eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2012
271-2 Balme

Rimini Protokoll. ABCD. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld, 2012, | Roland Schimmelpfennig. Ja undNein/Sí y No. Vorlesungen über Dramatik/Conferencias sobre dramática. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld, 2014 | Kathrin Röggla. Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld, 2015.

2012
Josef Bairlein
politische Sendung, die Techniken des epischen Theaters weiterführt, soll Theaterspielen den künstlerischen Bedürfnissen anpassen. Dazu empfiehlt Stegemann den Theatermachenden, „Gemeinschaft“ zu wagen, um dem Marktliberalismus mit widerständigen Produktionsformen zu begegnen. Da der Autor die Autorität des Regisseurs vehement in Frage stellt, kann man annehmen, dass diese Gemeinschaften anders als die Truppen von Stanislawski, Brecht, Mnouchkine und Stein keine Mini-Diktaturen sind, in denen das familiäre Miteinander die Repression perfektioniert, sondern ‚irgendwie demokratischer‘. Neben der offen gelassenen Frage nach der Finanzierung und praktischen Organisation solcher Künstlertheaterarbeit bleiben bei mir Zweifel, ob die Erzählung vom isolierenden, die Menschen zum Egoismus erziehenden Kapitalismus und der heilsamen Gemeinschaft trägt. Die Stadttheaterblasen, deren Bewohner einander einreden, ein Schicksal zu teilen, zeigen, dass starke Gemeinschaftsimaginationen mit allen erdenklichen ökonomischen und politischen Grausamkeiten vereinbar sind. Die kritische Wirkung dessen, was aus der Institution Theater heute geworden ist, könnte geradezu daher kommen, dass sie uns an die schlechteste aller Gemeinschaften gemahnt: die aggressiv-defensive Verschwörung derjenigen, die wider besseres Wissen das einstmals Zentrale, das Privileg des ‚besonderen Ortes‘ verteidigen. Etwas von dieser Diagnose klingt durch Stegemanns Kritik des Theaters hindurch, obwohl er antritt, den besonderen Ort des Theaters zu retten. Große Institutionen haben die Macht, künstlerische Arbeitsweisen und Ästhetiken unabhängig davon weiterzuschleppen, ob irgendjemand so arbeiten und solche Arbeiten hervorbringen mag. Abseits von institutioneller Trägheit hängt die Kunst an Vorlieben und Abneigungen, die nicht zunächst ihr selbst, sondern dem Leben gelten. Welche Kunst entstehen wird, lässt sich schwerlich ohne Bezug dazu besprechen, wie Menschen gern zusammen leben und arbeiten. Statt bloß die Arbeitsleistung einer kritischen, die Welt auf ihre Änderbarkeit hin prüfenden Mimesis zu fordern, wäre nach den Motivationen zu solchem Arbeiten zu forschen. Das Theater könne wie ein spielendes Kind sein, voller Selbstvertrauen und gesunder Skepsis zugleich, versichert Stegemann im letzten Satz. Wer hat Lust, diesen Kindheitstraum zu realisieren? Und welche Lust wäre das heute? Berlin KAI VAN EIKELS Rimini Protokoll. ABCD. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Recherchen 100. Berlin: Theater der Zeit, 2012, 176 Seiten. Roland Schimmelpfennig. Ja und Nein/ Sí y No. Vorlesungen über Dramatik/ Conferencias sobre dramática. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Recherchen 107. Berlin: Theater der Zeit, 2014, 234 Seiten. Kathrin Röggla. Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Recherchen 116. Berlin: Theater der Zeit, 2015, 108 Seiten. Die Universität des Saarlandes organisiert seit 2012 die Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik, die von Rimini Protokoll, Roland Schimmelpfennig, Kathrin Röggla, Albert Ostermaier und 2016 von Falk Richter übernommen wurde. Zu den ersten drei Dozenturen sind im Verlag Theater der Zeit Publikationen erschienen - zuletzt Kathrin Rögglas Die falsche Frage. In ihren drei Vorträgen fragt Kathrin Röggla nach der Möglichkeit des Theaters und dramatischer Literatur in der heutigen Gesellschaft. Sie entwirft ein heterogenes Bild gegenwärtiger Gesellschaft, indem sie sich nicht zuletzt auf eine Vielzahl theoretischer Positionen beruft. Ausgangspunkt ihrer ersten Vorlesung ist das Primat des ökonomischen Diskurses, der auch das Theater bestimme, ein Marktdenken, in das die Autorin selbst verstrickt sei (vgl. S. 17). Katrin Röggla „will Gesellschaft als Zusammenhang verstehen, auch wenn er nicht mehr in der geschlossenen Form beschreibbar ist“ (S. 22). Theater brauche vor allem eines: Zeit für „Theo- Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 123-125. Gunter Narr Verlag Tübingen 123 Rezensionen rie und systemische Impulse“ (S. 18), Zeit für ästhetische Setzungen und Positionierungen. Sie richtet sich damit vor allem gegen ein Theater des Performativen, des reinen Ereignisses und der „Gegenwartsschleifen“ (S. 22), ein Theater auch, das schneller und marktgerechter, da unmittelbarer produzieren könne. Sie plädiert für einen „Wirklichkeitsstopp“ (S. 18) und schließt hiermit, wenn auch nicht kritiklos, an Bernd Stegemanns oder Fritz J. Raddatz’ Kritik des Performativen an. Röggla macht sich auf die Suche nach der Möglichkeit gegenwärtigen Theaters, das nicht in der Gegenwart verharrt, sondern Zukunft eröffnet, und der Möglichkeit, dieses Theater im dramatischen Schreiben zu fundieren. Sie „interessiert der Text, der Text, der Text! “ (S. 82), und sie „will Formen des Sprechens finden, die den Gewaltzusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse deutlicher hervortreten lassen und gleichzeitig unterlaufen.“ (S. 22) Auf dieser Suche begegnet sie unter anderem Roland Barthes und der Atopie des Schreibens oder Gilles Deleuze und der Idee des Textes als Fremdsprache wie Territorium. Fremdsprachen „zielen auf eine relevante Struktur“ (S. 30), sind „Zusammenballungen sprachlicher Zumutungen“ (S. 29). Mit ihnen möchte sie sich an die Grenze der Sprache begeben, auf Hexenlinien, die das System durchbrechen, reiten. Und so hofft Röggla auf die „Verschiebung durch den Konjunktiv, das Fehlen einer zentralen Figur, Verrückung durch Rhetorik, durch die paradoxe Anwesenheit eines Erzähler-Ichs“ (S. 30), um das Abwesende, die blinden Flecken an der Grenze des Schweigens sichtbar zu machen. Röggla gelingen immer wieder treffende Beschreibungen ihrer eigenen Werke: „Meine Figuren sind paradoxe Kollektive, Teams, die eher Nicht-Teams sind, die eigentlich immer gegeneinander arbeiten“ (S. 61). Die Autorin wendet sich gegen die „Kollektivseligkeit“ (S. 60), wie sie derzeit im Theater zelebriert werde, gegen eine „Romantisierung der Revolte“ (S. 56). Und sie fragt beständig, wie in einer „zu Ende individualisierten Gesellschaft mit narzisstischen Störungen und Depression“ (S. 54), im „Spiegelkabinett des personalized Internet“ (S. 77) oder in der „Mainstreamisierung kritischer Positionen“ (S. 71) Theatertexte zwischen Markt- und Realfiktionen noch Widerstand leisten können. Roland Schimmelpfennig bekundet gleich auf den ersten Seiten von Ja und Nein, zu Beginn der ersten Vorlesung, dass die Theorie, das Schreiben über das Schreiben, nicht das seinige sei (vgl. S. 18). Konsequent verzichtet er dann auch weitgehend hierauf. Seine drei Vorlesungen setzen sich zum größten Teil aus Passagen seiner Theatertexte zusammen - durchbrochen von biographischen Skizzen und knappen Notizen zum Theater und dem literarischen Schreiben. Der Band ist zweisprachig erschienen; er vereint die deutschsprachigen Vorlesungen und ihre Übertragung ins Spanische. Das Theater thematisiert für Schimmelpfennig immer den Menschen, es „handelt vom Individuum und seinem Bezug zu der Gesellschaft, zur Welt.“ (S. 20) Der Dialog ist für Schimmelpfennig daher elementarer Bestandteil von Theater. Dabei fasst er den Begriff des Dialogs weit: vom dramatischen Dialog, über den Dialog zwischen Stück und Regieteam bis zum Dialog von Inszenierung und Publikum. Der Dialog als „Kern jeder zivilisierten, friedlichen Gesellschaft“ (S. 48) dient Schimmelpfennig auch zur Begründung der gesellschaftlichen Relevanz von Theater - auch dann, wenn es sich um kein Theater des „reinen Dialogs“ handle, sondern um gesprochene Prosa. Auch „narratives Theater“ ließe Bilder in den Köpfen der Zuschauer entstehen, und auch hier werde ein „demokratischer Pakt“ (S. 78) eingelöst, der den Zuschauer „zum mündigen Partner der Phantasie“ (S. 78) mache. „Es geht im Theater automatisch um das WIR, um das ‚Miteinander‘, um das ‚Miteinandersprechen‘“ (S. 60). Auch Schimmelpfennigs Vorlesungen lassen sich als Plädoyer für den Theatertext lesen, für die Notwendigkeit literarisch „verdichteter Sprache“ (S. 49), denn „entscheidende Grundlage dieses Kunstwerks ist der Text“ (S. 48), der das Theater beseelen könne (S. 18) und den Schimmelpfennig als „Gesprächsangebot“ (S. 49) versteht, um „die Notwendigkeit der Veränderung“ (S. 78), „Aufstieg und Fall und Fortschritt“ (S. 78), den Menschen in seiner Vergänglichkeit zu thematisieren. „Theater ohne Geschichte“ sei hingegen eine „oft sprach- und theorieverliebte Sackgasse“ (S. 28), denn „Theater erzählt Geschichten. Immer.“ (S. 20) Schimmelpfennigs Aussagen zum Theater bleiben sehr allgemein und erscheinen oftmals 124 Rezensionen normativ. Mit dem eigenen Schreiben, der Spezifik seines dramatischen Schaffens setzt sich der Autor kaum oder nur ansatzweise auseinander. Dafür kommen seine literarischen Texte zu Wort. Insofern ließe sich Ja und Nein auch als ein Gesprächsangebot verstehen, als Begründung eines Dialogs - weniger vielleicht über seine Texte, als vielmehr mit ihnen. Denn Schimmelpfennig findet es ohnehin besser, das „Theater spricht für sich selbst.“ (S. 77). Rimini Protokolls Abecedarium basiert auf vier Vorträgen aus dem Jahr 2012 und stellt, folgt man dem ersten Eintrag ABCD, eine Art, wenngleich auch nicht umfassender Bestandsaufnahme dar, durch die sich der Leser seinen eigenen Weg bahnen müsse. ABCD ist kein Nachschlagewerk. Zu erwartende Einträge - wie „Experte“ oder „Expertentheater“ - fehlen, obgleich Darsteller im Werk selbst 25 Mal als Experten bezeichnet werden (wie der Eintrag „Analyse“ verrät). Immerhin: Unter den Titeln der Arbeiten von Rimini Protokoll findet der Leser verlässlich kurze Zusammenfassungen und Erklärungen zu den jeweiligen Produktionen. Vieles andere ergibt sich en passant auf dem Weg, beim Durchstöbern der oftmals von Ironie gekennzeichneten Einträge. Nicht immer hat das, was unter den einzelnen Schlagwörtern angeführt wird, direkt etwas mit Theater zu tun. Nicht immer findet sich überhaupt etwas unter den Schlagwörtern, mancherorts nur Schweigen. Mit Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel wurde die erste Poetikdozentur mit Theatermachern und Autoren besetzt, die keine Geschichten erfinden, sondern versuchen, fremde Erzählungen, „einzurahmen, auszuwählen und zu fokussieren, zu verbinden“ (Autor). Sie suchen und finden ihre Erzählungen im Theater des Alltags, und so findet sich unter dem Eintrag „Theater“ auch „nur“ eine Tätigkeitsbeschreibung indischer Call-Center-Telefonisten, die in die Rolle nordenglischer Telefonisten schlüpfen (wie sie dies auch in Call Cutta taten). Ihr „parasitäres Theater“ (Prognosen) beschreiben sie als „ein Museum, in dem die Dinge und Menschen aus einer gewissen hektischen Kausalität herausgehoben scheinen. [. . .] Es geht um eine bestimmte Konzentration von Aufmerksamkeit“ (Wirkung). Die gewohnte Theaterpraxis, wie sie Ende der Neunziger Jahre vorzufinden gewesen sei, das Theater, das eine eigene Welt behaupte und von dem „keine neue Wirklichkeit kommen würde“ (Notizen zu einer Poetikvorlesung), scheint die Autoren immer wieder zu befremden. Johannes Birgfeld sieht in seinem Nachwort das Theater Rimini Protokolls einer „Poetik des Zusehens, Zuhörens und der Nähe“ (S. 172) verpflichtet. Diese Nähe zeigt sich auch in ABCD, wenn Haug, Kaegi und Wetzel selbst als Experten auftreten, aber vor allem auch, wenn sie ihre Experten in zahlreichen Auszügen nochmals zu Wort kommen lassen. Über Umwege, über Anekdoten und Fundstücke, teils ironischen Statements und Beobachtungen sowie Erzählungen des Alltags nähert sich der Leser Rimini Protokoll an, um sich nach und nach ihren Kosmos zu erschließen. Mit Kathrin Röggla, Roland Schimmelpfennig und Rimini Protokoll versammeln die drei, zur Saarbrücker Poetikdozentur erschienen Publikationen sehr unterschiedliche Positionen gegenwärtigen Theaters. Alle drei Bände sind versehen mit einem Nachwort Johannes Birgfelds, der in einem, wenn auch kurzem Aufriss der Forschungspositionen (insbesondere zum Werk Schimmelpfennigs) die Autorenpositionen gewinnbringend ergänzt bzw. sie im Kontext gegenwärtigen Theaters zu verankert sucht. München JOSEF BAIRLEIN 125 Rezensionen