eJournals Forum Modernes Theater 28/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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Bei der von Edit Kaldor konzipierten Performance One Hour üben die Partizipierenden Sterben. Die Zeitlichkeit dessen, was sie während der titelgebenden Stunde durchleben, steht im Zeichen der Einsicht, dass der Tod nicht kommt, sondern längst da ist. Die Reproduktion von Körperzellen bleibt hinter deren Absterben zurück; Kopierfehler führen zu Störungen, die sich früher oder später als kritisch erweisen. In der Auseinandersetzung mit dieser Zeitlichkeit eines ins Leben eingelassenen Todes befragt und revidiert One Hour die Zeit-Dramaturgie der Theateraufführung. Die Performance lässt durch ein Spiel mit der individuellen Einbildungskraft das Sterben in seiner Vereinzelung, seiner absondernden „Jemeinigkeit“ erfahrbar werden, organisiert dies aber in einer Situation kollektiver Anwesenheit im Raum des Theaters. Die Analyse versucht die Differenzen dieser Anwesenheit und ihrer Kollektivität zu derjenigen von Theateraufführungen herauszuarbeiten, die damit beginnen, dass ein Chor einzieht – oder dass der moderne Schatten der Parodos, die ordnungsstiftende Kraft der bürgerlichen Institution Theater, die Anwesenden zu einem Publikum versammelt: Was geschieht, wenn die Leute, die ins Theater kommen, Leute bleiben, zerstreut in ihre körperlichen Eigenzeitlichkeiten, ohne imaginäre Gemeinschaft, die das Kollektivsubjekt einer großen Aufmerksamkeit daraus formt? Wenn keine zeitgenössische Reproduktion des Schicksalhaften die Begebenheiten während der im Theater verbrachten Stunde zu einem Ereignis fügt, sondern heillose Polychronie die Gegenwarten des Lebens und des Sterbens einander zur Seite stellt?
2013
281 Balme

We’ll die alone together

2013
Kai van Eikels
We ’ ll die alone together. Edit Kaldor und der Tod ohne Parodos Kai van Eikels (Berlin) Bei der von Edit Kaldor konzipierten Performance One Hour üben die Partizipierenden Sterben. Die Zeitlichkeit dessen, was sie während der titelgebenden Stunde durchleben, steht im Zeichen der Einsicht, dass der Tod nicht kommt, sondern längst da ist. Die Reproduktion von Körperzellen bleibt hinter deren Absterben zurück; Kopierfehler führen zu Störungen, die sich früher oder später als kritisch erweisen. In der Auseinandersetzung mit dieser Zeitlichkeit eines ins Leben eingelassenen Todes befragt und revidiert One Hour die Zeit- Dramaturgie der Theateraufführung. Die Performance lässt durch ein Spiel mit der individuellen Einbildungskraft das Sterben in seiner Vereinzelung, seiner absondernden „ Jemeinigkeit “ erfahrbar werden, organisiert dies aber in einer Situation kollektiver Anwesenheit im Raum des Theaters. Die Analyse versucht die Differenzen dieser Anwesenheit und ihrer Kollektivität zu derjenigen von Theateraufführungen herauszuarbeiten, die damit beginnen, dass ein Chor einzieht - oder dass der moderne Schatten der Parodos, die ordnungsstiftende Kraft der bürgerlichen Institution Theater, die Anwesenden zu einem Publikum versammelt: Was geschieht, wenn die Leute, die ins Theater kommen, Leute bleiben, zerstreut in ihre körperlichen Eigenzeitlichkeiten, ohne imaginäre Gemeinschaft, die das Kollektivsubjekt einer großen Aufmerksamkeit daraus formt? Wenn keine zeitgenössische Reproduktion des Schicksalhaften die Begebenheiten während der im Theater verbrachten Stunde zu einem Ereignis fügt, sondern heillose Polychronie die Gegenwarten des Lebens und des Sterbens einander zur Seite stellt? 1 Stellen Sie sich vor, es kommt kein Chor. So wie Godot nicht kommt. Oder nicht so, wie Godot nicht kommt, sondern so, wie der Tod nicht kommt. So, wie Sie sich den Tod nicht vorstellen. Eine populäre, seit dem Mittelalter überlieferte Vorstellung lässt uns europäisch geformte Subjekte den Tod als Sensenmann fürchten, der eines Tages vor der Tür stehen wird. 1 Der Tod klopft an. Die bange Erwartung dieses Klopfens vertagt zugleich die Furcht, denn dann, wenn es klopft, wird noch Zeit genug sein, sich richtig zu fürchten. Dann, wenn die Parodos des Todes bevorsteht, bricht jene Zeit an, in der mein verbleibendes Leben zum Tode sein wird. Auch davor kann einem grauen. Was die Existenzphilosophie Angst genannt hat, in Unterscheidung von der Furcht, meint gerade die zeitliche Disposition des subjektiven Empfindens, die aus einer solchen Vertagung des Sterbens hervorgeht: Angst habe ich vor der Freiheit eines Lebens, das, obwohl endlich, in jedem Augenblick mit dem Unendlichen spielt und darin auch ein unbegrenzbares Verpassen meiner selbst ermöglicht. Trotzdem, um wie viel erträglicher ist die Gewissheit, dass der letzte Gast, dem ich öffnen muss oder durch ein dummes Versehen aufgemacht haben werde, mich nicht mehr verlässt, dass er aus meinem Haus nur mit mir an der Hand wieder auszieht, dass der Klang der weißen Knöchel an der kleinen Seitentür mein Schicksal besiegelt - um wie viel beruhigender, sich für den Auftakt Forum Modernes Theater, 28 (2013 [2017]), 56 - 68. Gunter Narr Verlag Tübingen der Schlusssequenz meines Lebens so einen Auftritt auszumalen als anzunehmen, der Tod sei schon hier. Stellen Sie sich vor, Ihr Tod ist schon da, wo Sie jetzt sind. Wo immer Sie sind. Wo immer wir sind. Wir: eine Menge, eine Clique, eine Familie, zwei Verliebte oder aus schwächerem Beweggrund von den Übrigen Abgeschiedene. Wir: die ziemlich Vielen, die eine Straßenkreuzung überqueren, einen „ Barnes Dance “ , wo die Ampel für sämtliche Fußgänger zugleich auf Grün schaltet und dann auf Rot. Wir: zu Besuch bei Unbekannten. Wir: achtzig Menschen im Berliner HAU 3, die sich fragen, wie aufreibend das mit dem Sterben heute Abend wohl wird. Wer wären wir, wenn wir damit rechneten, es werde kein Pochen von außen geben? Keine eigens anbrechende Zeit-zum- Tode, die das Klopfsignal einläutet wie eine aus der Anonymität der allgemeinen, Leben als Kontinuum verwaltenden Zeitmessung herausgedrehte, jemandem wie mir persönlich geltende Uhr? Wären wir noch die, die wir sind? Sicherlich wären wir nicht mehr die, die ab und an ins Theater gingen, um sich für ihr Leben eine Portion Schicksalszeit abzuholen. Die an einem Ort zusammenkamen, wo man sich darauf verlassen konnte, dass ein Chor einzog. Und damit, dass ein Chor einzog, die Lebenszeit, die alltäglich über ungezählten Zufällen vergehende sinnlose, trostlose, weder zu rechtfertigende noch zu bestreitende Zeit einer Zeit stattgab, deren Vergehen die edle Prägung einer Bestimmtheit vorzeigte. Stolz, meistens, bis hinein in die Knechtungen im Kerker des Sublunaren. Unter Umständen stand das Rein und Raus des Chors im Bund mit der kompositorischen Einheit des Dramas, der Verschränkung von Beginn, Mitte und Abschluss, wie die aristotelische Poetik sie fordert; doch für das, was mit den Leuten passierte, die gekommen waren, um sich für ihr Leben eine Portion Schicksalszeit abzuholen, war das Rein und Raus und vor allem das Rein wichtiger als diese Einheit. Es machte wenig aus, wenn die dramatische Fabel zerfaserte, solange der Chor einzog. Und noch Jahrtausende später, als die Fabeln der Theaterstücke immer absichtlicher zerfaserten, blieb die kulturelle Institution Theater sich treu, indem die Menschen, die nach wie vor kamen, um sich für ihr Leben eine Portion Schicksalszeit abzuholen, das, was einst mit ihnen passiert war, wenn der Chor einzog, nun bewerkstelligten, ohne dass extra ein Chor einzog: Sie wurden von einem Haufen Leute zu einem Publikum. Zu einem geordneteren Kollektiv. Das nämlich bewirkte die Parodos, der singende Einzug des Chores in der Aufführung der Tragödie. Vom Kult nahm die Theateraufführung den Anspruch mit, Anwesenheit einer imaginären Gemeinschaft zu weihen. Dafür reichte es nicht, dass da Leute saßen am Hang und hinunter auf die Szene schauten, während ihre Körper zwischen sitzenden, liegenden, stützenden und lehnenden Haltungen hin und her wechselten, um die Stunden, die gespielt wurde, zu überstehen. Es reichte nicht, oder vielmehr war dieses Herumhängen am Hang zu viel. Wie die Vielen ohnehin zu viel sind für jegliche Form von Gemeinschaft. Das materielle Zugegensein musste weniger werden, zurücktreten gegenüber einer Anordnung von Aufmerksamkeit, von der man glauben konnte, das szenische Geschehen sei ihr Bezugspunkt, das Integral der in ihr ausgespannten Kollektivität. Denn das war und ist, was ein Publikum ausmacht: ein Zustand von Aufmerksamkeit, der das relative Durcheinander der irgendwie sitzenden, liegenden, stützenden und lehnenden Körper so weit aufhebt, dass eine Ordnung der Teilhabe am Objekt der Aufmerksamkeit sich Geltung verschafft. Aufhebt, indem das Miterleben des Miterlebten das zu Feste, eigenwillig Eingewinkelte, Verrenkte und Verstockte in den Hal- 57 We ’ ll die alone together. Edit Kaldor und der Tod ohne Parodos tungen der Vielen aufweicht, wie der sonst so kunstfeindliche Platon mit einiger Begeisterung angesichts der choreia, des Chorreigens, vermerkt. Von der Leidenschaft des Tanzes und Gesanges körperlich affiziert, würden die Seelen im Publikum wieder flüssig wie bei jungen Menschen, die Erziehung noch zu formen vermag, erklärt sein Athener in den Nomoi. 2 Und eben weil die Auslieferung der Menschen an ein Ereignis im Zustand des Publikums eine Chance eröffnet, die schlechte Kollektivität der gegebenen Verhältnisse in eine gute Kollektivität umzuformen, hängt der politische Wert der Aufführung davon ab, wie der Chor performt. Der Chor soll politisch unter den Vielen so viel wie möglich in Ordnung bringen. Er soll aus verdienten älteren Bürgern bestehen, die sich auf die ethischen Qualitäten des Rhythmischen verstehen, ein Wissen um den Rhythmus als taxis haben, um die künstliche, vom Menschen einzurichtende Ordnung, die im guten Fall dem kosmos, der natürlichen Ordnung, entspricht. Mit der Präzision des Ekels vor all dem Blödsinn, den Kunst unters Volk bringt, wo sie phantasiert, in ihr Scheinen verliebte Bilder fabriziert, erspäht der Philosoph das eine nicht vom Schein Verdorbene, die kollektive Performance des Chores. Desinteressiert an der Tragödie, 3 unbeeindruckt von den Ambivalenzen der Repräsentation, den Korrespondenzen und Verschiebungen zwischen der zivilen, fiktionalen und personalen Identität des Tragödienchores, benennt Platon, was das Theater vom Chor beibehalten wird, nachdem zuerst die Mehrzahl der Performer und schließlich, nach den gelegentlichen Ein-Personen-Chören in Renaissance und Barock, auch die Persona des Chores verschwindet: Der Chor richtet ein. Ehe er ans Werk der rhythmischen Administration geht und körperlich die Seelen derer adjustiert, die im Publikum aus gesellschaftlichen Verfestigungen sich lösen, macht er Publikum, ruft mit seinem Erscheinen vor den Auftritten der Spieler die, die schon da sind in großer Zahl, an den versetzten Ort eines Anfangs im Kollektivsingular. Versetzt, denn mit diesem Anfang schaltet sich Schicksalszeit ein. Der Wechsel zwischen den beiden kollektiven Zuständen von Anwesenheit, dem Haufen Leute und dem Publikum, beruht im Übergang einer vulgär pluralen Zeit, die lauter Körper untereinander ausmachen, indem ihre Rhythmen sich synchronisieren und desynchronisieren, in eine für alle gleichermaßen bindende, vom Schicksal in Form gehaltene Zeit. Diese Form bietet die Aufführung an, seit die Tragödienaufführung zum Ursprung des Theaters hat werden können. Im bürgerlichen Zeitalter übernimmt die Institution des Theaters selbst ihre Bereitstellung und Betreuung. Wenn die tiefgreifenden politischen, sozialen, ökonomischen, technologischen, nicht zuletzt auch körperlichen Veränderungen in Europa und der europäisch kolonisierten Welt niemals dazu führten, das Wesen der Aufführung zu erschüttern - so dass wir noch heute wohlig erschauern, sobald etwas aus uns ein Publikum macht - , verweist das auf eine Verlegenheit um die Form in der Zeit, seit ein aufgeklärter Status quo des Zeitverständnisses das Schicksal verabschieden musste. Eine Verlegenheit, die eine erfolgende Aufführung erfolgreich leugnet, jedes Mal wieder von neuem. Aufführen: Anders als ein Gemälde, dessen materieller Träger selbst schon eine Gestalt hat, d. h. einen wahrnehmbaren, kinästhetisch kognitiv ermittelbaren Rand, oder ein literarischer Text, der mit dem Buch auf einen formatierten Träger zählt, vollzieht das Performative sich durch lebende Materie, unfähig zur Unbeweglichkeit, selbst zur Wahrung der Proportionen, zufällig in ihrer gegenwärtigen Verfassung, von schleimiger Herkunft und mit schleimigem Verbleib. Die Materie wird gerade in ihrem Leben benö- 58 Kai van Eikels tigt, um dem Aufgeführten Lebendigkeit zu verleihen. Lebendigkeit des Vollziehens wird die Überzeugungskraft der Performance gewesen sein, ungeachtet der Werte und Signifikanzen, die spezifische Ästhetiken dieser Lebendigkeit zumessen oder absprechen. Welche Form aber soll einer Aufführung von dieser Materie her zukommen? Letztlich unterstellt die Integrität der Aufführung, dass das Leben selbst eine Form hat. Damit da mitten in der Zeit Zeitliches einen Anfang zu nehmen und auf ein Finale zuzusteuern vermag, muss etwas dem Leben, das diesem Zeitlichen in sein Zum-Vorschein-Kommen hilft, eine formale Bestimmung geben. Und zwar nicht dem Leben einer Person, sondern dem Leben in seiner kollektiven Dimension, denn das Leben eines Einzelnen mag immer irgendeinen Sinn erfüllen, der seinen Zeitgenossen entgeht, aber die Anwesenheit Vieler bedroht Form. Unter Vielen wimmelt Leben. Unter Vielen fängt nichts verbindlich an und kommt nichts verbindlich zum Ende. Unter Vielen geht zu viel weiter, um Geschehen in die Mitte zwischen einen Anfang und ein Ende zu rücken, es für ein Ereignis, gar ein Gemeinschaft stiftendes Ereignis auszugeben. Unverhältnismäßig viel mehr als jeder Einzelne brauchen die Vielen deshalb ein Außen der Zeit, das zu einem Zeitpunkt in die Zeit interveniert, um ihrer Anwesenheit Form zu verschaffen. Dem Theater der griechischen Antike steht dafür die Einheit der Unterscheidung von Ewigkeit (aion) und Zeit (chronos) zur Verfügung. ‚ Schicksal ‘ bezeichnet die Verbindung der beiden Seiten dieser Unterscheidung: Im Schicksal macht das Ewige sich inmitten des Zeitlichen bemerkbar, zeichnet unter all dem Zufälligen eine Notwendigkeit sich ab. Statt Zahlen übernehmen kosmische Proportionen. Die Tragödienaufführung passt ihren Ablauf der Sonnenbahn ein. Die Dramen handeln von Helden, die mit Zubestimmtem ringen, und in peripeteia und anagnorisis, dem Moment des entscheidenden Umschlags oder der enthüllenden Einsicht, feiert die Fabel den außerordentlichen Augenblick, da hinter dem scheinbar Widersinnigen die Logik der Vorsehung aufleuchtet. Der mimetische Zirkus gestaltet dabei bloß aus, was der Auftritt des geordneteren Kollektivs körperlich so machtvoll behauptet, dass die Anwesenheit der Menschen am Hang für die Dauer der Aufführung daraufhin nichts anderes mehr sein kann als die Evidenz einer kosmisch autorisierten Zeit. Kulturgeschichtlich, ja selbst theatergeschichtlich sieht es aus, als ob die Schicksalsvorstellung mit der Zeit an Kraft verlöre. Shakespeare bezieht die Raffinesse seiner Darstellung bereits aus ihren Verunsicherungen, wenn in Othello etwa eben jener Sturm, der das kosmische Analogon der Schlacht zwischen Venezianern und Türken ist, dafür sorgt, dass die türkische Flotte abtreibt und die Schlacht gar nicht stattfindet. Hamlets berühmte Bemerkung, es liege eine „ spezielle “ Prophetie im Sturz eines Spatzen vom Himmel, findet ihre ironische Wahrheit in der Gleichgültigkeit, in die der unfähige Rächer die Alternativen auseinanderdividiert: „ If it be now, ’ tis not to come. If it be not to come, it will be now. If it be not now, yet it will come [. . .] “ . 4 Weltanschaulich fraglich geworden, überdauert das Schicksal indes nicht allein in den volkstümlichen Formeln des Dafürhaltens, die Freunde der Familie stets aus dem Ärmel ziehen, um die Angst vor einem absurden, das Leben seines familiären Sinnes beraubenden Todes zu bannen (und die in der zeitgenössischen Esoterik prosperieren wie nie). Die Zeitkünste bedürfen des Schicksals zur poetischen Konstruktion. Eine Disposition der Zeit zum Sinnvollen muss die Kohärenz von Werken gewährleisten, die lauter Vergehen zusammensetzen und Werk doch nur sind, sofern sie dem Vergehen ein Mehr abgewinnen, wenn sie ihm schon nichts entgegensetzen können als 59 We ’ ll die alone together. Edit Kaldor und der Tod ohne Parodos schwache Aussicht auf Klassikerstatus. Die moderne Ästhetik entwickelt sich durch eine Reihe von Manövern, mit denen Poetik (also die technische Herrschaft des Herstellens über alles, im Umweg durch dessen Fingierung) das Schicksalhafte immer weiter in die Zeit hinein verlagert. Das Ewige büßt sein Draußen ein; es wird zu einer immanenten Differenzgröße ohne positive Substanz und eigene Seinssphäre. Die „ Verzeitlichung “ in der europäischen Ästhetik ab ca. 1800 ermächtigt eine Reflexionspoetik, Ewigkeitsmitteilungen quasi beliebig im Irdischen zu verteilen, in einem gewissen Schimmern selbst der banalsten Begebenheit jene Nichtidentität wiederzuerkennen, von der ein unerschütterliches Festhalten am Kosmischen annehmen heißt, dass Unsinn darin auf sein Spiegelbild treffe. Das reflexive Management des Ewigen von der behelfsmäßigen Regiebrücke am Kamm der Immanenz schiebt auch den Auftritt des Chores in die Mitte. Friedrich Schlegel zieht die Konsequenzen seiner Epoche, die im Chor der antiken Tragödie einen idealen Zuschauer erblicken wollte, wenn er die Parekbasis, das Vortreten des Komödien- Chores zwischen den Akten, zum poetischen Prinzip erklärt, das im Roman - der Form aller (Nicht-)Formen, der Poetisierung des Lebens selbst - „ durchgängig “ sein müsse. 5 Der Einzug des Chores verdoppelt sich in einem Dazwischentreten, einer Unterbrechung des Geschehens zwischendrin. Verdopplung sorgt vor und sorgt nach. Und in dem Maße, wie es zu gelingen scheint, kraft des Bruches und gewissermaßen entlang der Verzweigungen, mit denen dieser in die Vielen hineinreicht, doch nochmals so etwas wie Gemeinschaft einzubilden, darf das Verdoppelte gern entfallen. Das Theater, als kulturelle Institution, kann den Chor nicht zurücknehmen. Dem Einzug des Chores entspricht auch keine Reversion des Effektes bei seinem Auszug. Der Auszug hat eher was von einem Abhauen. Das Kollektiv der Eingezogenen stiehlt sich davon. Am besten löste es sich in Luft auf, doch wohl oder übel (das Theater rettet, es zaubert nicht oder schlecht) geht es auf demselben Weg raus. Dieses Weggehen entfernt die Differenz zwischen Ereigniszeit und Lebenszeit keineswegs wieder aus den Körpern. Es ist auch nicht das Ende der Aufführung. Die Aufführung soll auf keinen Fall damit enden, dass das Drama aus ist und die Abteilung zwischen skene und theatron in den Feierabend entschwindet. Ihre kulturelle Wirksamkeit als Instituierungsprogramm einer bestimmteren Zeit und einer geordneteren Kollektivität gewinnt die Aufführung erst damit, dass die Endlichkeit des Ereignisses, das sie für die Mitglieder des Publikums gewesen sein wird, sich vom Zeitpunkt des Vorstellungsschlusses emanzipiert. So macht der in die Institutionalisierung kollektiver Anwesenheit eingezogene Chor sämtliche Emanzipationen des Theaters von sich selbst, wie die Avantgarden des 20. Jahrhunderts sie versuchen, unzerstört mit, stellt sich jedes Mal wieder ein wie eine ödipale Determinierung: ein vielleibiger Vater, dessen Stimme nach Resonanz heischt. 6 In dem Maße, wie die Aufführung der kunstpolitisch ambitionierten Klassik, der Moderne und Postmoderne im Anspruch besteht, das Publikum sei Teil von ihr, dehnt ihr Zeitraum sich über sämtliche Abgänge hinweg auf die virtuelle Sphäre aus, die die Lebenspfade der Vielen in die Zerstreuung familiär umspannt. Im Leben zu Vielen lebt so fortan etwas vom Publikum fort. Daran, dass die Versammlung auf der Tribüne die Gegenwart des Publikum-Gewesenseins nicht mehr los wird, nie im Leben wieder los wird, heftet sich die Hoffnung derer, denen die gerichtete Kollektivität des Publikums wie ein Vorblick in die schönere Zukunft der Menge erscheint. Schiller damals; Rancière unlängst. 7 Die Vielen, denen man nicht anmerkt, dass sie mehr Publikum werden, bleiben 60 Kai van Eikels hinter der Hoffnung zurück, und da finden wir sie bis heute: hinter der Hoffnung zurückgeblieben. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es. Die von der Aufführung in die Welt gesetzte Unbezifferbarkeit ihres Endes ähnelt der strategischen Unschlüssigkeit über die Grenze zwischen Leben und Tod. Tatsächlich dient diese Verwischung des Zeitpunkts, zu dem die Aufführung endet, dazu, die Zeit des weiteren Lebens auf eine ähnliche Weise zu bestimmen, wie das Anklopfen des Todes, der Vorstellung nach, die restliche Lebenszeit als die Zeit-zum-Tode bestimmen wird. Im Tausch für die am Aufführungsort geleistete Kopräsenz wurde mir eine Portion Schicksalszeit oder Schicksalszeitsurrogat mit auf den Heimweg gegeben. Wie eine sanftere, suggestivere, mit meiner Müdigkeit einvernehmlichere Gegenstimme zu der, die mir „ Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens! “ zubrüllt, weckt die Erinnerung an die Aufführung mich an allen kommenden Morgen mit dem Gefühl, mein Leben habe durch diesen Besuch, diesen Publikumsausflug, eine Schlaufe jener Form zurückbekommen, von der man fairerweise kaum erwarten durfte, dass Leben heutzutage sich in sie fügt. 2 Stellen Sie sich vor, Sie sterben. Doch, doch, das geht. Sehr gut sogar. Der Tod ja, der entzieht sich meiner Vorstellung, sobald sie sich von volkstümlichen Bildern ab- und mir zuwendet. Jedes Mal, wenn mir überraschend wieder einfällt, dass da ein Moment kommt, ein Jetzt, ein acht Uhr, das mich nicht mehr unter den Lebenden sieht, stolpert die Einbildungskraft, die mir gewöhnlich hilft, gebeten oder ungebeten, Abwesendes zu vergegenwärtigen. Sie strauchelt, stürzt in einen Abgrund. Da, wo ein Bild, ein Sound, eine Geste, Bewegungen, ein Rhythmus, Geschmack oder wenigstens der Schmerz eines Aufbissempfindens sein sollte, ist . . . nichts. Nicht einmal eine stichhaltige Schwärze (mein Nichts ist dunkel, aber bloß ausweichend, weil das Helle mehr an Etwassen hängt). Die konkrete Unvorstellbarkeit dessen, was jenseits der Grenze zwischen Leben und Tod liegt, liefert einen willkommenen Vorwand, auch dem letzten Abschnitt vor der Grenze selten Beachtung zu schenken. Die Verdrängung des Todes organisiert die des Sterbens gleich mit. Taktvollerweise fragt ja niemand, wie ich meine Seele fahren zu lassen gedenke. Es verlangt heute keine Ethik mehr eine Haltung im Angesicht des von Geburt an nahenden Todes, für die ich beizeiten Sterben zu lernen hätte. Gefasstsein auf das unerwartete Zuschlagen der Sense war wichtig, bevor die Menschheit Wahrscheinlichkeitsrechnung beherrschte und im Durchschnittsalter Trost fand. Inzwischen wäre derart Unverfrorenes wie das von Montaigne für die Philosophie reklamierte „ apprendre à mourir “ 8 nur noch mit großer Mühe gegen die Gesellschaft zu absolvieren. Man legte mir die austrainierte Seelenruhe oder mein Einverständnis in das jederzeit mögliche Abberufenwerden als Arroganz aus, schnitte mich wie einen existenziellen Lohndrücker. Wenn nicht aus Ängstlichkeit, muss ich die Wirklichkeit meines Sterbens aus Rücksicht verheimlichen. Daran ändert auch wenig, dass staatliche Verwaltung mich mittlerweile dazu drängt, dem Ablebensprozess doch Aufmerksamkeit zuzuwenden. Allerdings nur eben so weit wie unerlässlich, um eine Entscheidung zu treffen, die diese oder jene Interessengruppe gern getroffen sähe: Ich soll eine Patientenverfügung ausfüllen, um Ärzten Gerichtsverfahren zu ersparen. 9 Ich soll Organe zur Entnahme freigeben. Ich soll rechtzeitig Notfallpläne schmieden bezüglich einer kritischen Phase im Durchlaufen der letzten Stadien (Herztod oder klinischer Tod, Hirn- 61 We ’ ll die alone together. Edit Kaldor und der Tod ohne Parodos tod oder biologischer Tod, intermediäres Leben danach, Zelltod, absoluter Tod). Ich soll etwas Bestimmtes wollen für diese Zeit, obwohl ich nicht sterben will. Jedenfalls jetzt nicht. Und vielleicht auch später zu keinem Zeitpunkt bis zu meinem Tod. Kulturkritik wirft unserer Gesellschaft vor, sie sei todesvergessen, weil das Individuum in ihr ohne gemeinschaftlichen Halt lebe und sterbe. So schon die melancholische Pointe gegen Ende von Philippe Ariès ’ Essais sur l ’ histoire de la mort en Occident: Mit den rituellen und zeremoniellen Formen fehle dem Sterben der Ausgang ins Öffentliche, so dass es eingesperrt bleibe in der intimen Privatheit der Wohnung oder der anonymen Privatheit des Krankenhausbetts. 10 Der moderne Mensch sehe sich so seines Todes enteignet. Jacques Derrida meldete in Mourir, s ’ attendre aux „ limites de la vérité “ Zweifel an, ob diese pauschale Diagnose mit ihrer Logik des Eigenen und der Enteignung nicht die Veränderungen dessen außer Acht lässt, was Privatheit und Öffentlichkeit heißt. 11 Sollte die Dispersion jener bürgerlichen Öffentlichkeit, wie sie im 18. Jahrhundert aus den Möglichkeiten entstand, die das Few-tomany-Medium Zeitung der Phantasie von einer Menschheit einräumte, ausgerechnet das Sterben verschonen? Eine politische Geschichte des Todes sollte die Kohabitation aufzeigen zwischen einer zentralisierten Öffentlichkeit (des Dorfes, der Stadt, der Nation) und einer Szene, auf der das Dahinscheiden eines einzelnen Menschen einen Resonanzapparat vorfand, um alle zu bestürzen. Eine Theatralität des Todes konnte dem Sterben den allseits mitteilbaren Sinn einer Beziehung zum eigenen Tod geben, solange Öffentlichkeit dem Modell des Theaters verhaftet war. Und die stärkste Phase diesbezüglich erlebte die Theatervorstellung in jener historischen Periode, die sie von der realen Versammlung ablöste und das Spektakel als Spektakuläres in die Imagination der zerstreuten, ein Zeitungsleserpublikum bildenden bürgerlichen Subjekte verlegte. Bürgerliche Öffentlichkeit machte das Sterben zum letzten Auftritt des heldenhaften Mitglieds einer imaginären Gemeinschaft. Repräsentant der Allgemeinheit, als deren Forum sich diese Öffentlichkeit präsentierte, stellte der Heros ‚ Bürger ‘ zugleich die starke Subjektivität der Ausnahme dar. Wie sein Sprechen zu Lebzeiten überbrachte auch der Nachruf auf ihn diese Botschaft: er sei einen menschenwürdigen Tod gestorben, den Worte, die ihn angemessen erinnern, der Allgemeinheit vermachen; und dieser Tod sei dabei so unverwechselbar der seinige gewesen, dass wir Übrigen uns ein Beispiel daran nehmen müssten, wenn man das könnte. Die Nachrufe auf Prominente, die bei den Zeitungsredaktionen, Radio- und TV- Sendern bereitliegen, um sie im Todesfall rasch Umständen anzupassen, reproduzieren bis heute eisern dieses Format. Aber so wenig wir den Raum, den Few-to-many- Massenmedien in Kooperation mit den staatlichen Organen administrieren, noch als die Öffentlichkeit hinnehmen, kann die von ihnen besorgte Resonanz heutzutage das Modell für Kollektivität anlässlich des Todes sein. Pointierte Arnold Gehlen mit dem Spruch, das Individuum sei „ eine Institution in einem Fall “ 12 treffend eine Welt, in der die Institutionen zusammen mit den Sozialleistungen auch das Management der Gemeinschaftsfiktion übernahmen, löst Kollektivität sich mittlerweile vielerorts von institutionell definierten Verfahren. In den unscharfen Randbezirken institutioneller Strukturen und dort, wo die Eigenkomplexität der Institutionen es leicht macht, sie zu ignorieren, wachsen Zonen eines verwahrlosten Kollektiven. Mahner sagen angesichts von eskalierender hate speech und körperlicher Gewalt, die pogromhafte Formen annimmt, wir müssten zurück zum bürgerschaftlich-staatlich regulierten Gemeinschaftlichen. Aber die Rede von der Verwahrlosung ist positiv wie negativ zu hören 62 Kai van Eikels als Loskommen des politisch Wahren vom zentral Verwalteten. Anders als von Richard Sennett prophezeit, hat die „ Tyrannei der Intimität “ den Leuten ihre Sensibilität für die Differenz des Öffentlichen zum Privaten keineswegs ausgetrieben. Zurecht verunsichert über den Verlauf der Grenze zwischen öffentlich und privat, die Kommunikationsmedien und -formate im 21. Jahrhundert zur Disposition stellen, findet man sie dort im Sozialen Netzwerk polternd und hetzend unter ihren Klarnamen, als sei ein Mordaufruf nur ein etwas dunkleres Zuzwinkern - hier sensibler, irritierbarer denn je, wenn sie auf ihren tumblr-Blogs Fotos zum Thema Tod auslegen wie eine Patience, die nur mit Beteiligung anderer aufgeht. Als Hannah Arendt sagte, es brauche Mut für den Schritt ins Öffentliche, schwebte ihr vermutlich eine Wiedergängerin der attischen Agora vor. 13 Dieser Mut ist heute, da Öffentlichkeit sich weiter, als ihr vielleicht recht gewesen wäre, ins Selbstorganisierte zerstreut hat, ein anderer, im Leben und im Sterben. Die Freiheit, die aus der Vernachlässigung von Staat und Gemeinschaft entspringt, versagt dem Subjekt ein heroisches Auf-sich-Nehmen von Sterblichkeit. Es handelt sich eben um keine existenzielle Freiheit, die dem „ Man “ abgerungen sein muss um den Preis der Einsamkeit (und von der die richtige Philosophie oder Kunst mich unterrichtet, wie ich sie empfange). Zu den Einsichten, die das bereithält, gehört, dass mich der Tod allein ereilen wird, aber beim Sterben wahrscheinlich nicht einsam. Zwar trennt uns der Tod, und die Grenze zwischen Leben und Tod markiert ein definitives Limit der Partizipation. Doch wenn es uns nicht vergönnt ist, im Tod aufeinander zu warten, so können unsere Eigenzeiten sich im täglichen Leben eben deshalb vielfältig miteinander synchronisieren. Synchronisierung beruht auf Ungleichzeitigkeit. Und ich sterbe, wie ich lebe, zu einer anderen Zeit als die anderen. Überhaupt sterbe ich, während ich lebe. Mein Sterben hat längst begonnen, vor Beginn der Aufführung. Weshalb die von Edit Kaldor konzipierte Performance One Hour, bei der es ans Sterben geht, nicht mit dem Einzug eines Chores beginnt. Und nicht damit, dass wir, die wir hierher gekommen sind, uns in Publikum verwandeln, als ob gerade ein Chor einzöge. Es kommt kein Chor. So wie der Tod nicht kommt. Wir gehen rein, einzeln, zu zweit, in kleinen Gruppen. Nachdem alle ihre Jacken und Taschen abgegeben haben, weil es drinnen im HAU 3 eng ist, sollen wir uns hinlegen zum Sterben, was mehr Platz braucht als Sitzen. Uns hinlegen, jeder auf eine Matte, dort liegen, jeder auf dieser einen Matte, und uns vorstellen, wie sich das Sterben im jeweils eigenen Körper vollzieht. Es gelingt mir selbstverständlich auch an diesem Abend nicht, mir meinen Tod vorzustellen. Aber die Performance beschäftigt meine Vorstellung mit meinem Sterben. Eine Stunde lang. Arg lang für etwas derart Unangenehmes, aber auszuhalten in der Gewissheit, dass diese Stunde bald vergangen sein wird. Dieselbe Endlichkeit, die mir zusetzt, wo sie mein Leben betrifft, stellt in dieser Stunde ihre befreiende Wirkung unter Beweis. Ich sterbe seit gut zwanzig Jahren, erfahre ich im ersten Teil, einem Vorspiel, dessen Dauer für die eine Stunde noch nicht zählt. Die fünf Performer sprechen wechselnd. Ihre Altersspanne reicht von einem Teenager-Jungen bis zu einer betagten Dame. Das Licht ist gedimmt, unter der Decke hängen Leinwände, darauf laufen Videos mit animierten Grafiken, Tabellen, Diagrammen, während man uns informiert, was die Naturwissenschaften derzeit über das Sterben wissen: Es geht damit los, dass Gehirnzellen absterben, so ab zwanzig. Sowieso sterben unentwegt Zellen, pro Minute etwa 300 Millionen. Am Leben bleibe ich, weil mein Körper sie durch Kopien ersetzt; alle sieben bis zehn Jahre bestehe ich aus 63 We ’ ll die alone together. Edit Kaldor und der Tod ohne Parodos komplett ausgewechseltem Material. Bei diesen Ersetzungsprozessen treten Fehler auf. Die führen zum Beispiel zu Krebs. Dazu kommt, dass die meisten Zellen sich nur ca. 50mal teilen können, der Körper also mit dem Erneuern immer weniger nachkommt. Das führt zu faltiger Haut, nachlassendem Sehvermögen, eingeschränkter Beweglichkeit, härteren Arterien . . . Sterben heißt, der Unbestimmtheit des Ersetzens zum Opfer fallen - oder mit dem Ersetzen hinter das Aufhören zurückfallen, bis das, was aufgehört hat, das weiterhin Aufgefrischte zu sehr überwiegt. Ende, als Effekt, teilt sich dann dem organisatorischen Zusammenhang mit, der bis eben noch ich war. Das dauert eine Weile. Der zweite Teil der Performance holt uns daraufhin in diese Dauer, an den Anfang des Endes. Ein Signal ertönt, jede Minute, sechzig Mal. Jemand von den Fünf fordert uns auf, unsern Puls zu fühlen. „ After a while you might notice that your breathing is starting to synchronise with your neighbours. (It ’ s really strange, but it happens.) “ Wir sollen das bisher gelebte Leben daraufhin durchgehen, wie nahe wir dem Tod gekommen sind, wie abstrakt oder konkret ‚ Zeit ‘ für uns war. Uns Rechenschaft darüber ablegen, wie viel wir von den verbleibenden Jahren, Monaten, Tagen erwarten. Dann die entscheidenden Worte: „ Let ’ s imagine . . . “ Die Vorstellung setzt ein an jenem Tag, da etwas an meinem Körper mir anzeigt, dass das Sterben, das sich täglich durch mich zuträgt, nunmehr die Höhle des Unbemerkten verlässt. „ Let ’ s imagine you have some symptoms. You go to the doctor. “ 14 Die Ärztin erklärt mir, was die hellen Flecken auf der Aufnahme bedeuten, über die wir beide uns beugen. Ich bin so daran gewöhnt, Erklärungen zu folgen, sie zu erwägen, zu kommentieren, weiterzuspinnen, dass mir die Ankündigung meines Todes in den Worten „ ungewöhnlich groß “ und „ macht uns Sorgen “ zunächst vollständig entgeht. Uns, das sind: wir Mediziner, ein Team von Experten, zu denen die Rhetorik dieses Informierens mich Patienten dazuzählt, um den Schock auf später zu verschieben. Er ereilt mich im Treppenhaus oder draußen in der nasskalten Spätvormittagsstraße, wo ich auf das Taxi warte - an einer roten Ampel - vor dem Bioladen, wo der Fahrer mich absetzt, damit ich gleich einkaufen kann. Ich schiebe einen Wagen durch die vollgepackten Gänge, allein mit meinen Vorstellungen. Denn auch im wirklichen Leben ist die Einbildungskraft zunächst das einzige Mittel, um Kontakt zum Unbekannten aufzunehmen. Guten Tag, sagt eine Stimme mit dem taktisch überhöhten Sprechton einer Simultandolmetscherin, ich bin dein Sterben, und dieser Satz wird möglicherweise im letzten Drittel seine Bedeutung ändern. Später erzähle ich denen davon, die zuhören mögen. Oder müssen. In den kommenden Wochen weitere Untersuchungen, viel Zeit in Wartezimmern und abgehängten Kabinen. Dazwischen Phasen eines privaten Wartens, Internetrecherchen, Phasen der Unsicherheit, einer immer dichteren Angst und einer komplementären, sich im schrumpfenden Rest Mögliches verdichtenden Hoffnung. Ein provisorisches, von Medikationen variiertes Fortführen der sozialen Routinen, denn welchen Sinn hätte es, dramatische Entscheidungen zu treffen, solange der Sachverhalt meiner körperlichen Zersetzung im Wie und Wann ungeklärt ist? Alternative Therapieoptionen ohne große Aussicht diskutieren. Abwägungen. Schließlich, wenn ich Glück habe, eine Prognose im Ton des Definitiven. „ If you knew that you have only a limited time left, who are the people you would want to spend it with? “ One Hour verfährt ähnlich der Ärztin: Die Performer informieren mich, sanft, aber kühl und professionell. Anders als im Dokumentartheater haben die Informationen nicht die Funktion, auf eine außerhalb der 64 Kai van Eikels Aufführungswirklichkeit gelegene Realität zu zeigen, die Aufführung in ‚ der Geschichte ‘ , ‚ der Gesellschaft ‘ oder einem ihrer Diskurse zu verankern. Sie sind die Elemente einer speziell für diese Produktion gebildeten Sprache, in der die Performance mit meiner Vorstellung spricht. Der Einbildung genügen sehr wenige Worte. Das Performer- Team lenkt sie zwar, manipuliert quasi mit Ansage, ohne das Phantasieren indes auf das Ergänzen dessen festzulegen, was die Erzählung zu erwähnen unterlässt (obgleich Weglassen eine Technik ist, die Phantasie zu beschäftigen, und Beschäftigung die Voraussetzung dafür, dass sie etwas vollbringt). Der Hinweis, jeder habe die Wahl, sich in höherem oder geringerem Grade auf das Imaginieren einzulassen, könne jederzeit auch pausieren, sich aufsetzen usw., ist fair, wäre aber unnötig. Sogar das Video unter der Decke, das im zweiten Teil mit holprig vorbeiziehenden Mustern leichte Übelkeit und Schwindel verursacht, verletzt nicht die Freiheit, die in der Distanz zwischen der Präsentation und meiner Vorstellung residiert. Ästhetische Freiheit, könnte man meinen. Doch während Kunst, die auf pauschale Übergriffe verzichtet und meine subjektive Vorstellungskraft hochschätzt, mir im Modus des Ästhetischen eine Begegnung anbietet, deren Moment wir beide, das Kunstwerk und mein Erfahren, unendlich vertiefen, sagt das Reflektierte hier: im Sterben geht es auch zu Ende mit der Reflexion. Und während das Abstreifen der biologischen, sozialen, ökonomischen Spezifikationen bei der ästhetischen Wahrnehmung ein Subjekt-Werden in Gang setzen soll, das mir im Unvergleichlichen singulärer Erfahrung die Macht gibt, mich selbst zu bestimmen, steuert das Imaginations-Management von One Hour mein Hinscheiden nah zum statistischen Durchschnitt. Ohne Chorgemeinschaft, ungeachtet der Zusammenkunft im Theater, finden die anderen Besucher und ich uns dem verrechnet Exemplarischen, Normalen aufgeschnallt. Es wäre möglich, dass ein Autounfall, ein Bombenattentat oder ein platzendes Aneurysma nach dem Orgasmus mir die Qual des langsamen, Monate langen Verreckens erspart. Ins Leere geschubst, nähme meine Phantasie flugs Zuflucht zu so einer Instantlösung, wie ich es überhaupt gewöhnt bin, von Kunst Augenblicke geschenkt zu bekommen, in denen das Mögliche strahlt. Hier dagegen zieht das Erzählen mithilfe meiner Einbildung den Faden zwischen Herz und Kalender immer enger zusammen. Je weiter die eine Stunde voranschreitet, desto evidenter wird mir, dass die Differenz zwischen Erlebniszeit und gemessener, verwalteter, institutionell getakteter Zeit im normalen Sterben nicht etwa aufblüht, zur Feier meines Abschieds von der Welt ein irres Feuerwerk versprüht, sondern funkenlos, still und trocken erlischt. Am Ende, kurz vor meinem Ende, wird das Datum die einzige Zeit sein, die meinen Körper mit den anderen Anwesenden zu einer Szene montiert. Ich sterbe: ich werde datiert. Bis dahin bin ich ans Bett gefesselt. Unfähig, etwas aus eigener Kraft zu tun. Dämmernd. Unfähig zu essen, vom Geschmack verlassen. „ In the end maybe you are not eating at all anymore. Hopefully no one is forcing you to eat. If food is pushed upon you now, you can choke. - Once you stop eating you will usually only live for a couple of weeks. “ Wer sind die Menschen, mit denen ich die letzten Wochen verbringen möchte? Sicher nicht diejenigen, die zufällig an diesem Abend diese Performance besuchen wie wir, denke ich reflexhaft. Soll es R. sein, die neben mir liegt? Nur sie? Sollen sie mich im Krankenhaus, im Hospiz, zu Hause zu Ende pflegen? Will ich das bestimmen? Will ich überhaupt die Auswahl treffen, wer auf der Bettkante sitzen und meine Hand halten darf, diesen letzten Reigen noch wie ein Beziehungsfestival, 65 We ’ ll die alone together. Edit Kaldor und der Tod ohne Parodos eine Art biografisches Best-of kuratieren, oder wäre nicht spätestens jetzt die Zeit, mich der Welt zur Verfügung zu stellen: Vorbeikommenden, ob zufällig oder mit Absicht, jede beliebige Anteilnahme gestatten, jede/ n mit mir tun lassen, was er, was sie mag? Das Sterbebett bietet die letzte Gelegenheit zur Promiskuität. Solange meine Haut Berührungen aushält. Einer der Performer fragt nach dem Schmerz. „ What if you suffer a lot of pain? “ Sein Vater, sagt er, starb an Darmkrebs und kämpfte gegen das Ersticken, nachdem das Herz zu schwach war, um die Flüssigkeiten aus der Lunge zu pumpen. „ Everything hurts “ , bestätigt ein andrer. „ Everything. If somebody touches you, it hurts already. “ Als wäre diese Vorstellung nicht schlimm genug, setzt eine dritte Stimme fort: „ It ’ s pain that you don ’ t know. Unfamiliar pain. Like, tooth ache but here, deep inside there ’ s pain, and you don ’ t know, you have never experienced this kind of pain before. And you feel like going crazy. “ Ungewohnter, unfamiliärer und untragischer Schmerz, denn das Tragische ist an die Unterstellung gebunden, dass wir Menschen zu ein paar großen Familien gehören - dass sich sämtliche Vielheiten, sämtliche Vereinzelungen innerhalb der Vielen in Familie übersetzen lassen. Der Chor betritt einen Ort, wo Familienschicksale ihrer Darstellung harren. Tragödien verhandeln Politik, selbst demokratische, in Fabeln, deren Protagonisten mit jeder richtigen, jeder falschen Entscheidung ihre Familiarität bekräftigen. Chorkollektiv und Familienkollektiv schmieden eine Allianz, ein Bollwerk gegen das ungemeine Einzelne und die ungehörigen Vielen, und der Schmerz ist der materielle Träger, in den tragisches Theater den Text ihrer Abmachung schreibt. Das Leiden tragischer Helden nimmt ein Erbe auf sich, um es an die Eigenen weiterzugeben. Ihr klagendes Aushalten bewacht zugleich eifersüchtig das Privileg, zu denen zu zählen, denen es beschieden ist, im Ertragen des Unerträglichen das Erzittern des Sinns zu verkörpern, und im Gesang des Chores erkennt der Repräsentant der Vielen dieses Privileg an: Ja, auch wir alle erschrecken über das, was dir widerfährt! Die Grausamkeit deines Schicksals übersteigt unsere Vorstellungskraft! Als würde nicht jedem von ihnen, jedem von uns ebenso Schlimmes widerfahren. In einem falschen Respekt vor dem, was am Tod unerträglich bleibt, versucht eine Kultur, von der allerlei die These Bruno Latours bewahrheitet, sie sei niemals modern gewesen, dem Sterben eine Würde zu sichern, indem ihre Darstellungen Tragik (zur Tarnung mit Komik legiert) in das zeitgenössische Ableben hineinzitieren. One Hour vermittelt das Treffen mit dem unbekannten Schmerz dagegen ausgehend von einem wohlbekannten Schmerz, der normal ist und dennoch idiosynkratisch, nicht mitteilbar und ohne Aussicht auf kosmische Resonanz: etwas, das Menschen nicht von der Menschheit her zufällt, das sie vielmehr in der materiellen Spezifität ihres Körpers ereilt und bei aller satten Orchestrierung seines Bohrens, Schneidens, Beißens und Ziehens doch immer bloß So! schreit. Was auf der letzten Etappe zum Tod auf mich wartet, wird so wie Zahnschmerz sein - aber nicht so. Es wird wie Zahnschmerz sein, denn das Kontinuum der unmerklichen Ersetzungen, die meinen Körper bilden, wird es hervorbringen, hervorgebracht haben, und zu dem Zeitpunkt, da ich darüber in Schrecken ausbreche, weil es radikal anders ist als Zahnschmerz, wird es schon so lange ich gewesen sein, dass keine Dramaturgie der Zäsur, des Umschlags, der peripeteia oder anagnorisis dieses Werden einholt und auf sich vereidigt bekommt. Selbst für den Fall, dass da heimlich, im toten Winkel meiner getrübten Aufmerksamkeit doch ein Chor ins Sterbezimmer eingeschmuggelt worden wäre, er 66 Kai van Eikels verpasste für sein Klagelied den Einsatz. Meinem Leiden fehlt es an Dramatik gerade da, wo man es unmenschlich nennen könnte. Von den Choreuten beugte sich irgendwann wer herüber, und was er sähe, presste höchstens einen Laut der Überrumpelung aus ihm heraus. Wie alle, die jemals am Bett eines Sterbenden wachen sollten, zerfiele auch dieser Chor in Einzelne, von denen ein jeder mehr oder weniger schläft. Es kann sein, dass ich träumen muss, ohne zu schlafen. „ It might feel like you ’ re dreaming and you can ’ t tell what ’ s real and what ’ s not. [. . .] You are likely to sink further and further away and might not be able to close your eyes “ , heißt es vor Minutenton Nr. 48 (von 60). „ At a certain moment your breathing becomes irregular. You might start gasping. [. . .] This is the death rattle. “ Wenn ich zu weit entfernt bin, um meinen Horror mit ihnen zu teilen, wird mein Körper mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Dinge tun, die ihnen Angst einjagen. Was da Krach macht und mit den Rippen wackelt, ähnelt den Gespenstern, die Theater so gern hat. Doch es sieht bloß noch aus wie ein Auftritt. Die Laute und Bewegungen sind das exakte Gegenteil von Animation: eine Kinetik des Entseelten. Der Rest ist, wie alles zuvor, ein komplexer, aber nicht besonders kompliziert erscheinender materieller Prozess. „ Your cells begin to die. [. . .] You get an EEG flatline. “ Minutentöne 53 und 54 (von 60). Dann eine letzte Anstrengung, die das Vorstellen an einen Punkt bringt, wo ich mir noch einmal, in einer haltlosen, weder getragenen noch fallenden Bewegung die Frage stellen könnte, wie allein, wie zusammen mit den anderen Besuchern dieser Performance ich bin. Aber meine Imagination ist zu sehr mit ihrem eigenen Durchstreichen beschäftigt, um die Gegenwart an Fragen abzutreten; und so war dieses finale Stadium des Sterbensprozesses, wie mir später aufgeht, der Moment der größten Gleichgültigkeit gegen die Anwesenheit oder Abwesenheit der anderen. Mein Ich-denkedass-ich-nicht-bin erübrigte sie: So imagine . . . your brain has shut down. You have no thoughts. You perceive nothing. There is nothing. Your consciousness is gone. There ’ s no you. Try to imagine it. [. . .] Can you? 67 We ’ ll die alone together. Edit Kaldor und der Tod ohne Parodos Anmerkungen 1 In der Bibelstelle, die vermutlich zu den Inspirationsquellen dieser Vorstellung gehört, heißt es allerdings: „ Der Tod ist durch unsere Fenster gestiegen / eingedrungen in unsere Paläste “ (Jer. 9, 20). 2 Vgl. Platon, Nomoi, 671bc. 3 Die Passage in den Nomoi behandelt die choreia als eigene Aufführung, nicht als Teil der Tragödienaufführung, und bringt sie über den Bezug zu Dionysos in Verbindung mit dem symposion, dem Trinkgelage, bei dem der Alkohol die Erweichung der Seelen bewirkt. 4 William Shakespeare, Hamlet, Prince of Denmark, V. ii. 5 Vgl. Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hg. von Ernst Behler et al., Paderborn 1958 ff., Bd. 16, S. 96, 117, 119, 123; Bd. 18, S. 85. Für eine Re-Interpretation der antiken Tragödie (und des Theaters) aus der romantischen Reflexivität vgl. Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie: Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt a. M. 2005, bes. S. 134 - 160. 6 Zu Chor-Kollektivität, Resonanz und ödipaler Determinierung siehe „ Das Asoziale einübbar machen, die Macht zerstreuen. Selbstermächtigung in LIGNAs Ödipus. Ein Gespräch zwischen Kai van Eikels und Ole Frahm “ , in: Wolf-Andreas Liebert und Kristin Westphal (Hg), Performances der Selbstermächtigung, Oberhausen 2015, S. 91 - 102. 7 Zu Schiller, Rancière und dem Theaterpublikum als ästhetisch vermitteltem Kollektiv siehe Kai van Eikels, „ The Incapacitated Spectator “ , in: Sandra Umathum und Benjamin Wihstutz (Hg.), Disabled Theater, Zürich 2015, S. 105 - 125. 8 Vgl. den Essay „ Philosophieren heißt Sterben lernen “ , in: Michel de Montaigne, Essais, übersetzt von Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, S. 45 - 51. 9 Vgl. dazu Petra Gehring, Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 203 - 221. 10 Vgl. Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München 1980 (2. Aufl.). 11 Vgl. Jacques Derrida, Aporien: Sterben, auf die „ Grenzen der Wahrheit “ gefaßt sein, München 1998. 12 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957, S. 118. 13 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 62 ff. 14 Hier und im Folgenden zitiert nach dem Script der Performance. Ich danke Edit Kaldor herzlich für dessen Überlassung. 68 Kai van Eikels