzept eigentlich zugedachten Rolle eines Beobachters 2. Ordnung mit den hier ausgestellten Praktiken der Bewertung seitens der Intendant/ innen, Dramaturg/ innen und Agent/ innen befassen - zumal man über diese eigentlich nichts erfährt. Auch, weil es sich bei den angeblich professionellen Zuschauer/ innen an den „ Tischchen “ um Statist/ innen gehandelt hat. Die ‚ echten ‘ Bewerter/ innen saßen auch hier auf der Zuschauertribüne. 13 Noch möchte ich dieses Beispiel dazu nutzen, die Möglichkeiten und Potentiale von Theater als kritische Praxis (affirmativ) zu reflektieren. Stattdessen begreife ich diese Inszenierung von Nikitin als einen künstlerischen Verdichtungsvorgang, der Anlass gibt, die wissenschaftliche Perspektivierung und Erforschung von Theater als Institution voranzutreiben. 14 Denn er schließt hier quasi alle Organisationen und individuellen Akteur/ innen miteinander ‚ kurz ‘ , die durch ihre Praktiken die Institution des deutschen Sprechtheaters im Sinne eines Komplexes von mehr oder weniger institutionalisierten Strukturelementen und Verhaltensmustern gemäß den hier geltenden Legitimitätsprinzipien alltäglich re/ produzieren. Mit Fokus auf die Berufsgruppe professioneller Schauspieler/ innen sind dies nämlich konkret die (staatlichen) Schauspiel-(hoch) schulen, Künstlervermittlungen, die (öffentlichen) Theaterhäuser sowie professionelle und nicht-professionelle Zuschauer/ innen. 15 Blickt man aus dieser Perspektive nun erneut auf Das Vorsprechen in seiner doppelten Verfasstheit als ‚ reale ‘ Vorsprechsituation und zugleich ‚ kritisches ‘ Kunstereignis, so wird deutlich, dass auch die ‚ Objekte ‘ und Praktiken der Beurteilung bzw. der Kritik in diesem Feld nicht autonom sind, sondern ebenfalls Legitimitätsprinzipien folgen. Die Legitimität hängt dabei jedoch selbst wiederum von einer sich potentiell wandelnden institutionellen Umwelt ab. Um diese These theoretisch wie empirisch zu ‚ unterfüttern ‘ , wird ausgehend von dem den soziologischen Neoinstitutionalismus einst mitbegründenden Konzept des organisationalen Feldes von Paul DiMaggio und Walter Powell in einem ersten Schritt ein theoretischer Bezugsrahmen zur Erforschung von Prozessen der (De-)Institutio- 146 Hanna Voss nalisierung im deutschen Sprechtheater umrissen. In Anknüpfung an Das Vorsprechen als ‚ reale ‘ Vorsprechsituation wird dann in einem zweiten Schritt sowohl die Institutionalisierung des Strukturelements „ IVO “ nachgezeichnet als auch die Darstellungs- und Bewertungspraxis von Schauspieler/ innen beim Übertritt vom Studium in den Beruf anhand von empirischen ‚ Daten ‘ analysiert. Der Fokus liegt dabei aus aktuellem Anlass auf Humandifferenzierungen nach Ethnizität bzw. ‚ Rasse ‘ , da sich so das komplexe Verhältnis von Legitimität und institutionellem Wandel exemplarisch zeigen lässt. 16 Abschließend wird der Blick erneut auf das Das Vorsprechen als ‚ kritisches ‘ Kunstereignis gerichtet und das Selbstverständnis von Theater als kritische Praxis in Bezug auf den theaterpraktischen wie theaterwissenschaftlichen Diskurs reflektiert. Prozesse der (De)-Institutionalisierung in organisationalen Feldern Ende der 1970er-Jahre gaben US-amerikanische Soziolog/ innen den Anstoß für eine Neuausrichtung der Organisationstheorie: den Neoinstitutionalismus. Damit wandten sie sich gegen die bis dahin geltende paradigmatische Annahme, dass die formale Struktur einer Organisation ausschließlich durch die technischen und aufgabenbezogenen Anforderungen bestimmt wird, das heißt auf organisationaler Effizienz beruht. Stattdessen gingen sie davon aus - so John Meyer und Brian Rowan in ihrem diese Forschungstradition begründenden Aufsatz „ Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony “ (1977) - , dass die formale Struktur (auch) auf den institutionell rationalisierten Mythen ihrer Umwelt beruht: Die Organisationen implementierten diese Mythen, um von ihrer Umwelt Legitimität zu erlangen bzw. um diese zu bewahren. Da Legitimität mit dem Erhalt von Ressourcen verknüpft ist, würde diese nämlich als wichtig für das Überleben der Organisationen bewertet. Verbreitete Beispiele für solche Anpassungsprozesse sind etwa der Einsatz von EDV oder die Einrichtung von sozialen Programmen, um als effizientes und modernes Unternehmen wahrgenommen zu werden. 17 Blickt man mit Veronika Tacke auf die theoriehistorische Entwicklung der Organisationssoziologie, die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst in den USA als eigenständige Subdisziplin etablierte, so hat der Neoinstitutionalismus mit dem Problem der Legitimität organisatorischer Strukturen und dem gleichzeitigen Rückbezug auf die Gesellschaft einerseits einen über längere Zeit vergessenen Aspekt wieder aufgegriffen, der in Max Webers Konzeption der Bürokratie als Herrschaftsform zentral war. Andererseits habe der Neoinstitutionalismus das Legitimitätsproblem aber aus dem herrschaftstheoretischen Zusammenhang gelöst und verwende den Begriff heute im unspezifischen Sinne von Akzeptanz. Die Organisation erscheine aus dieser Perspektive daher nicht mehr als „ Ausdruck einer formal rationalen Herrschaftsordnung “ wie bei Weber, sondern nunmehr als „ Ausdruck einer institutionellen Ordnung “ . 18 In den frühen Beiträgen zum Neoinstitutionalismus wird der Legitimitätsbegriff jedoch erstaunlicherweise nicht eigens definiert, sondern bereits von Meyer und Rowan (1977) als ‚ taken for granted ‘ vorausgesetzt. 19 Deshalb sei an dieser Stelle auf die im Diskurs mittlerweile etablierte Definition von Marc Suchman (1995) verwiesen, die in Auseinandersetzung mit einer Vielzahl der bestehenden Ansätze entstanden ist: „ Legitimacy is a generalized perception or assumption that the actions of an entity are desirable, proper, or appropriate within some socially constructed systems of norms, values, beliefs, and definitions. “ 20 Legitimität ist demnach also eine Zuschreibung, die auf den geteilten 147 Autonome Kunst? - Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater bzw. als solche angenommenen Vorstellungen und Überzeugungen bestimmter sozialer Gruppen beruht. 21 Aufgrund der mitunter großen Divergenz zwischen den einzelnen Vertreter/ innen des Neoinstitutionalismus möchte ich mich im Folgenden jedoch auf einen spezifischen Ansatz konzentrieren, der meiner Ansicht nach einen begrifflich wie konzeptuell instruktiven Rahmen zur Erforschung von Theater als Institution bietet. Den Ausgangspunkt von Paul DiMaggios und Walter Powells einflussreichem Aufsatz „ The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields “ (1983) bildet eine nur scheinbar einfache Frage, nämlich: „ What makes organizations so similar? “ 22 Dieser liegt folgende Beobachtung zugrunde: „ Once a set of organizations emerges as a field, a paradox arises: rational actors make their organizations increasingly similar as they try to change them. “ 23 Um dieses Phänomen zu erklären, präsentieren Di- Maggio und Powell sodann ihr Konzept des organisationalen Feldes: By organizational field, we mean those organizations that, in the aggregate, constitute a recognized area of institutional life: key suppliers, resource and product consumers, regulatory agencies, and other organizations that produce similar services or products. The virtue of this unit of analysis is that it directs our attention not simply to competing firms [. . .] or to networks of organization that actually interact [. . .] but to the totality of relevant actors. [. . .] The structure of an organizational field cannot be determined a priori but must be defined on the basis of empirical investigation. Fields only exist to the extent that they are institutionally defined. The process of institutional definition, or ‘ structuration ’ , consists of four parts: an increase in the extent of interaction among organizations in the field; the emergence of sharply defined interorganizational structures of domination and patterns of coalition; an increase in the information load with which organizations in a field must contend; and the development of a mutual awareness among participants in a set of organizations that they are involved in a common enterprise [. . .]. 24 In expliziter Bezugnahme auf die Schriften Max Webers vertreten sie dabei die Ansicht, „ that the engine of rationalization and bureaucratization has moved from the competitive marketplace to the state and the professions [since Weber ’ s time] “ - und zwar vermittelt über die Strukturation organisationaler Felder. 25 So gehen sie des Weiteren davon aus, dass die Strukturation eines solchen Feldes eine spezifische Umwelt (environment) erschafft, die - in einem zweiten Schritt - die Veränderungsfähigkeit der einzelnen Organisationen begrenzt: „ In the initial stages of their life cycle, organizational fields display considerable diversity in approach and form. Once a field becomes well established, there is an inexorable push towards homogenization. “ 26 Und diesen Prozess der Homogenisierung bzw. dessen Ergebnis bezeichnen sie als Isomorphismus (isomorphism). 27 Dabei unterscheiden Di- Maggio und Powell analytisch zwischen drei verschiedenen Mechanismen: We identify three mechanisms through which institutional isomorphic change occurs, each with its own antecedents: 1) coercive isomorphism that stems from political influence and the problem of legitimacy; 2) mimetic isomorphism resulting from standard responses to uncertainty; and 3) normative isomorphism, associated with professionalization. This typology is an analytic one: the types are not always empirically distinct. 28 Auch wenn der Legitimitätsbegriff hier nur in Bezug auf coercive fällt, beschreiben Di- Maggio und Powell mit dem Staat, dem Wettbewerb und den Professionen letztlich 148 Hanna Voss drei verschiedene „ Legitimierungsfaktoren “ , mit deren Hilfe sie „ the definition and elaboration of organizational fields “ und „ the genesis of legitimated models “ zu erklären suchen. 29 Gemäß dem anfänglichen großen Interesse der Neoinstitutionalisten an öffentlichen und gemeinnützigen Organisationen wie Schulen oder Krankenhäusern hat Di- Maggio auch die US-amerikanischen nonprofit resident theatres aus dieser Perspektive untersucht. 30 Hieran anknüpfend schlage ich daher vor, die die Institution des deutschen Sprechtheaters heute alltäglich re/ produzierenden Organisationen und individuellen Akteur/ innen ebenfalls als ein organisationales Feld zu begreifen. Dies wurde in den letzten Jahren - mit je unterschiedlichem ‚ Feldzuschnitt ‘ - auch bereits von dem Arbeitswissenschaftler Axel Haunschild angeregt und von der Kultur- und Wirtschaftswissenschaftlerin Friederike von Cossel im Rahmen einer empirischen Studie zur Spielplangestaltung angewandt. 31 Dieser Ansatz ist dabei jedoch in zweierlei Hinsicht zu ergänzen: Zum einen widmen DiMaggio und Powell dem konkreten Prozess der Institutionalisierung einzelner Strukturelemente konzeptuell nur wenig Aufmerksamkeit. Daher möchte ich in diesem Punkt einem Vorschlag von Pamela Tolbert und Lynne Zucker (1996) folgen, nach dem Institutionalization sowohl das Ergebnis eines Prozesses als auch diesen Prozess selbst bezeichnet, der aus drei Stufen besteht: Habitualization, Objectification und Sedimentation. Hierfür schließen Tolbert und Zucker grundsätzlich an die Wissenssoziologie von Peter Berger und Thomas Luckmann an, übertragen deren akteurszentrierte Überlegungen jedoch auf Organisationen: Habitualisierung meint dann die Generierung neuer Strukturelemente durch eine oder mehrere Organisationen zur Lösung spezifischer Probleme und die formale Implementierung dieser Strukturen. Objektivierung bezeichnet dagegen die Entwicklung eines Organisationen übergreifenden sozialen Konsens bezüglich des Wertes dieser Strukturen und deren zunehmende Adoption durch andere Organisationen bzw. allgemeiner deren Diffusion. Sedimentierung bedeutet schließlich sowohl die nahezu vollständige Verbreitung der Strukturen innerhalb der Gruppe möglicher ‚ Adoptoren ‘ als auch die Fortschreibung dieser Strukturen über eine längere Zeitspanne. Es geht hier also um die historische Kontinuität von Strukturen und deren ‚ Überleben ‘ über mehrere Generationen von Organisationsmitgliedern hinweg. Dementsprechend lässt sich mit Tolbert und Zucker auch zwischen drei unterschiedlichen Graden der Institutionalisierung differenzieren: Pre-, Semi- und Full-institutionalization stage. 32 Zum anderen liefert dieser Ansatz nur wenig Anhaltspunkte zur Erklärung oder Beschreibung von Veränderungen in bereits strukturierten Feldern. So formulieren Di- Maggio und Powell unter Bezugnahme auf Thomas Schelling: „ Organizations in a structured field [. . .] respond to an environment that consists of other organizations responding to their environment, which consists of organizations responding to an evironment of organizations ‘ responses. “ 33 Und auch Tolbert und Zucker merken diesbezüglich nur an, dass eine Umkehrung des Institutionalisierungsprozesses (Deinstitutionalization) zwar möglich sei, aber nur wenn sich die Umwelt fundamental wandle. 34 In diesem Punkt möchte ich mir daher die Erkenntnisse der differenzierungstheoretisch ausgerichteten Professionssoziologie von Bettina Heintz zu Nutze machen. Dadurch wird der konzeptuelle Rahmen bzw. die „ recognized area of institutional life “ 35 zugleich um über Managementpraktiken hinausgehende Verhaltensmuster erweitert und die nachfolgende Analyse der Beurteilung von Schauspieler/ innen beim Über- 149 Autonome Kunst? - Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater tritt vom Studium in den Beruf thematisch vorbereitet. In expliziter Anknüpfung an den soziologischen Neoinstitutionalismus verwendet Heintz den Institutionenbegriff nämlich im Sinne von „ standardisierte[n] und relative[n] stabile[n] Verhaltensmuster[n], die so heterogene soziale Phänomene wie die Ehe, das Parteiensystem, Begrüßungsrituale, Lehrpläne oder Abstimmungsprozeduren umfassen “ . 36 Dabei unterscheidet sie im Anschluss an Ronald Jepperson und Birgitta Nedelmann zwischen der Institution und ihren Reproduktionsmechanismen, wobei Heintz - ähnlich wie Tolbert und Zucker - davon ausgeht, dass „ Institutionen in unterschiedlichem Maße institutionalisiert sein “ können: Die entscheidende Differenz liegt in der Art der Reproduktionsmechanismen. Hoch institutionalisierte Institutionen werden durch habitualisiertes Handeln reproduziert, die Verhaltenserwartungen sind internalisiert und werden nicht weiter in Frage gestellt. Im Falle einer De-Institutionalisierung kommt es zu einer Verschiebung der Reproduktionsmechanismen von routinehaftem Vollzug ( ‚ enacting ‘ ) zu bewusstem und gezieltem Handeln ( ‚ acting ‘ ). Im Zuge dieser Umstellung wird das eigene Handeln zunehmend begründungspflichtig und die Institution verliert ihren überindividuellen Faktizitätscharakter [. . .]. 37 Eine De-Institutionalisierung ist „ folglich nicht gleichzusetzen mit der Auflösung einer Institution, sondern verweist zunächst nur auf eine Veränderung ihrer Reproduktionsmechanismen “ . 38 Dies veranschaulicht Heintz am Beispiel der heute in beruflichen Kontexten prinzipiell gegebenen Illegitimität der Geschlechterdifferenz, die sie ebenfalls als Institution begreift: Da die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern keine legitime Basis mehr hat und entsprechend begründungspflichtig ist, wird die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen nicht mehr routinehaft und selbstverständlich vollzogen. Gleichzeitig kann sie aber nur bei Strafe der Illegitimität über offenkundig gezieltes Handeln hergestellt werden. Wahrscheinlicher ist, dass sie in diesem Fall über Mechanismen reproduziert wird, die im Hintergrund wirken und deren geschlechterdifferenzierende Wirkung nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. 39 Unter diesen Umständen könnten sich Geschlechterhierarchien nur noch „ unter bestimmten Bedingungen “ (sog. Bedingungskonstellationen) aufbauen und stabilisieren. 40 Während die Neoinstitutionalisten um Meyer/ Rowan und DiMaggio/ Powell die Begriffe Legitimacy und Institutionalization nahezu synonym verwenden 41 , bedarf es zur Erforschung von institutionellem Wandel daher einer Unterscheidung zwischen Legitimität, Institution und ihrer Reproduktion. IVO - „ Ohne Ansehen der Person? “ 42 Schenkt man dem Münchner Merkur Glauben, so gibt es das „ Prinzip Casting-Show “ im Theater „ schon ewig “ : „ nämlich jedes Jahr im Herbst, wenn die Absolventen der großen Schauspielschulen beim Intendantenvorsprechen (IVO) vor den Chefs und Oberdramaturgen der Theater Proben ihres Könnens geben. “ 43 Dem ist jedoch nicht so. Vielmehr lässt sich anhand der Institutionalisierung dieses Strukturelements zur ‚ Nachwuchsrekrutierung ‘ die zunehmende Strukturation des organisationalen Feldes exemplarisch nachzeichnen. Eine erste Phase der Verdichtung und Formalisierung der Beziehungen ist dabei in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren zu erkennen. Denn hier wurde nicht nur die Kommunalisierung unserer heutigen Stadt-, Staats- und Landestheater vorangetrieben, sondern nach dem Verbot privater Vermittlungsagenturen ab 1930 auch der sog. „ Bühnennachweis “ von der Reichsanstalt für Ar- 150 Hanna Voss beitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung mit der Vermittlung der Bühnenkünstler/ innen beauftragt. 44 Dieser wurde von den beiden Berufsverbänden GDBA und DBV bereits seit 1919 paritätisch organisiert und hatte nun als landesweit einzige Vermittlungsstelle mit Sitz in Berlin und Außenstellen in Mainz und München zudem „ die besondere Aufgabe der Sorge für den Nachwuchs “ . So sollte, um „ den nicht qualifizierten Zustrom des Nachwuchses zu drosseln “ , Kontakt „ mit guten Lehrern und Schulen “ geschaffen werden. 45 Zum Zwecke der Regulierung hatten GDBA und DBV 1927 auch erstmals Paritätische Prüfungsstellen eingerichtet. 46 Eine zweite Phase der Verdichtung und Formalisierung der Beziehungen, aber auch der Entwicklung eines gemeinsamen ‚ Feldbewusstseins ‘ lässt sich Anfang der 1970er- Jahre festmachen. Peter Lackner beschreibt diesen Zeitraum in seiner ethnographischen Studie zur Schauspielerausbildung folgendermaßen: „ die Kommunikation der Schulen untereinander und mit der Fachwelt hatte sich erstmals sehr intensiviert “ 47 . Ein wichtiges Ereignis stellte in dieser Phase der „ Theaterpädagogische Kongreß “ in Berlin im Juni 1973 dar: „ ein einmaliges und monumentales Treffen von Lehrern, Studenten, Theaterpraktikern, Wissenschaftlern und Kritikern des deutschsprachigen Raumes (minus der DDR) “ 48 . Und hier war auch die Engagementvermittlung ein Thema gewesen, so „ wurden die Vermittlungsorganisationen und Gewerkschaften aufgefordert, für den Übergang ins Erstengagement neue Mechanismen zu entwickeln “ 49 . Denn aus der Dokumentation des Kongresses in Theater heute geht hervor, dass die „ altbekannte Vorsprechpraxis “ zu dieser Zeit immer noch in Einzelvorsprechen an den Theatern bestand, was als psychisch belastend und erniedrigend kritisiert wurde. 50 Infolge dieses Kongresses wurde dann auch die Ständige Konferenz Schauspielausbildung (SKS) gegründet und parallel dazu die seit den 1960er-Jahren in staatlicher Hand befindliche zentrale Künstlervermittlung in Frankfurt am Main (damals: ZBF, seit 2007: ZAV) im Zuge einer organisatorischen Umstrukturierung um Agenturen in Berlin, Hamburg und München erweitert. 51 Folgt man der Studie von Lackner, sprachen die Absolvent/ innen der neun staatlichen bundesdeutschen Schauspiel(hoch)schulen jedoch auch Anfang der 1980er- Jahre grundsätzlich noch direkt an den Theatern vor, mit einer Ausnahme: jene der Münchner Otto Falckenberg Schule. Denn ausgerechnet dort gab es zu dieser Zeit bereits ein „ Intendantenvorsprechen “ . Bruno Dallansky, der die Schule von 1979 bis 1983 leitete, hat diese Veranstaltung 1980 in einem Interview wie folgt beschrieben: Zum Intendantenvorsprechen kommen die meisten wichtigen Intendanten. Wir haben fünf Tage Vorsprechen, wo immer fünfzehn bis zwanzig Leute kommen. Die Studenten spielen fünf Mal in der Woche ihr Programm, plus Sondertermine für manche Intendanten, die in der Woche nicht kommen können. . . Die Schüler müssen nicht von einem Theater zum anderen reisen, sondern können hier abwarten, welche Angebote sie bekommen. 52 Die Praxis, „ jährlich alle Intendanten der bundesdeutschen Bühnen gruppenweise in die Falckenberg-Schule zu einer Betrachtung der Vorführszenen einzuladen “ , habe es zwar auch schon vor Dallanskys Zeit gegeben, war aber laut Lackner mittlerweile aus verschiedenen Gründen kontrovers geworden. Ein Grund lag wohl in der Konkurrenz der Schulen: „ Weil nur diese Schule ein Treffen solcher Art arrangiert, wird allein hierdurch - eher als durch die Leistung der Absolventen - ein Vermittlungsvorzug gegenüber den anderen Schulen geschaffen. “ 53 Heute veranstalten alle der 21 staatlichen Schauspiel(hoch)schulen des deutschspra- 151 Autonome Kunst? - Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater chigen Raumes ein solches Intendantenvorsprechen. Diese Entwicklung - von der Habitualisierung über die hier einsetzende Objektivierung bis hin zu der Sedimentierung einer Struktur und dem generationellen Vergessen ihres ‚ Ursprungs ‘ - kann dabei im Anschluss an DiMaggio und Powell als mimetic isomorphism beschrieben werden: „ Organizations tend to model themselves after similar organizations in their field that they perceive to be more legitimate or successful. “ 54 Das Intendantenvorsprechen wird seit 2005 bzw. 2012 aber zunehmend funktional entlastet: zum einen durch das von der ZAV unterstützte Zentrale NRW- Vorsprechen am Rheinischen Landestheater in Neuss und zum anderen durch die von der SKS organisierten Zentralen Absolventenvorspiele in Berlin und München. Die Absolvent/ innen der staatlichen Schauspiel- (hoch)schulen reisen seither nämlich innerhalb einer Woche im November alljährlich quer durch die Republik, um sich dem Fachpublikum in diesen drei Städten en bloc zu (re)präsentieren. 55 Durch diese Formalisierung und Zentralisierung des Übertritts vom Studium in den Beruf wird anhand der ‚ Nachwuchsrekrutierung ‘ das von Friedemann Kreuder konstatierte paradoxale Spannungsverhältnis zwischen der Transgression und der Reproduktion körperbasierter Humandifferenzierungen nun in besonderer Weise evident: Das Theater ist eine paradoxale Institution. Hinsichtlich ihrer öffentlichen Außenseite - der Aufführungen und ihrer Rezeption - ist sie durch ein künstlerisches Programm der Differenzumschreibung gekennzeichnet, das sich diametral gegen lebensweltliche Einschreibungen richtet, indem es ausgebildeten Schauspieler/ innen temporäre Selbstverwandlungen ermöglicht, die sie dem Publikum vor Augen führen. Hier wird nicht festgestellt, was man ist, sondern dargestellt, was man selbst nicht ist. [. . .] Jedoch hat das Programm der Differenzumschreibung eine institutionelle Kehrseite. Es gerät in Spannung mit einem latenten Konkurrenzprogramm der Infrastruktur von Theater - bestehend aus Schauspielschulen, Künstlervermittlungen, Theaterhäusern und Zuschauer/ innen - das besonders beim Casting von Ensembles wirksam ist: der Typenreproduktion. 56 Denn diese Paradoxie von öffentlicher Außenseite und institutioneller Kehrseite spiegelt sich bereits in dem Programmheft zu Das Vorsprechen deutlich wider, das gleichermaßen für die nicht-professionellen wie die professionellen Zuschauer/ innen gedacht war. So geben hier zwar verschiedene renommierte Theaterpraktiker/ innen subjektiv Auskunft zu der Frage: „ Was sollte ein/ e gute/ r Schauspieler/ in können “ . 57 Jens Hillje äußert diesbezüglich etwa: „ Ein guter Schauspieler muss wissen, was er oder sie erzählen will! “ 58 Doch findet sich hier auch für alle Absolvent/ innen eine standardisierte Doppelseite mit einer Porträtfotografie und den für den Schauspielerberuf offensichtlich relevanten ‚ Daten ‘ : eine Mischung aus Fähigkeiten wie „ Sprachen “ und „ Dialekt “ , den „ im Rollenunterricht gearbeitet[en] “ Rollen, den bisherigen Engagements, aber ebenso physische Eigenschaften, wie sie auch zu Beginn von Das Vorsprechen mit „ Größe, Haarfarbe, Stimme und Geschlecht “ benannt wurden. 59 Und diese Repräsentationsform ist keineswegs zufällig, sondern entspricht grundsätzlich dem gängigen, isomorphen Muster, wie man es sowohl auf den Websites der Schauspiel(hoch)schulen und der privaten wie staatlichen Vermittlungsagenturen als auch in einschlägigen Castingportalen findet. Im Gegensatz zu anderen Feldern der Erwerbsarbeit unserer ‚ modernen ‘ , funktional differenzierten Gesellschaft - wie etwa dem von Heintz untersuchten Feld der Wissenschaft - werden individuelle körperliche Merkmale in Bezug 152 Hanna Voss auf Schauspieler/ innen also nicht einmal versuchsweise professionell übersehen, sondern stellen stattdessen zunächst einmal zentrale Kriterien der funktionalen Anforderung dar: Sie sind institutionalisiert. 60 Die Anführung von Castingportalen mag in diesem Zusammenhang überraschen, doch sind Caster/ innen neben Intendant/ innen, Dramaturg/ innen und Agent/ innen heutzutage eine der Hauptzielgruppen der Absolventenvorsprechen, was jedoch in keinem der offiziellen Ankündigungstexte von Das Vorsprechen thematisiert wird. Dies kann als symbolische Reproduktion des skizzierten organisationalen Feldes interpretiert werden, denn Caster/ innen gehören als Stellvertreter/ innen der Filmbranche - wie auch die privaten Schauspielschulen und die freie Szene - nun einmal nicht zum „ common enterprise “ 61 des deutschen Sprechtheaters dazu. Mit Blick auf das ‚ Außen ‘ bzw. die ‚ Ränder ‘ dieses Feldes sind diese Berufsgruppe und deren ‚ Handwerkszeug ‘ jedoch auch für das Theater von Interesse. So äußerte ein Casting Director in einem Interview: Also es konnte aus dem BVC-Verband [Bundesverband Casting e. V.] keiner sagen, dass er wirklich mal für Geld für ein Staatstheater das Casting gemacht hat. Es ist aber so, dass viele Leute schon mal angerufen worden sind - von mal dem Regisseur, mal dem Dramaturgen, wen auch immer man da halt kannte, irgendwelche Regieassistenten - und gefragt wurde, ob man ihnen nicht helfen könnte. Vor allen Dingen, wenn es sich um Spezialfälle handelt, also, wenn man jetzt Superspecial braucht für eine Rolle. Zum Beispiel wirklich einen Schauspieler, der - weiß ich nicht - vielleicht eine bestimmte körperliche Geschichte hat, wie über Zwei-Meter-Sein, sag ‘ ich jetzt einfach mal, also besonders groß ist, oder halt wirklich, irgendwie, der halt einfach aus China kommen muss, sag ‘ ich jetzt mal, solche Sachen. Also das sind die Punkte, wo wir häufiger gefragt werden [. . .]. 62 Für ihre Recherche nutzen die Caster/ innen überwiegend drei kommerzielle Internet- Castingportale, in denen sich die Schauspieler/ innen selbst ein Profil anlegen können. 63 Und in der Suchmaske des ersten, standardmäßig genutzten Portals erscheint hier neben den Auswahlfeldern „ Mann/ Frau “ , „ Alter “ und „ Körpergröße “ auch das Auswahlfeld „ Ethnie “ . Dabei kann man zwischen elf Kategorien wählen: „ afrikanisch/ afro-amerikanisch “ , „ arabisch/ orientalisch “ , „ asiatisch “ , „ indisch “ , „ keltisch “ , „ mittel-, südamerikanisch “ , „ mitteleuropäisch “ , „ nordeuropäisch “ , „ osteuropäisch “ , „ sonstige “ und „ südeuropäisch “ . Im Gegensatz zu diesem Portal unterscheidet eines der beiden anderen hinsichtlich der Suchkriterien explizit zwischen „ Aussehen “ und „ Fähigkeiten “ . Bemerkenswert ist, dass das Auswahlfeld „ Ethnische Typen “ innerhalb des Bereiches „ Aussehen “ mit insgesamt 40 Kategorien am breitesten differenziert ist, wobei die Spannbreite von „ Aborigines “ , „ Amerikanischer Indianer “ , „ Asiat/ Fernost “ und „ Germanisch “ über „ Mediterran (dunkel) “ , „ Mediterran (hell) “ und „ Mongole “ bis hin zu „ Rothaarig-Sommersprossig “ , „ Schwarzafrikaner “ „ Türkisch/ Kurdisch “ und „ Weiss [sic! ] “ reicht. 64 Durch die Subsumption unter „ Aussehen “ und bei näherer Betrachtung der einzelnen Kategorien wird nämlich deutlich, dass es hier eigentlich nicht um Ethnien geht - im Sinne einer „ imaginierte[n] Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die auf einem Glauben an geteilte Kultur und gemeinsame Abstammung beruht “ - , sondern um die „ unmittelbarer an den Körpern ansetzende, gröbere Klassifikation [nach ‚ Rassen ‘ ], die seit dem späten 19. Jahrhundert als biologisch verankerter Marker imaginiert wird “ . 65 Doch ausgerechnet in Bezug auf Ethnizität bzw. ‚ Rasse ‘ finden sich solche erhärteten, objektiv gegebenen isomorphen Strukturen gerade nicht in den Repräsentationen der Schauspiel(hoch)schulen und der 153 Autonome Kunst? - Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater privaten wie staatlichen Vermittlungsagenturen wieder - zumindest nicht in den allgemein zugänglichen Bereichen. Sei es aufgrund der hier überwiegenden Fokussierung auf konkrete, individuelle Personen, sei es aufgrund der starken Asymmetrie dieser Differenz, wodurch es viele ‚ normale ‘ und verhältnismäßig wenige ‚ ethnische ‘ Schauspieler/ innen gibt, oder sei es aufgrund des hier vielleicht bereits greifenden gesetzlichen und gesellschaftlich auch verankerten Diskriminierungsverbotes. Und dies wäre ja auch nur konsequent, blickt man auf den in Theaterkreisen allseits bekannten Diskurs, der sich gegen die als ethnisch bzw. rassisch diskriminierend wahrgenommenen Einstellungs-, Besetzungs- und Darstellungspraktiken im deutschen Sprechtheater wendet und der sich in den letzten zehn Jahren zunehmend etabliert hat. Hervorzuheben sind in diesem Kontext das Schauspiel Köln mit seiner „ Migrantenquote “ unter der Intendanz von Karin Beier (2007 - 2013), das 2008 unter der Leitung von Shermin Langhoff neu eröffnete „ postmigrantische “ Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg, die Blackfacing-Debatte seit Beginn des Jahres 2012 und das „ neue deutsche “ Berliner Maxim ‚ Gorki ‘ Theater unter der Intendanz Langhoff/ Hillje seit der Spielzeit 2013/ 2014. 66 Zur Debatte steht dabei letztlich die Funktionalität dieses Merkmals, dessen Status als relevantes Kriterium, dessen Legitimität. Dieser Wandel der institutionellen Umwelt lässt sich im Anschluss an Heintz als Prozess der De-Institutionalisierung begreifen, ausgelöst durch Diffusionsprozesse aus anderen gesellschaftlichen Feldern bzw. von den ‚ Rändern ‘ des Feldes her. Dass Ethnizität bzw. ‚ Rasse ‘ im organisationalen Feld des deutschen Sprechtheaters heute trotz dieses Diskurses nämlich alltäglich re/ produziert wird, spiegelt sich besonders deutlich darin wider, dass die ZAV- Künstlervermittlung im Bereich Schauspiel/ Bühne Ethnizität bzw. Hautfarbe in Bezug auf Schauspieler/ innen intern standardmäßig erfasst. Aber auch in der konkreten Vermittlungspraxis dieser staatlichen Behörde stellt dieses „ Merkmal “ - wie ich in meinem Aufsatz „ Schauspieler/ innen zwischen Institution und Profession “ (2017) bereits ausführlicher gezeigt habe - ein relevantes, da „ für den Beruf erforderlich- [es] “ Kriterium dar. So werden Schauspieler/ innen hier gemäß den professionellen Wissensbeständen der Vermittler/ innen und den (vermuteten) Wünschen der potentiellen Arbeitgeber/ innen teilweise bereits im Vorfeld entlang ethnischer bzw. ‚ rassischer ‘ Merkmale selektiert. 67 Teil dieses spezifischen De-Institutionalisierungsprozesses ist anscheinend jedoch auch die rasche Aufnahme dieser sich zunehmend etablierenden Kritik in das thematisch reiche Repertoire von Theater als kritische Praxis. So avanciert der Slogan „ Theater & Ethnizität “ nicht nur in Berlin zu einem neuen Trend. Dies zeigte sich auch beim 12. Zentralen NRW-Vorsprechen, das in Neuss vom 14. bis 18. November 2016 stattfand. Während die Absolvent/ innen hier erwartungsgemäß durchgängig in geschlechterkonformen Rollen auftraten, präsentierten die wenigen ‚ ethnischen ‘ Absolvent/ innen zu meiner Überraschung Ethnizität größtenteils gezielt als Teil ihres Selbstbildes und zwar in jeweils nur einer ihrer Rollen. Das Spektrum reichte dabei von der Anreicherung ‚ ethnisch neutraler ‘ Rollen um muttersprachliche Einsprengsel, über die Auswahl ‚ ethnischer ‘ Rollen bis hin zu selbst geschriebenen, scheinbar autobiografischen Szenen: Eine asiatisch aussehende Absolventin trat auf der Bühne als Shen Te aus Brechts Der gute Mensch von Sezuan in Erscheinung - komplettiert durch ein entsprechendes Kostüm und chinesischen Gesang. Ein schwarzer Absolvent spielte die Rolle des missgestalteten Franz Moor aus Schillers Die Räuber, das Außenseitertum der Figur mit Verweis auf sein „ Mohrenmaul “ und seine 154 Hanna Voss „ Hottentottenaugen “ markierend. Und ein anderer Absolvent (re)präsentierte sich mit einem selbstgeschriebenen Monolog, in dem er über Identitätsfragen philosophierte und seine eigene Stellung als ‚ Türke ‘ in der Gesellschaft und im Theater spielerisch thematisierte. 68 Fazit: „ Brisantes aus der Firma “ 69 Doch auch Das Vorsprechen selbst ist mit Blick auf die skizzierte These erkenntnisreich. Denn es ist keineswegs zufällig, dass die Münchner Kammerspiele den Blick der Zuschauer/ innen mit Nikitins „ Readymade “ gleich in der ersten Spielzeit unter der Intendanz von Matthias Lilienthal auf die Produktionsbedingungen von Theater lenken - man denke etwa an das Anfang 2015 gegründete ensemble-netzwerk. So resümiert auch der Münchner Merkur: Hochbrisant wirkt dieser Abend [. . .], weil das, was hier vorgeführt wird, ja nicht die gezeigten (und durchaus unterhaltsamen) Talentproben der Absolventen sind, sondern vielmehr der schamlos durchgezogene Ausleseprozess mit seinem Machtgefälle. Über Erfolg und Arbeitslosigkeit wird entschieden, wie anderswo beim Bewerbungsgespräch. Warum jedem ‚ kritisch-engagierten ‘ Theater häufig der Hautgout der Heuchelei anhaftet, wird klar: Das Theater ist auch nur eine Firma, in der der Chef die Leute einstellt und rausschmeißt, wo also nach den Prinzipien verfahren wird, die man auf der Bühne inbrünstig anklagt und entlarvt. Insofern wirkt Nikitins erhellendes Projekt auch als Entlastungsmaßnahme, um das schlechte Gewissen der Entscheider zu dämpfen, die ahnen, dass sie just jene Machtstruktur präsentieren, gegen die sie mit ihren Spielplänen zu stänkern vorgeben. 70 Sowohl das ‚ Objekt ‘ als auch die Praktiken dieser Kritik, nämlich die Produktionsbedingungen von Theater und die gewählte Ästhetik einer Ununterscheidbarkeit von Realitäts- und Fiktionsebenen, Rahmen und Modulationen, sind (mittlerweile) vielmehr Teil dieser institutionellen Umwelt. 71 Bemerkenswert ist dabei, dass der ‚ Zugriff ‘ der Institutional Critique hier zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu welchem der Zenit des IVO als zentrales (Re-)Präsentationsforum eigentlich bereits überschritten ist. Denn mit den Zentralen Absolventenvorspielen erfolgt die (Re-)Präsentation spätestens seit 2012 in einem noch stärker den Logiken des Marktes gehorchenden und den Warencharakter von Kunst und Künstler/ innen widerspiegelnden Rahmen, der dabei zugleich die historisch gewachsenen und alltäglich re/ produzierten Grenzen des organisationalen Feldes deutlich markiert. Aus dieser Perspektive, um das Argument noch weiter zuzuspitzen, erscheint aber auch das Selbstverständnis von Theater als kritische Praxis bloß noch als ein Teil der Institution „ Sprechtheater “ , der zu deren Legitimierung nach ‚ Innen ‘ sowie nach ‚ Außen ‘ dient. Dabei macht diese Institutionalisierung auch vor der Theaterwissenschaft als fachliche Disziplin nicht Halt. Es wäre jedoch für die wissenschaftliche Praxis erkenntnisgewinnträchtig, die eigene Position als Beobachter 2. oder höherer Ordnung hinsichtlich ihrer „ blinden Fleck[en] “ kritisch zu reflektieren 72 und die Betrachtung - in Abhängigkeit von dem jeweiligen Erkenntnisinteresse - auf die institutionellen Umwelten der theatralen Ereignisse und deren organisationale Strukturen auszudehnen. Auch, wenn man damit Gefahr läuft, sich mit dem (nur) vermeintlich Bekannten, Vertrauten und ‚ Gewöhnlichen ‘ zu befassen. Der vorliegende Beitrag möchte daher mögliche theoretische Anknüpfungspunkte und Perspektiven für eine (zeitgenössische) Theaterwissenschaft jenseits des Aufführungsparadigmas aufzeigen. 73 155 Autonome Kunst? - Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater Anmerkungen 1 Vgl. bspw. Andrea Fraser, „ From the Critique of Institutions to an Institution of Critique “ , in: Artforum international 44: 1 (2005), S. 278 - 283. 2 Grundlage für die Beschreibung der Premiere von Das Vorsprechen und für dieses sowie die folgenden direkten Zitate ist eine Aufnahme der Aufführung, die mir dankenswerter Weise von der Otto Falckenberg Schule zur Verfügung gestellt wurde. 3 „ Zum Abend “ , in: Münchner Kammerspiele (Hg.), Das Vorsprechen. Absolventen 2015/ 16. Otto Falckenberg Schule (Programmheft), München 2015, S. 1. 4 „ Das Vorsprechen “ , in: Münchner Kammerspiele (Hg.), Münchner Kammerspiele. Spielzeit 2015/ 16 (Spielzeitheft), Landsberg 2015, S. 42 - 43, hier S. 42. 5 Vgl. Patrick Bahners, „ Vorspielen auf dem Theater “ , in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 05. 11. 2015 (Nr. 257), S. 13. 6 Obwohl zunächst nur fünf Vorstellungen bis zum 19. November 2015 angesetzt waren, blieb die Produktion aufgrund des großen Interesses seitens des Publikums weiter auf dem Spielplan. Bei den zusätzlichen Vorstellungen wurde daher vor dem ersten Video ( „ Was ist Schauspiel? “ ) der Hinweis „ Reenactment “ sowie eine diesbezügliche Erläuterung eingeblendet. 7 Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 92 - 164. 8 „ Boris Nikitin “ , in: Münchner Kammerspiele (Hg.), Das Vorsprechen. Absolventen 2015/ 16. Otto Falckenberg Schule (Programmheft), München 2015, S. 30 - 31, hier S. 31. 9 Alexander Altmann, „ Brisantes aus der Firma “ , in: Münchner Merkur 05. 11. 2015 (Nr. 255), S. 17. 10 „ Zum Abend “ , S. 1. 11 Altmann, „ Brisantes aus der Firma “ , S. 17. 12 Der vorliegende Beitrag beruht auf meinem Vortrag mit dem gleichlautenden Titel auf dem XIII. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft zu „ Theater als Kritik “ (Frankfurt a. M./ Gießen). 13 An dieser Stelle sei der Produktionsdramaturgin Katinka Deecke herzlich gedankt, die mir in einem Gespräch Einblick in den Produktions- und Rezeptionsprozess und in die dramaturgische Konzeption von Das Vorsprechen gewährt hat. 14 Vgl. zu dieser Idee der Verdichtung auch Annika Wehrles Konzeption von „ Passagenräumen “ als „ Verdichtungsraum “ innerhalb des durch Mobilität und globale Vernetzung seinerseits bereits stark verdichteten Stadtgefüges des frühen 21. Jahrhunderts: Annika Wehrle, Passagenräume. Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart, Bielefeld 2015, S. 40. 15 Vgl. zur Struktur dieses Praxiskomplexes der Kunst- und Künstlerproduktion: Friedemann Kreuder, „ Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen “ , in: Stefan Hirschauer (Hg.), Un/ doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist 2017, S. 232 - 256, hier S. 233 - 237. 16 Vgl. zum Begriff „ Humandifferenzierungen “ : Stefan Hirschauer, „ Un/ doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten “ , in: Zeitschrift für Soziologie 43: 3 (2014), S. 170 - 190, hier S. 170 f. 17 Vgl. grundsätzlich Peter Walgenbach, „ Neoinstitutionalistische Ansätze in der Organisationstheorie “ , in: Alfred Kieser, Mark Ebers (Hg.), Organisationstheorien, Stuttgart 2014, S. 295 - 345, hier S. 295 f. Vgl. insbes. John W. Meyer, Brian Rowan, „ Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony “ , in: American Journal of Sociology 83: 2 (1977), S. 340 - 363, hier S. 353. Neben diesem Aufsatz von Meyer und Rowan gelten die beiden folgenden Aufsätze als den soziologischen Neoinstitutionalismus begründend: Lynne G. Zucker, „ The Role of Institutionalization in Cultural Persistence “ , in: American Sociological Review 42: 5 (1977), S. 726 - 743; Paul J. DiMaggio, Walter W. Powell, „ The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields “ , in: American Sociological Review 48: 2 (1983), S. 147 - 160. 156 Hanna Voss 18 Vgl. Veronika Tacke, „ Organisationssoziologie “ , in: Georg Kneer, Markus Schroer (Hg.), Handbuch Spezielle Soziologien, Wiesbaden 2010, S. 341 - 359, hier S. 343 - 345. 19 Vgl. Kai-Uwe Hellmann, „ Organisationslegitimität im Neo-Institutionalismus “ , in: Konstanze Senge, Kai-Uwe Hellmann, Einführung in den Neo-Institutionalismus, Wiesbaden 2010, S. 75 - 88, hier S. 78 f. 20 Mark C. Suchman, „ Managing Legitimacy: Strategic and Institutional Approaches “ , in: Academy of Management Review 20: 3 (1995), S. 571 - 610, hier S. 574. 21 Vgl. Suchman, „ Managing Legitimacy “ , S. 574; Hellmann, „ Organisationslegitimität “ , S. 81. 22 DiMaggio, Powell, „ The Iron Cage Revisited “ , S. 147. 23 Ebd., S. 147. 24 Ebd., S. 148. 25 Vgl. ebd., S. 147 u. 158. 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. ebd., S. 149. 28 Ebd., S. 150. 29 Vgl. Hellmann, „ Organisationslegitimität “ , S. 79 f.; DiMaggio, Powell, „ The Iron Cage Revisited “ , S. 157. 30 Vgl. Paul J. DiMaggio, „ State Expansion and Organizational Fields “ , in: Richard H. Hall, Robert E. Quinn (Hg.), Organizational Theory and Public Policy, Beverly Hills (Calif.), London, New Delhi 1983, S. 147 - 161; Paul J. DiMaggio, „ Structural Analysis of Organizational Fields: A Blockmodel Approach “ , in: Barry M. Staw, L. L. Cummings (Hg.), Research in Organizational Behavior. An Annual Series of Analytical Essays and Critical Review, Greenwich (Conn.), London 1986, S. 335 - 370. 31 Vgl. Axel Haunschild, „ Employment Rules in German Theatres: An Application and Evaluation of the Theory of Employment Systems “ , in: British Journal of Industrial Relations 42: 4 (2004), S. 685 - 703, hier S. 701; Friederike von Cossel, Entscheidungsfindung im Kulturbetrieb am Beispiel der Spielplangestaltung im Theater, München, Mering 2011. 32 Vgl. Pamela S. Tolbert, Lynne G. Zucker, „ The Institutionalization of Institutional Theory “ , in: Stewart R. Clegg, Cynthia Hardy, Walter R. Nord (Hg.), Handbook of Organization Studies, London, Thousand Oaks, New Delhi 1996, S. 175 - 190, hier S. 180 - 184. 33 DiMaggio, Powell, „ The Iron Cage Revisited “ , S. 149. 34 Vgl. Tolbert, Zucker, „ The Institutionalization of Institutional Theory “ , S. 184. 35 DiMaggio, Powell, „ The Iron Cage Revisited “ , S. 148. 36 Vgl. Bettina Heintz, Eva Nadai, „ Geschlecht und Kontext. De-Institutionalisierungsprozesse und geschlechtliche Differenzierung “ , in: Zeitschrift für Soziologie 27: 2 (1998), S. 75 - 93, hier S. 77 f. 37 Vgl. Bettina Heintz, „ Ohne Ansehen der Person? De-Institutionalisierungsprozesse und geschlechtliche Differenzierung “ , in: Sylvia Marlene Wilz (Hg.), Geschlechterdifferenzen - Geschlechterdifferenzierungen. Ein Überblick über gesellschaftliche Entwicklungen und theoretische Positionen, Wiesbaden 2008, S. 231 - 252, hier S. 233 f. Vgl. weiterhin Ronald L. Jepperson, „ Institutions, Institutional Effects, and Institutionalism “ , in: Walter W. Powell, Paul J. DiMaggio (Hg.), The New Institutionalism in Organizational Analysis, Chicago 1991, S. 143 - 163; Birgitta Nedelmann, „ Gegensätze und Dynamik politischer Institutionen “ , in: Dies. (Hg.), Politische Institutionen im Wandel, Opladen 1995, S. 15 - 40 (Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 35). 38 Heintz, „ Ohne Ansehen der Person? “ , S. 234. 39 Ebd., S. 234 f. 40 Vgl. ebd., S. 231 und 235. 41 Vgl. Suchman, „ Managing Legitimacy “ , S. 576. 42 Heintz, „ Ohne Ansehen der Person? “ , S. 231. 43 Vgl. Altmann, „ Brisantes aus der Firma “ , S. 17. 44 Vgl. Christopher Balme, „ Stadt-Theater: Eine deutsche Heterotopie zwischen Provinz und Metropole “ , in: Burcu Dogramaci (Hg.): Großstadt. Motor der Künste in der Moderne, Berlin 2010, S. 61 - 76; Hans Bodié, Die Arbeitsvermittlung in den künstlerischen Berufen, Freiburg i. Br. 1933, S. 41 - 53. 157 Autonome Kunst? - Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater 45 Bodié, Die Arbeitsvermittlung, S. 52. 46 Vgl. Joachim Rübel, Geschichte der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen, Hamburg 1992, S. 208 f. 47 Peter Lackner, Schauspielerausbildung an den öffentlichen Theaterschulen der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1985, S. 43. 48 Ebd., S. 43. 49 Ebd., S. 44. 50 Vgl. „ Wie wird fürs Theater ausgebildet, wie sollte ausgebildet werden? Dokumentation über den ‚ Theaterpädagogischen Kongress ‘ in Berlin “ , in: Theater heute 7 (1973), S. 1 - 11, hier S. 3. 51 Vgl. „ Wie wird fürs Theater ausgebildet “ , S. 11; Deutsches Bühnen-Jahrbuch. Theatergeschichtliches Jahr- und Adressenbuch. Gegründet 1889. Jg. 81 - 82 (1973 - 1974), S. 131 (Bd. 81) u. S. 146 f. (Bd. 82). Vgl. als Überblick zur Historie des Künstlervermittlungswesens: Hanna Voss, „ Schauspieler/ innen zwischen Institution und Profession. Zur Relevanz ethnischer Kategorisierungen im deutschen Sprechtheater am Beispiel des Künstlervermittlungswesens “ , in: Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.), Re/ produktionsmaschine Kunst. Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten, Bielefeld 2017, S. 117 - 132, hier S. 117 - 123. 52 Lackner, Schauspielerausbildung, S. 163. 53 Vgl. ebd., S. 164. 54 DiMaggio, Powell, „ The Iron Cage Revisited “ , S. 152. 55 Vgl. zum Begriff der (Re-)Präsentation: Hanna Voss, „ Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen “ , in: Dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft 2 (2017), S. 47 - 52, hier S. 47. 56 Vgl. Kreuder, „ Theater zwischen Reproduktion und Transgression “ , S. 232. 57 Vgl. „ Was sollte ein/ e gute/ r Schauspieler/ in können “ , in: Münchner Kammerspiele (Hg.), Das Vorsprechen. Absolventen 2015/ 16. Otto Falckenberg Schule (Programmheft), München 2015, S. 8 - 9. 58 „ Was sollte ein/ e gute/ r Schauspieler/ in können “ , S. 8. 59 Vgl. „ Schauspieler “ , in: Münchner Kammerspiele (Hg.), Das Vorsprechen. Absolventen 2015/ 16. Otto Falckenberg Schule (Programmheft), München 2015, S. 10 - 29. 60 Vgl. Heintz, „ Ohne Ansehen der Person? “ , S. 243 - 246. 61 DiMaggio, Powell, „ The Iron Cage Revisited “ , S. 148. 62 Der Ausschnitt stammt aus einem von mir im April 2016 geführten Interview mit einem Casting Director. 63 Vgl. http: / / castingverband.de/ bvc/ wp-content/ uploads/ 2016/ 07/ BVC_Datenbanknutzung.pdf [letzter Zugriff 20. 10. 2016]. 64 Die Beschreibung beruht auf einer Sichtung der beiden nicht öffentlich zugänglichen Internet-Castingportale am 19. 10. 2016. 65 Vgl. Hirschauer, „ Un/ doing Differences “ , S. 171. 66 Vgl. zur Blackfacing-Debatte: Christopher B. Balme, The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014, S. 168 - 173; Hanna Voss, Reflexion von ethnischer Identität(szuweisung) im deutschen Gegenwartstheater, Marburg 2014, S. 85 - 130. 67 Vgl. Voss, „ Schauspieler/ innen zwischen Institution und Profession “ , S. 124 - 127. 68 Vgl. Voss, „ Theater zwischen Reproduktion und Transgression “ , S. 49 - 51. 69 Altmann, „ Brisantes aus der Firma “ , S. 17. 70 Ebd., S. 17. 71 Vgl. bspw. die zeitgleiche und titelgebende Berichterstattung über das ensemble-netzwerk in Theater heute 10 (2016) und Theater der Zeit 10 (2016). Vgl. zu den Begriffen „ Rahmen “ und „ Modulation “ : Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Übersetzt von Hermann Vetter, Frankfurt a. M. 1980, S. 31 - 97. 72 Vgl. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 95 f. 73 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Projekts „ Praktiken der ethnischen Ent/ Differenzierung im zeitgenössischen deutschen Sprechtheater “ (2014 - 2017, Leitung: Friedemann Kreuder) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Die Assoziation des Projekts an die Mainzer DFG-Forschergruppe 1939 „ Un/ doing Differences. 158 Hanna Voss Praktiken der Humandifferenzierung “ (2013 - 2019, Sprecher: Stefan Hirschauer) und die durchgängige Einbettung in deren interdisziplinären Arbeitskontext lieferten dabei wesentliche Impulse. 159 Autonome Kunst? - Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater