eJournals Forum Modernes Theater 28/1

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2013
281 Balme

Michael Gissenwehrer, Katharina Keim (Hrsg.). Materialität(en) des Kultur- und Wissenstransfers in prä- und transnationalen Kontexten. Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt. Band 8. Frankfurt am Main: Peter Lang 2015, 232 Seiten.

2013
Sarah Israel
Zusammenhang nicht nur, dass sich Dreyer immer wieder hermeneutischer Begriffe wie der Horizontverschmelzung bedient, sondern auch, dass Hölderlin zwar als Stichwortgeber zitiert wird (S. 27 - 30), seine Stimme aber ansonsten im gesamten Buch abwesend ist. So wird zum Bespiel nicht an Klaus Michael Grübers Inszenierung Empedokles - Hölderlin lesen referiert, mit der Grüber 1975, ein Jahr nach den Bakchen, Hölderlin als Zeitgenossen auftreten ließ. Damit hat Matthias Dreyer ein großes Potential seiner wichtigen Arbeit noch unausgeschöpft gelassen, nämlich über ein Theater der Zäsur zu schreiben, in welches „ die Desorganisation der Tragödie “ (Lacoue-Labarthe) im Hölderlinschen Sinne als das Tragische der Zäsur eingeschrieben ist. Amsterdam K ATI R ÖTTGER Michael Gissenwehrer, Katharina Keim (Hrsg.). Materialität(en) des Kultur- und Wissenstransfers in prä- und transnationalen Kontexten. Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt. Band 8. Frankfurt am Main: Peter Lang 2015, 232 Seiten. Der aus einer Tagung des DAAD-Arbeitskreises „ Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt “ an der Theaterwissenschaft München hervorgegangene Band versammelt Beiträge, die sich aus verschiedenen Perspektiven und theoretisch unterschiedlichen Ansätzen der Frage nach Entwicklung und Transfer von Kulturkonzepten und -diskursen unter besonderer Beachtung ihrer materiellen Basis widmen. Grund, sich anhand von 13 Artikeln dem Kultur- und Wissenstransfer und seinem Wandel zu widmen, sehen die Herausgeber in der durch die Digitalisierung bedingten Transformation unserer Wissenskultur. Mit diesem Umbruch offenbart sich die Bedeutung der materiellen Grundlagen für die Etablierung bestimmter Episteme und Wissenspraktiken wie auch die Historizität eines seit der Neuzeit durch die Buchkultur geprägten Denkstils und der damit einhergehenden Wissensformationen. Als Reaktion auf die von Wolfgang E. J. Weber in seinem Einführungsaufsatz formulierte Gefahr in den Kulturwissenschaften in einen „ Symbolkulturalismus “ zurück zu fallen, bietet der Band eine Auffächerung von historischen bis zeitgenössischen Beispielen der Vermittlung von kulturellem Wissen und Narrationen via medialen Praxen (von der Skulptur bis zum Internet) an. Diese Transferleistungen, so macht die Heterogenität der Artikel deutlich, vollziehen sich gebunden an Zeit und Raum und sind „ mit all ihren Begriffen, Objekten und Artfakten durch bestimmte [. . .] materiale, technische und institutionelle Aspekte konditioniert “ (S. 3). Der Band liest sich wie ein Plädoyer für die Kulturwissenschaft(en): Diese scheinen insbesondere geeignet für die Darlegung, dass Wissen von Quellen und Kulturgütern immer eine bestimmte Materialität und Form von Inszenierungen benötigt, um transferiert zu werden. Beispiel für die Frage der Konstruktion im Rahmen dieser Vermittlungen ist Sabine Huschkas Artikel über den Transfer historischer Tänze und des damit verknüpften Tanzwissens. Sie geht davon aus, dass im Tanz neben dem „ knowing how “ (Erfahrungswissen) das „ knowing that “ (ein theoretisch eingebettetes Wissen) bedeutend ist. Davon ausgehend zeichnet sie die Vermittlung von Hoftänzen im 17. und 18. Jh. nach. Im Rahmen der Etablierung von Verhaltensweisen einer bürgerlichen Schicht wurden neue Formen von Notation und Lehrmethoden entwickelt. Die damit verbundenen Möglichkeiten (wie Transfer und Archivierung) sowie Probleme (z. B. fehlende Übermittlung von Ausdruck) verweisen in die Gegenwart, in der die Debatten um den Umgang mit dem choreographischen Erbe geführt wird. Diese Konstruktionen von Wissen und seiner Verteilung, die national und topographisch spezifisch sind, machen die Artikel des Bandes ebenso deutlich wie die Übergänge, an denen „ Verschiebungen kultureller Praktiken “ (S. 6) anhand einer Untersuchung von materiellen Komponenten deutlich werden. So untersucht Johannes Feichtinger mit einem gebrauchsgeschichtlichen Ansatz wie das frühchristliche Motiv der auf eine Halbmond-Sichel tretenden Maria von der katholischen Kirche im 17. Jh. in Österreich mit Hilfe von Marien-Siegessäulen im öffentlichen Raum zur Inszenierung eines wirkungsmächtigen Türken-Feindbildes instrumentalisiert wur- Forum Modernes Theater, 28 (2013 [2017]), 95 - 96. Gunter Narr Verlag Tübingen 95 Rezensionen de. Es wird deutlich, dass die Bedeutungen von Symbolen und Erzählungen seit jeher innerhalb von Kulturen transferiert werden, oft zwecks politischer Propaganda. Nicht auf den Bedeutungswandel von Symbolen, sondern von Diskursen und Begrifflichkeiten geht hingegen Peter Boenisch ein, der die Entstehung der Theaterregie bereits um 1800 verortet und sie als Reaktion auf eine, für ihn von Schiller konstatierte, Krise des Regimes der Repräsentation versteht. Im ästhetischen Regime sichert Regie nunmehr in der Inszenierung die Transferleistung zwischen der zu präsentierenden Idee und materiell-sinnlicher Aktion. Die Tatsache, dass der Band anhand ausgewählter Beispiele aus dem Bereich der zeitgenössischen Theater-, Propaganda- und Spektakelkultur einen Schwerpunkt auf den Transfer von kulturellem Wissen in der chinesischen Kultur legt, wirkt zunächst willkürlich, gibt jedoch Einblicke in eine Welt, aus der in diesem Bereich wenig bekannt ist. So dokumentiert Anna Stecher die mediale Inszenierung und propagandistische Verwertung des als Begründer der modernen chinesischen Literatur geltenden Schriftstellers Lu Xun bis hin zur regimekritischen Re-Lektüre seines vielschichtigen Werks durch oppositionelle Künstler im 21. Jahrhundert. Yinan Li zeigt in ihrem Aufsatz auf, wie sich der Künstler Wu Wenguang von der offiziellen Medienpraxis distanziert: Er überlässt den an seinen dokumentarischen Theaterprojekten partizipierenden Laien nicht nur das Wort, sondern auch die Videokamera und die Wahl des Sujets. Damit kehrt er das (im sozialistischen Realismus dominierende) Verhältnis zwischen Künstler-Elite und dargestellten Volk um und realisiert das - traditionelle buddhistische - Konzept des „ Wahr- Seins “ (zhenshi), das auf die unbedingte Realität und eine künstlerische Einheit von Dargestelltem und Darstellung zielt. Ein ganz anderes Beispiel aktueller chinesischer Theaterkultur thematisiert Kuan-Wu Ling mit ihrem Beitrag zu „ Real-Life Scenery Performances “ . Es handelt sich hierbei um touristische Open-Air-Shows in pittoresken Naturkulissen, die spektakuläre Szenen aus Legenden ethnischer Minderheiten unter dem Label vorgeblicher Authentizität präsentieren. Das Theater fungiert hier als Illusionsmaschine und dient dem politischen System zum Transfer von Narrationen, die, so Ling mit Blick auf Baudrillard, ein Abbild der Realität in das Gedächtnis des Publikums schreiben, das „ entweder nur in der Vorstellung existiert oder idealisiert bzw. auf andere Weise verfälscht wird “ (S. 125). Die bis dato in den USA gegebene Vormachtstellung von visuellen Medien für die Etablierung und Bewahrung nationaler Mythen macht Eugen Kottes Untersuchung des Frontier-Mythos deutlich. Der Mythos, entstanden in den Zeiten der Besiedlung des Westens, ist noch heute grundlegend für das Selbstverständnis der USA als ‚ land of opportunities ‘ . Dass eine Kritik an ihm kaum akzeptiert wird, zeigt der in den USA durchgefallene Film Heaven ’ s Gate von Michael Ciminos (1980/ 1981). Ciminos verübt auf inhaltlicher und ästhetischer Ebene eine Kritik am ‚ American Dream ‘ , die das Publikum nicht akzeptieren kann oder will. Obwohl die 13 Artikel eher wenig in einen Dialog treten, kann als Weiterführung von Kottes Artikel Steffen Höhnes Beobachtung zur Bedeutung des Anstandsbuches für die Erziehung des idealen Publikums im 19. Jahrhundert gesehen werden. So wie der Mythos der Freiheit ein ganzes Sozialverhalten und Selbstverständnis prägte, sorgten jene literarischen Dokumente für die Disziplinierung des Publikums, das im Dunkeln unter dem Ehrendkodex der Bürgerlichkeit zum Schweigen gebracht wurde. Bis heute wirken diese Verhaltensregeln in Theater- und Konzertsälen nach. Die Beschreibung der ausgewählten Artikel zeigt die inhaltliche Vielfalt des Bandes auf, der eine Lücke in der Forschung über die Bedeutung der Materialität für Kultur- und Wissenstransfer in diversen Kontexten füllt. Zugleich zeigt sie jedoch, dass die Fragestellung weitläufig ist und Antworten selbst in diesem gut lektorierten Band, der versucht, die diversen Artikel sinnfällig aufeinander folgen zu lassen, nur in einem ersten Schritt angedeutet werden können. München S ARAH I SRAEL 96 Rezensionen