eJournals Forum Modernes Theater 28/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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Goebbels’ Stimme ist nicht einfach nur „Stimme“ im Sinne eines schön oder nicht so schön klingenden Organs. Jede wie auch immer geartete physiologische Zuschreibung einer Stimmqualität geht im Fall dieses ruchlosen Erfinders der nationalsozialistischen Propaganda insofern in die Irre. Der Aufsatz geht von der Überlegung aus, dass eine Stimme wie die von Goebbels von Beginn an ein Objekt der Internalisierung war. Goebbels repräsentierte von Beginn an den Korridor der Macht und nicht das Macht-Zentrum selbst. Das internalisierte Objekt wird damit zur Fläche vielfältiger Projektionen, die sich nie auf dem direkten Wege, sondern zum Beispiel über den Umweg von Symptomen, Verfehlungen und Unfällen zeigen. Mit einem solchen „Unfall“ beginnt der Essay, mit der Schilderung der Ineinssetzung von Goebbels’ Stimme mit der von Celan auf einem frühen Treffen der Gruppe 47. Der Bogen der Überlegungen schließt sich in der kritischen Schilderung Ernst Jüngers, der eine zeitgenössische Epistemologie der „Reklamestimme“ von Goebbels darlegt, die, so erkaltet sie klang und auf Tonaufzeichnungen immer noch klingt, gleichermaßen die Säle zum Sieden brachte.
2013
281 Balme

Goebbels’ Stimme

2013
Wolfgang Hagen
Goebbels ’ Stimme Wolfgang Hagen (Lüneburg) Goebbels ’ Stimme ist nicht einfach nur „ Stimme “ im Sinne eines schön oder nicht so schön klingenden Organs. Jede wie auch immer geartete physiologische Zuschreibung einer Stimmqualität geht im Fall dieses ruchlosen Erfinders der nationalsozialistischen Propaganda insofern in die Irre. Der Aufsatz geht von der Überlegung aus, dass eine Stimme wie die von Goebbels von Beginn an ein Objekt der Internalisierung war. Goebbels repräsentierte von Beginn an den Korridor der Macht und nicht das Macht-Zentrum selbst. Das internalisierte Objekt wird damit zur Fläche vielfältiger Projektionen, die sich nie auf dem direkten Wege, sondern zum Beispiel über den Umweg von Symptomen, Verfehlungen und Unfällen zeigen. Mit einem solchen „ Unfall “ beginnt der Essay, mit der Schilderung der Ineinssetzung von Goebbels ’ Stimme mit der von Celan auf einem frühen Treffen der Gruppe 47. Der Bogen der Überlegungen schließt sich in der kritischen Schilderung Ernst Jüngers, der eine zeitgenössische Epistemologie der „ Reklamestimme “ von Goebbels darlegt, die, so erkaltet sie klang und auf Tonaufzeichnungen immer noch klingt, gleichermaßen die Säle zum Sieden brachte. Goebbels ’ voice is not simply a “ voice ” in the sense of a beautiful or not so beautifully sounding organ. Any physiological attribution of a quality of voice, whatever it is, goes astray in the case of this ruthless inventor of National Socialist propaganda. This essay is based on the idea that a voice like that of Goebbels was, from the very beginning of the Nazi Regime, an object of internalization by its listeners. From the outset, Goebbels represented the corridor of power and not the center of power itself. The internalized object thus became the surface of a variety of projections, which are never uttered in a direct way, but, for example, on the detour of symptoms, misconducts or accidents. The essay begins with such an “ accident ” , namely with the description of the setting of Goebbels ’ voice with that of Celan at an early meeting of the Group 47 in the early 1950s. The considerations end with reflections on a critical account of Ernst Jünger towards Goebbels ’ voice, who presents a contemporary epistemology of the “ Reklamestimme ” (advertising voice) of Goebbels, which, as cool and somehow uninvolved as it sounded, equally brought the atmosphere in the rooms to the boil. „ Die menschliche Stimme hat, wenn sie das Echo anruft, einen Klang, der nur diesem Verhältnis eigentümlich ist. “ Ernst Jünger, 1939 I. Sieben Jahre nach Zusammenbruch und Kapitulation lädt Hans Werner Richter die Gruppe 47 nach Niendorf an die Ostsee ein, in ein gerade eben erst von Flüchtlingen geräumtes ehemaliges NS-Naherholungsheim mit Meeresblick. Zu diesem fünften Gruppentreffen hatten ihn 45 Zusagen erreicht, darunter Ilse Aichinger, Heinrich Böll, Günter Eich, Walter Jens, Karl Krolow, Siegfried Lenz, und - Paul Celan. Dieser reist Forum Modernes Theater, 28 (2013 [2017]), 69 - 79. Gunter Narr Verlag Tübingen nur auf Drängen Ingeborg Bachmanns an. Seine Lesung, darunter die Todesfuge und In Ägypten, gerät zum Eklat: Als Celan zum ersten Mal auftrat, da sagte man: ‚ Das kann doch kaum jemand hören! ‘ , er las sehr pathetisch. Wir haben darüber gelacht. ‚ Der liest ja wie Goebbels! ‘ sagte einer. Er wurde ausgelacht, so daß dann später ein Sprecher der Gruppe 47, Walter Hilsbecher aus Frankfurt, die Gedichte noch einmal vorlesen mußte. Die ‚ Todesfuge ‘ war ja ein Reinfall in der Gruppe! 1 So erinnert sich Walter Jens ein paar Jahrzehnte später, ohne den Namen Hans Werner Richter zu nennen. Der ‚ Chef ‘ der Gruppe aber ist es, der den Vergleich ins Spiel bringt. Siebzehn Jahre später, Anfang Mai 1970, als Richter von Celans Freitod in der Zeitung liest, notiert er in sein Tagebuch: Nach der Lesung Celans beim Mittagessen hatte ich ganz nebenbei und ohne jede Absicht gesagt, daß die Stimme Celans mich an die Stimme Joseph Goebbels ’ erinnere. Da beide Eltern Celans von der SS umgebracht wurden, kam es zu einer dramatischen Auseinandersetzung. Paul Celan verlangte Rechenschaft und versuchte mich in die Position eines ehemaligen Nationalsozialisten zu drängen. Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann weinten und baten mich unter wahren Tränenströmen immer wieder, mich zu entschuldigen, was ich dann schließlich tat. Trotzdem, Paul Celan hat es mir nie vergessen. 2 Wie kann ein so hoch geschätzter Literat, und zudem gewiss der wichtigste Initiator der kulturellen Erneuerung Deutschlands nach dem Kriege, die Stimme und Diktion Celans, eines Juden aus Czernowitz, dessen Eltern die Nazis umgebracht hatten und der selbst nur knapp dem Tode entronnen war, mit der Stimme Goebbels ’ gleichsetzen? Cornelia Epping-Jäger führt diesen Eklat auf das stimmpolitische ‚ Monotonie-Gebot ‘ 3 der Gruppe 47 zurück; Helmut Böttiger verweist auf das Bestreben der Gruppe, „ die NS-Sprache zu decouvrieren, [. . .] das falsche Pathos, den Schwulst von überladenen Metaphern “ sowie „ Stefan George und ähnliche Seher mit priesterlichem Habitus “ 4 gleichsam in ihrer Mitschuld am Untergang zu attackieren. Diese Erklärungen geben wichtige Hinweise, aber hinreichend erscheinen sie mir nicht. Wenige Tage nach dem Vorfall berichtet Paul Celan - den Goebbels-Vergleich zunächst noch aussparend - seiner Frau von der Szene: Die Wirkung war eindeutig. Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe, Initiator eines Realismus, der nicht einmal erste Wahl ist, lehnte sich auf. Diese Stimme, im vorliegenden Falle die meine, die nicht wie die der andern durch die Wörter hindurch glitt, sondern oft in einer Meditation bei ihnen verweilte, an der ich gar nicht anders konnte, als voll und von ganzem Herzen daran teilzunehmen - diese Stimme mußte angefochten werden, damit die Ohren der Zeitungsleser keine Erinnerung an sie behielten [. . .]. Jene also, die die Poesie nicht mögen - sie waren in der Mehrzahl - lehnten sich auf. 5 Diese Briefstelle zeigt sehr deutlich, um was es geht. In seinen Lesungen folgt Celans Stimme einer bewusst und präzise reflektierten Stimmtheorie der poetischen Deklamation, einer Stimmtheorie des Entzugs. Sie operiert jenseits einer uns gewohnten Rhetorik, die stets nur vom Pathos, also von der Wirkung her denkt. Vielleicht ist es das, was seine Zuhörer aus der Gruppe 47 so verstören musste. Im Kontext der klassischen Rhetorik hat die Stimme, so sagen es Sybille Krämer und Doris Kolesch, „ Verkörperungscharakter: Die Stimme ist die Spur unseres individuellen wie auch sozialen Körpers. Sie ist gleichermaßen Index der Singularität einer Person wie der Kultur. “ 6 So argumentiert auch noch Derridas Erörterung der Stimme als jenes „ Herz der Selbst- 70 Wolfgang Hagen gegenwärtigkeit “ . 7 Die Stimme Celans indessen gleitet nicht „ durch Wörter “ und behauptet sie insofern nicht als die eigenen, die immer schon dem Sprechenden zu gehören scheinen. Vielmehr wahrt der Sprechende zu ihnen den Abstand der Nicht- Identität. Und so erfährt diese deklamierende Stimme, wenn man so will, gleichsam erst in der Sekunde des Sprechens von ihnen, von den Worten, die sie spricht, um bei ihnen, „ meditierend “ , wie Celan sagt, zu verweilen und dann erst an diesen Worten „ von ganzem Herzen Anteil zu nehmen “ . Celans Stimme ist meditative Deklaration. Aber durchaus keine, mittels derer Celan „ sich als sich selbst in Erinnerung ruft “ , 8 wie Cornelia Epping-Jäger meint. Im Verkennen des „ kulturellen Klangraums “ , aus dem Celan stammte, sieht sie das Unverständnis der Nienburger ZuhörerInnen. Doch in seiner Lyrik sprechenden Stimme ruft sich Celan weder in Erinnerung noch verkörpert sich seine Stimme in der lyrischen Rede. Celan begegnet vielmehr jedem Wort. So weist Celans Sprechweise zugleich darauf hin, wie dekonstruktiv - jenseits jedweder Zuordnung des Lautlichen als Entäußerung und Verkörperung eines Subjekts - Stimmen verstanden werden müssen. Nichts stimmt am Vergleich zwischen Celans lyrischem Sprechen und Goebbels ’ propagandistischem Stimmgebaren. Es handelt sich stattdessen um eine verkreuzte Umkehrung. Genau dieser Inversion aber entzieht sich die eingangs genannte junge, von Thomas Mann wohl nicht ganz zu unrecht „ pöbelhaft “ 9 gescholtene literarische „ Rasselbande “ mit ihrem blöden Lachen und Feixen. Was aber, so muss man fragen, löst eigentlich dieses Lachen aus? Goebbels kehrt wieder in der Stimme Celans! Über eine solche Groteske könnte man ja noch lachen, aber so läuft es in Nienburg nicht. Es läuft vielmehr umgekehrt: Das Lachen ist nicht Ergebnis des Vergleichs, sondern seine Ursache. Wie also kommt es dazu? Vielleicht sollte man zunächst festhalten, dass, vom feixenden Goebbels-Vergleich abgesehen, der wirkliche Skandal der Nienburger Tagung woanders liegt. Aus meiner Sicht besteht er in Celans buchstäblicher Entstimmlichung. Wie Jens berichtet, liest am Ende des Tages der ausgebildete Rundfunksprecher Walter Hilsbecher, mit gebotener G47-Monotonie noch einmal, was Celan schon vorgetragen hatte. Man tut mithin so, als sei Celan gar nicht da gewesen. Angeblich konnte man ihn nicht verstehen. Um das Verdrängte und zu Verdrängende, das sich im Lachen Bahn gebrochen hatte, mit einem neuen Ton zu verdecken, muss eine offiziell geschulte Hochsprachen-Stimme erneut durch die Worte gehen. Die Stimme ist, wie auch diese Begebenheit zeigt, alles andere als bloß der Schwellenbereich zwischen Verkörperung und Symbolik. Stimmen werden nicht nur von den Sprechenden verkörpert, sondern auch von den Hörenden. Was die Stimmen der Autoritäten anordnen oder verkünden, muss im Gedächtnis verkörpert, wiederholt, memoriert, gleichsam in ‚ innere Stimmen ‘ verwandelt werden. 10 Thomas Macho hat hier nicht so sehr die Verkörperungen erzieherischer Stimmen im Sinn, die Instanzen des Über-Ichs oder des Gewissens, wiewohl sie in der Tradition Freuds, Reiks oder Lacans vom Phänomen einer ‚ inneren Stimme ‘ nicht getrennt werden können. Doch auch die freudschen Internalisierungen sind keine im wörtlichen Sinn: „‚ Tante, sprich mit mir; ich fürchte mich, weil es so dunkel ist. ‘ Die Tante rief ihn an: ‚ Was hast du denn davon? Du siehst mich ja nicht. ‘ ‚ Das macht nichts ‘ , antwortete das Kind, ‚ wenn jemand spricht, wird es hell ‘“ . 11 Die von Freud in einer seiner Abhandlungen zur Sexualtheorie wiedergegebene Dialogsequenz kommt dem näher, was unter Internalisierung einer äußeren Stimme zu verstehen wäre. Es handelt sich nicht unbedingt 71 Goebbels ’ Stimme um eine symmetrische Reaktion. Die äußere Stimme dringt nicht einfach in mich ein und spricht dann ‚ in mir ‘ . Und doch kann sie, in anderen Registern, emotionale und halluzinogene Wirkungen auslösen, wie bei dem von Freud zitierten kleinen Kind oder wie bei einer Stimme aus dem Radio, zu der man sich hingezogen fühlt - wie bei einer Stimme, die uns gefangen hält und der wir folgen. Niemand hat sich weiter herausgewagt auf dieses verwickelte Feld der Stimmeninternalisierung als der Evolutionspsychologe James Jaynes mit seiner weit ausholenden These, dass die Entstehung des modernen, abendländischen Bewusstseins aus dem Zusammenbruch eines zerebralen „ Bikameralismus “ um 1800 v. Chr. hervorgeht. Jaynes ’ Evolutionsgeschichte zufolge hatten in unserem Hirn das Sprech- und das Hörzentrum für lange Zeit wenig miteinander zu tun. Von daher konnten die Menschen nicht narrativieren, und es gab für sie kein ‚ Ich (qua Analogon) ‘ , vermittels dessen sie ‚ sich ‘ in ihrem Verhältnis zu den anderen zu ‚ sehen ‘ vermocht hätten. Sie waren, so könnte man aus heutiger Sicht sagen, signalverhaftet, das heißt, sie reagierten fortwährend reflektorisch auf Hinweisreize. [. . .] Ich habe die These vorgetragen, derzufolge Gehörhalluzinationen als Nebenwirkungen im Zuge der Sprachrevolution auftraten und dazu dienten, das Individuum zum Ausharren bei den vom Stammesleben erheischten längerwierigen Arbeiten zu bewegen. Diese Halluzinationen nahmen ihren Ausgang von lauten Befehlen, die das Individuum sich entweder selbst erteilte oder vom Stammesoberhaupt erteilt bekam. 12 Die physiologisch-cerebrale Trennung von halluzinativem (Nach-)Hören (der Befehle der Götter) in dem einen und Sprachentwicklung in dem anderen Gehirnbereich bricht Jaynes zufolge mit der Ausbreitung der Schrift zusammen. Mit Zeichen und Schrift erhalten die Götter und deren Befehle einen externalisierten Ort. And once the word of god was silent, written on dumb clay tablets or incised into speechless stone, the god ’ s commands or the king ’ s directives could be turned to or avoided by one's own efforts in a way that auditory hallucinations never could be. The word of a god had a controllable location rather than an ubiquitous power with immediate obedience. 13 Die Götter sprechen von innen und nur in seltenen Fällen exterritorialisiert, wie im Fall der altägyptischen Memnonen, bei Sonnenaufgang mit tiefen Lauten durch ihre steinernen Säulen hindurch, die Bettine Menkes Hegellektüre zufolge „ der Sonne entgegengestellt sind, um von ihr den Strahl zu erwarten, der sie berühre, beseele und tönen mache “ . 14 Was also die ‚ inneren Stimmen ‘ von Autoritäten betrifft - alle ‚ Über-Ichs ‘ , Instanzen des Vaters und populistische Demagogen inbegriffen - , so hätten wir es nach Jaynes ’ viel und kontrovers diskutierter These 15 mit Residuen zu tun, mit Restbeständen einer archaischen Disposition. Über sie ist die evolutionäre Emergenz der Bewusstseinsbildung in den letzten drei Jahrtausenden zwar hinweggegangen, aber vollständig überwunden ist sie keineswegs. So ist, nach einer in Zeiten der Techno-Ökologien unserer digitalen Kultur wieder sehr aktuellen These von William James, Bewusstsein eben nicht ein fixer Zustand, sondern wird durch einen mehrschichtigen „ Strom “ repräsentiert: There is a stream, a succession of states, or waves, or fields (or of whatever you please to call them), of knowledge, of feeling, of desire, of deliberation, etc., that constantly pass and repass, and that constitute our inner life. The existence of this stream is the primal fact, the nature and origin of it form the essential problem, of our science. 16 72 Wolfgang Hagen Daraus folgt, auch mehr als hundert Jahre nach William James, im Umkehrschluss, wie wenig scharf die Grenze zwischen dem Bewusstsein gegenüber den Phänomenen des Vor- und Unbewussten zu ziehen ist. Und zweitens, wie wenig klar bleibt, was Stimmen in uns bewirken, die wir internalisiert haben, wenn es autoritative oder diktatorische Stimmen sind, denen wir uns im Sozialen nicht entziehen können. Wenn drittens hinzukommt, dass diese Stimme, wie im Fall Goebbels, vor allem im Medialen zu Ohren kommt, nämlich durch das von ihm in Deutschland als ‚ Live-Medium ‘ erst eingeführte Radio, in einer Allpräsenz der Häufigkeit, gegen Ende des Nazi-Regimes gleichermaßen wie zu dessen Beginn, - dann mögen wir umso mehr vermuten, dass die Archaik solcher Stimmen, gepaart mit höchster Modernität, einen schockartigen Eindruck hinterlässt, der sich, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, auch Jahre später noch in einem Lachen entladen kann. II. Die Hochphase des Radios, durch das die Stimme Goebbels ’ bis hinein in den letzten Winkel des Reichs ihre Wirkung entfacht, wird von ihm selbst mit einem Satz eröffnet, der unter dem 11. Februar 1933 in seinem Tagebuch zu finden ist: Ich erfahre abends durch Ferngespräche mit den verschiedenen Gauen, daß die Rede von einer fabelhaften Wirkung auch im Lautsprecher war. Der Lautsprecher ist ein Instrument der Massenpropaganda, das man in seiner Wirksamkeit heute noch gar nicht abschätzen kann. Jedenfalls haben unsere Gegner nichts damit anzufangen gewußt. Um so besser müssen wir lernen, damit umzugehen. 17 Elf Tage vorher hat der frisch gekürte Reichskanzler Hitler zum ersten Mal allein vor einem Mikrofon gesprochen, ohne Massen und ohne Saal. Es wird ein Debakel. Die Rede ist erschreckend unverständlich, unhitlerisch, gemurmelt, genuschelt, ohne Kraft. Sie muss tags darauf wiederholt werden, und Hitler behält sein gestörtes Verhältnis zu abgekapselten Radiomikrofonen bis zum Ende. Eine Paradoxie des Faschismus, die lehrreich ist. Der Führer, dessen Name für das nun kommende Radio steht, kann im Radio nicht, sondern nur in Versammlungen sprechen. Er braucht das lebendige Gegröle vis-à-vis und einen Reporter darum herum. Ganz anders Goebbels, dessen besonderes Mikrofontalent schon im November 1930 dem linken Theatermann Erwin Piscator eine bittere Stunde bereitet. Anfang Februar 1933 lösen die Nazis den Reichstag auf. Sie kommen schließlich, vier Wochen später, durch die gewonnene März-Wahl zur Macht. In seine Tagebücher, die über tausende von Seiten vor allem aus Haupt- und Befehlssätzen bestehen, hier und da auch zweifelnde Gedanken enthalten, vor allem aber von seinem typisch kalten Zynismus zeugen, - in diese Tagebücher notiert Goebbels zwischen Februar und März 1933 wenigstens sieben Inszenierungen einer Radio- Allmachts-Szene, die immer auch mit seiner eigenen Stimme verbunden ist. Diese Notizen zeigen überdies, wie sehr die März- Wahl, auf dem Hintergrund von Reichstagsbrand, Notverordnung und Kommunistenverhaftung, vor allem eine, vielleicht überhaupt die erste massiv mediengestützte Wahl der deutschen Geschichte ist. Eben an jenem 11. Februar 1933 beginnt das Ganze im Berliner Sportpalast. Goebbels im „ Off “ , also nur für den deutschen Rundfunk zu hören, beschreibt die Szene in und um den Sportpalast in nicht enden wollenden Hohlfloskeln und pathetischen Ritardandi, die nur den simplen, aber äußerst effektiven Zweck erfüllen, die Spannung zu steigern. Er ist sich noch unsicher: 73 Goebbels ’ Stimme Allerdings ist es ein eigentümliches Gefühl, plötzlich vor einem toten Mikrophon zu stehen, während man bisher nur gewohnt war, vor lebendigen Menschen zu sprechen, sich von ihrer Atmosphäre hochheben zu lassen und aus ihren Gesichtern die Wirkung der Rede abzulesen. 18 Goebbels reportiert die Sportpalast-Szene mit engagiertem Gleichmut, mit professionellem Gefühl für das Timing seines eigenen Sprechens und der Veranstaltung insgesamt. Über Hitlers darauffolgende Rede schreibt er: Zum Schluß gerät er in ein wunderbares, unwahrscheinliches, rednerisches Pathos hinein und schließt mit dem Wort ‚ Amen! ‘ Das wirkt so natürlich, daß die Menschen alle auf das tiefste davon erschüttert und ergriffen sind. Das ist so erfüllt von Kraft und Gläubigkeit, ist so neu und groß und mutig, daß man gar nichts Vorhergegangenes damit vergleichen kann. Diese Rede wird in ganz Deutschland einen Aufstand der Begeisterung entfachen. Die Nation wird uns fast kampflos zufallen. Die Massen im Sportpalast geraten in einen sinnlosen Taumel. Nun erst beginnt die deutsche Revolution aufzubrechen. 19 Dieser Auftakt zeigt, wie die März-Wahl von den Stimmen Goebbels ’ und Hitlers gewonnen wird, ihren Stimmen vor Ort und im Radio. Unterstützt wird der Wahlkampf also von der neuesten Medientechnik - und vom Flugzeug. Um mit Hilfe des Radios einen Omnipräsenzeffekt zu verstärken, fliegen Redner Hitler und Reporter Goebbels in den vier Wochen bis zum 5. März oft mehrmals am Tag kreuz und quer durch Deutschland. 15. Februar Stuttgart; 17. Februar Dortmund, Westfalenhalle; am 18. Februar München; 19. Februar Köln; 23. Februar Hannover; usw. usw. Es geht darum, das Gefühl zu vermitteln, dass sie stets woanders und doch überall seien. Das Muster ist immer dasselbe: minutenlang die Einleitungs-Reportage von Goebbels, dann Hitler brüllend vor brüllenden Massen; das Ganze jedes Mal live über alle Sender, die Goebbels seit Januar kontrolliert; dort Aufzeichnung auf Wachsplatte und mehrfache Wiederholung wiederum über alle Sender am folgenden Tag. Goebbels verkürzt im Tagebuch das stets gleichartige Konzept seiner Radioproganda auf die lakonische Formel: „ Nachmittags nach Cöln. Dort Hitler. Ich Reportage. “ 20 Goebbels ’ Beschreibung dieser propagandistischen Inszenierung bringt das Radio und mit ihm die eigene medial vermittelte Stimme auf den Begriff. Denn das Dort des Radios ist zugleich Abort, zerschnitten in die je sich aufschiebenden Hälften von Studio und Lautsprecher, von dem Raum des Sprechens, der einer abgedichteten Grabkammer gleichkommt und in dem eine andere Zeit herrscht als im Raum des Lautsprecherhörens, der nur noch vom Supplement eines Gesprochenen erfüllt ist. Der mediale Ort des Radios, wo ist er: vor oder hinter dem Mikrofon? Der autodidaktische Propagandatechniker Goebbels entdeckt den medialen Ort des Radios gleichsam in seiner Stimme und damit wohl eher aus Zufall. Mit seiner Formel „ Dort Hitler. Ich Reportage “ gibt er die Macht der eigenen Stimme von vorn herein als Substitution einer anderen aus. Es ist nicht seine Stimme, die Wirkung, Autorität oder Allmacht behauptet; der Effekt kommt erst noch, folgt, wenn Goebbels endet. So inauguriert er im Rundfunk eine kognitive Macht, die sich radiodramaturgisch als fortgesetzt verschobenes Supplement einer Allmacht inszenieren kann, auf die zum Zeitpunkt seines Sprechens alle warten. Darauf wird Goebbels ’ Rhetorik von nun an setzen, auch in seiner legendären Wollt-Ihr-dentotalen-Krieg-Rede 1943 im Sportpalast. Indem aber sein Sprechen die beschworene Allmacht weder erreicht noch sie repräsentiert - denn dafür steht der Führer, wird die Allmacht ‚ real ‘ . Sie legitimiert und camou- 74 Wolfgang Hagen fliert die tatsächliche hässlich-brutale Alltagsallmacht des Nazi-Terrors auf der Ebene der Propaganda. Die Wirkung der populistischen Allmachtsdemagogie entsteht in der konstitutiven Komplementarität von Goebbels ’ und Hitlers Sprechen, also, in der Wirkung bei den Hörenden: ‚ zwischen ‘ ihnen. Jacques Lacan schreibt in seinem einzigen dem Radio gewidmeten und im Radio gesprochenen Text: „ La toute-puissance n ’ est pas; c ’ est bien pour cela qu ’ elle se pense. “ 21 Die Allmacht existiere nie als eine fix gegebene Realität. Entsprechend ist es nötig, dass ‚ sie sich denkt ‘ , d. h. dass Allmacht stets in einer Differenz inszeniert wird. „ Vor jedem Raum direkter Macht bildet sich “ , sagt Carl Schmitt, „ ein Vorraum indirekter Einflüsse und Gewalten, ein Zugang zum Ohr, ein Korridor zur Seele des Machthabers. Es gibt keine menschliche Macht ohne diesen Vorraum und ohne diesen Korridor. “ 22 Goebbels ’ Radiostimme ist ein solcher Korridor, weil das Radio, in seinen Anfängen mehr denn je, das ausgezeichnete Medium dieses prekären, weil nie sich erfüllenden, und deshalb umso wirksameren Allmachtsphantasmas repräsentiert. III. Goebbels ’ Stimme kommt aus dem Hals einer kleinwüchsigen Gestalt. Seit Goebbels mit 29 Jahren als rücksichtslos brutaler Gauleiter der NSDAP in Berlin auftaucht, und zwei Jahre später, 1928, in den Reichstag einzieht, gilt er in Politik und Presse als ein „ Lügenbold “ . 23 Seine Stimme klingt für die Zeitgenossen technisch, ein wenig klirrend, immer perfekt eingeübt, aber aufgesetzt. Jünger, der von den Nazis verehrte Autor der Stahlgewitter, und Goebbels sind sich spätestens seit 1929 spinnefeind. Und auch Ernst Niekisch, einer der Großen in der NSDAP vor der Machergreifung und glühendster, später kalt gestellter Mitkämpfer Hitlers, nennt Goebbels abfällig einen „ hochtalentierten, bis ins Mark verlogenen Reklamefachmann “ . 24 Ossietzky spricht von einem „ hysterischen Zappelwisch von einem Tribunen “ . 25 Kaum jemand kauft Goebbels eine ‚ echte ‘ Gesinnungshaltung im Sinne Strassers, Röhms, Niekischs oder eben auch Hitlers ab. Nun ist Goebbels zwar unglaubwürdig in jedem seiner Worte, aber clever und klar in der diskurstechnischen Positionierung seiner Rhetorik als die Stimme, die die Führerstimme substituiert. Dabei kann er sich nie sicher sein, ob Hitler diese Rolle mitträgt. Auch dem politischen Gegner entgeht nicht, dass beide oft genug aneinander geraten: „ Er und sein Meister können sich zwar nicht riechen, aber Hitler weiß seinen Reklamechef zu schätzen “ , 26 schreibt etwa Walther Karsch, alias „ Quietus “ . Goebbels ist von Anfang an der Marketing-Mann der NSDAP. Hitler verspricht ihm den Posten des Propagandaministers denn auch schon für die erste Regierung im Januar, aber löst sein Versprechen dann doch erst einmal nicht ein. Stattdessen wird Goebbels zunächst Rundfunkkommissar und führt in einer perfekten medialen Inszenierung binnen vier Wochen die Wahl vom 5. März 1933 zum Erfolg; es ist die letzte freie Wahl in der Republik. Goebbels ’ medienstrategisch größte Tat wird zwei Monate später die Organisation und Radioinszenierung des nun gesetzlichen Mai-Feiertages sein. Aufgeboten wird die bis dahin weltgrößte Lautsprecheranlage vor den Millionenmassen auf dem Tempelhofer Feld. Die Inszenierung wird begleitet von einem 18-stündigen Radioprogramm aus Hörspielen, Interviews, Lesungen, Live-Reportagen und der abschließenden obligatorischen Hitler-Rede. Nie wieder wird im Nazi-Radio in den nächsten zwölf Jahren ein solcher Aufwand an variantenreicher Darstellung des Zur-Macht-Gekommen-Seins betrieben wie an diesem 1. Mai 1933. Tags darauf werden alle führenden Köpfe der Kom- 75 Goebbels ’ Stimme munisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaften verhaftet, soweit sie nicht ohnehin schon eingekerkert sind. Der Terror ist mit Hilfe des Rundfunks etabliert. Wenige Tage, nachdem die sowjetischen Truppen Goebbels ’ Leiche in der Reichskanzlei entdeckt haben, und noch vor der Kapitulation notiert Ernst Jünger in der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1945 in sein Tagebuch eine ausführliche Erinnerung an den ‚ kleinen Doktor ‘ . Es ist dies, soweit ich sehe, die genaueste Beschreibung von Goebbels ’ Stimme: 27 Die Stimme des Doktors war nicht plump aggressiv. Sie war fein gezogen, dünndrähtig, diszipliniert. [. . .] Es war nicht die Stimme der großen Tribunen, die sich ihres Auftrags, ihrer Botschaft vollkommen sicher sind. Der Vortrag hatte ein überlegtes Timbre; er erweckte die Vorstellung sorgfältiger, in asketischen Nachtwachen betriebener Studien. Man findet diese Stimme bei Werbeleitern, ‚ Verkaufskanonen ‘ , die kommen, um komplizierte Versicherungen anzupreisen, und deren Besuch meist damit endet, daß man sich in langwierige Abzahlungsgeschäfte verwickelt sieht. 28 Jünger verweist mithin darauf, dass den Nazis die Macht in den Schoß fällt, weil alle anderen politischen Kräfte am Ende der Weimarer Republik zu schwach sind, sich der NS-Propaganda zu erwehren. Goebbels spielt Jünger zufolge dabei die Rolle des ehrlosen Versicherungsvertreters im feinen Zwirn. Seine Ausführungen zu Goebbels bemühen sich um Sorgfalt und Genauigkeit: Die Bilder waren leicht, doch wirkungsvoll vergröbert, wie ‚ Stirn und Faust ‘ , statt ‚ Kopf und Hand ‘ . Das Ganze lag über dem Niveau der Zuhörer, aber nicht über ihrer Fassungskraft. Der Doktor war auch sorgfältig angezogen, trug einen blauen Anzug aus gutem Stoff. Es war aber kein Zweifel, daß er dazugehörte; so könnte in einer Familie von Mechanikern der studierte Bruder auftreten. 29 Offenbar will Jünger im Nachhinein den vor der Machtergreifung eher bezweifelten, dann aber umso überraschenderen Erfolg der Goebbels ’ schen Auftritte verstehen. Jünger, der seine Abscheu ja nie verhehlt, registriert hier eine Stärke in der Stimme Goebbels ’ , die sich durch keinen der existierenden Tonmitschnitte mehr vermitteln kann. „ Es war eine der Feiern, in denen die klassenlose Gesellschaft entdeckt wurde. Das brachte einen starken Anfall, einen Zustrom von Energie. Man spürte sie siedend in dem großen Saal. “ 30 Goebbels ’ ebenso „ dünndrähtige “ wie plakative Reklamestimme ist ‚ live ‘ offenbar ein auch deshalb so effektives populistisches Organ, weil sie ganz ohne direkten Verweis auf die Stimme des Führers auskommt. So wie Goebbels seine Reden vorträgt, Wort für Wort aufgeschrieben, geht es nicht um die Glaubwürdigkeit der eigenen Person, sondern darum, rhetorisch die kommunitäre Vereinigung einer „ klassenlos “ sich spürenden Gemeinschaft im Führerkult zu suggerieren. Goebbels gibt ein Beispiel des klassischen Populismus, mit all seinen Facetten, wie sie Pierre-André Taguieff für die zahlreichen Populisten des 20. Jahrhunderts resümiert: Das vielleicht spezifischste formale Charakteristikum der Populismen ist ihre hohe Vereinbarkeit mit jedweder politischen Ideologie (rechts oder links, reaktionär oder progressiv, reformistisch oder revolutionär), mit jedwedem ökonomischen Programm (vom Staatsdirigismus bis zum Neoliberalismus), mit unterschiedlichen sozialen Basen und unterschiedlichen Regimetypen. Was den Populismen gemeinsam bleibt, ist eine nach Lob und Tadel strukturierte Rhetorik. 31 In all seinen Reden der späten 1920er Jahre lobt Goebbels und verurteilt scharf, geißelt den Parteien-Parlamentarismus und verherrlicht die völkische Bewegung und den Führer. Um nochmals Jünger zu zitieren: 76 Wolfgang Hagen Hinsichtlich der Elementarkraft, des historischen Rohstoffes und seiner Aufschließung, war das Schauspiel erstaunlich genug. In der Werbung und ihrer Technik waren sie den Bürgern und auch den Kommunisten weit voraus. Die saßen noch tief im Klassenstaat. Ideologisch freilich kamen nur die Gemeinplätze des 19. Jahrhunderts, neu arrangiert, oder noch nicht einmal das [. . .]. Es kam aber im Grunde nicht darauf an, was der kleine, wendige Mann dort vorbrachte. Zuweilen hatte ich den Eindruck, daß er, wie ein Kapellmeister, durch zarte Handbewegungen den Chorus leitete. Ich ging denn auch früher fort. 32 IV. Goebbels ’ Stimme ist nicht ‚ schön ‘ im Sinne des zeitgenössischen Stimmideals der Reinhardt-Bühne mit ihrem hohen Belcanto-Ton eines Joseph Kainz. 33 Sie entspricht nicht einmal den Anforderungen, wie sie Theodor Siebs in seiner 1931 erschienenen „ Rundfunkaussprache “ 34 an eine „ reine “ 35 Hochsprache dekretiert. Goebbels artikuliert, ohne jedes Charisma, 36 mit unüberhörbar südniederfränkischem Dialekt. Seine - Ernst Hanfstaengl zufolge - „ baritonale “ 37 Stimme kommt leicht ins Kreischen, wenn er laut wird oder brüllt. Weder Hitlers nach Ueding „ an sich häßliches, heiser-kehliges Organ “ , 38 das nur im Schreien eine gewisse, erschreckende Faszination hat, noch Goebbels ’ überartikuliert modulierende Stimme sind als solche ein Objekt, das einer Wirkungsanalyse unterzogen werden könnte. Goebbels ’ , wie Hitlers, sind vielmehr beides populistische Stimmen, die in ihrer Wirkung internalisiert werden. Sie gewinnen erst Kontur und Bedeutung, wenn sie als ‚ innere Stimmen ‘ prozedieren. Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit von Stimmen, also von Beginn des 20. Jahrhunderts an, sind dies auch massenmediale Prozesse. Karl Bühler und Herta Herzog fragen deshalb schon in den 1930er Jahren nach dem Zusammenhang zwischen „ Stimme und Persönlichkeit ” und wollen empirisch untersuchen, wie Stimmen „ physignomisch gedeutet “ 39 werden können, d. h. wie Hörerinnen und Hörer glauben, dass eine ihnen unbekannte Sprecherstimme aussieht. Herzog kann in ihrer Untersuchung nichts Rechtes finden und keinen irgendwie distinkten Zusammenhang von Stimmlautlichkeit und Leiblichkeit ermitteln. 40 Bei populistischen Stimmen, Goebbels als Beispiel, liegen die Dinge ähnlich, nur eben spiegelverkehrt. Für die Wirkung und Bedeutsamkeit seiner populistischen Stimme spielt es keine Rolle, wie sie klingt und ob sie als populistisch internalisierte einem kulturellen Ideal entspricht. Für den Populisten, heiße er Goebbels oder Trump, ist nur wichtig, dass er immer erneut die Bindung zu der von ihm induzierten Exklusivität seiner Stimme in seinen ZuhörerInnen verstärkt. Dazu braucht es Zynismus, Verlogenheit und, im Fall Goebbels, charakterliche Haltlosigkeit, Geltungshunger und eine aus tiefer Lebensunsicherheit stammende Anpassungssucht. Er selbst, der seine Wirkung - wohl gestützt auf sein manisches Tagebuchschreiben - von Beginn an gut zu kalkulieren versteht, bekennt schon in den 1920er Jahren: „ Ich bin ein Apostata “ , 41 ein von jedem Glauben und jedem Ideal Abgefallener. Im Juni 1941, lange vor Stalingrad, schreibt er: Und haben wir gesiegt, wer fragt uns nach der Methode. Wir haben sowieso soviel auf dem Kerbholz, daß wir siegen müssen, weil sonst unser ganzes Volk, wir an der Spitze mit allem, was uns lieb ist, ausradiert werden. Also ans Werk! “ 42 Denen aber, die Goebbels am treuesten ergeben sind, seinen MitarbeiterInnen im Ministerium, sagt er angeblich zum Schluss der letzten Besprechung, am 21. April 1945, wenige Tage vor seinem Familienumzug in 77 Goebbels ’ Stimme den Bunker der Reichskanzlei: „ Warum haben Sie mit mir gearbeitet, meine Herren? Jetzt wird Ihnen das Hälschen durchgeschnitten! “ 43 Anmerkungen 1 Gespräch zwischen Heinz Ludwig Arnold und Walter Jens am 15. Oktober 1976 in Tübingen, zit. nach Heinz Ludwig Arnold, Die Gruppe 47, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 76. 2 Hans Werner Richter, Mittendrin: Die Tagebücher 1966 - 1972, München 2012, hier Eintrag vom 7. Mai 1970. 3 Vgl. Irmela Schneider, Cornelia Epping- Jäger, Dispositive Ordnungen im Umbau, Bielefeld 2008, S. 86. 4 Helmut Böttiger, Die Gruppe 47: Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, München 2012, S. 184. 5 Paul Celan, Giselle Celan-Lestrange, Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric, hg. v. Bertrand Badiou, Frankfurt a. M. 2001, Bd. I, 14. Brief vom 31. 5. 1952, S. 21 ff. 6 Doris Kolesch, Sybille Krämer, Stimme: Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006, S. 11. 7 Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt a. M. 1979, S. 25. 8 Vgl. Schneider, Epping-Jäger, Dispositive Ordnungen im Umbau, S. 95. 9 Thomas Mann, Briefe, Band. 3, Frankfurt a. M. 1979, S. 341; Brief an Klaus Mampell vom 17. Mai 1954. 10 Thomas Macho, „ Stimmen ohne Körper - Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme “ , in: Doris Kolesch, Jenny Schrödl (Hg.), Kunst-Stimmen, Berlin 2004, S. 130 - 146, hier S. 132. 11 Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Leipzig 1925, S. 100. 12 Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 197 f. 13 Julian Jaynes, The origin of consciousness in the breakdown of the bicameral mind, Boston, Mass. et al. 2000, S. 208. 14 Bettine Menke, „ Memnons Bildsäule. Über ein Emblem der romantischen Poesie “ , in: Wilfried Seipel (Hg.), Agyptomanie. Europäische Ägypten-Imagination von der Antike bis heute, Mailand 2000, S. 311 - 321, hier S. 313. 15 Vgl. Marcel Kuijsten, Reflections on the Dawn of Consciousness. Julian Jaynes ’ s Bicameral Mind Theory Revisited, Henderson 2007. 16 William James, Talks to Teachers and Students, New York 1900, S. 17. 17 Joseph Goebbels, Die Tagebücher: Sämtliche Fragmente, Teil 1.2, München 2008, S. 372. 18 Joseph Goebbels, Tagebücher, 1924 - 1945, München 2008, S. 371. 19 Ebd., S. 371 f. 20 Ebd., 379. 21 Jacques Lacan, „ Radiophonie “ , in: Scilicet 2/ 3 (1979), 55 - 99, hier S. 90. 22 Carl Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Pfullingen 1954, S. 14. 23 Zit. nach Ralf Georg Reuth, Goebbels, München et al. 1991, S. 262. 24 So Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 14, Abt. 2, Essays VIII, Ad hoc, Stuttgart 1978, S. 103. 25 Carl v. Ossietzky, „ Egal legal “ , in: Carl v. Ossietzky, Kurt Tucholsky, Die Weltbühne der Schaubühne Jg XXVII., Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft, 27 Jg. Erstes Halbjahr 1931, Berlin 1931, 409 - 418, S. 412. 26 Quietus, „ Hitler-Horoskop “ , in: v. Ossietzky, Tucholsky, Die Weltbühne der Schaubühne, 607 - 611, S. 610. 27 Vgl. Matthias Schöning, Ernst-Jünger-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart 2014, S. 212. 28 Zit. in Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 210. 29 Ernst Jünger, Strahlungen II, Teil 3: Tagebücher, Sämtliche Werke Bd. 3., Stuttgart 2015, Eintrag vom 7. Mai1945. 30 Ebd. 78 Wolfgang Hagen 31 Pierre-André Taguieff zit. nach: Karin Priester, Populismus: historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt a. M. et al. 2007, S. 41. 32 Jünger, Strahlungen II. 33 Vgl. Meyer-Kalkus, Stimme, S. 264. 34 Theodor Siebs, Rundfunkaussprache: im Auftrage der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, Berlin 1931. Bis in die 1970er Jahre hinein ist Siebs ’ „ Rundfunkaussprache “ das Lehrbuch für die so genannte „ Mikrophon-Probe “ , ohne die niemand vor ein Radiomikrofon gelassen wird. 35 Theodor Siebs, Deutsche Hochsprache: Bühnenaussprache, 16., völlig neubearb. Aufl. Berlin 1957, S. 8. 36 Alexander Kirchner, „ Nationalsozialistische Rhetorik “ , in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 6: Must-Pop, Darmstadt 2003, S. 115 - 135, hier S. 130. 37 Vgl. Peter Longerich, Joseph Goebbels. A Biography, New York 2015, S. 1125. 38 Kirchner, Rhetorik, S. 130. 39 Karl Bühler, Ausdruckstheorie: Das System an der Geschichte aufgezeigt, Stuttgart 1968, 2., unveränd. Aufl., S. 192. 40 Vgl. Herta Herzog, „ Stimme und Persönlichkeit “ , Zeitschrift für Psychologie 130 (1933), S. 300 - 369, hier S. 349. 41 Joseph Goebbels, Die Tagebücher: Sämtliche Fragmente. Teil 1.1, München 1987, Eintrag vom 21. Januar 1926, S. 156. 42 Goebbels, Tagebücher, Eintrag vom 16. Juni 1941, S. 1603. 43 So Hans Fritsche über die letzte Konferenz bei Dr. Goebbels am 21. April 1945, abgedruckt in: Herbert Michaelis, Ernst Schraepler, Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, Bd. 23, Berlin o. J., S. 114 ff. 79 Goebbels ’ Stimme