eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2012
271-2 Balme

Bernd Stegemann. Kritik des Theaters. Berlin: Theater der Zeit, 2013, 334 Seiten.

2012
Kai van Eikels
(‚Schauspieler 1‘ etc.) auftreten“ (S. 110). Seine Schauspieler sind „auf der Bühne keine Persönlichkeiten, sondern Körper im fast schon mathematischen Sinne“ (S. 111). Zusammenfassend behauptet Breu, das Theater der zeitgenössischen Umgangssprache sei „eine Reinkarnation von realistischem Texttheater unter den Bedingungen allgemeiner Sprach- und Repräsentationsskepsis“ (S. 117). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Okadas Aussage, dass er von Brechts Aufsatz Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? beeinflusst worden sei. Fünf Tage im März könnte also „eine ‚epische‘ oder ‚verfremdete‘ Variante von Hiratas Theater der zeitgenössischen Umgangssprache“ (S. 119) genannt werden. Außerdem lasse sich „[i]n der [. . .] eröffneten Distanz zwischen Erzählern und Erzähltem, zwischen Sprache und Körper - und damit auch: zwischen Tokyo und dem Krieg im Irak“ „eine Verwandtschaft zur Theatermontage von Bertolt Brecht entdecken“ (S. 121). Berücksichtigt man die Arbeiten von Hirata und Okada, kann man die Frage von Brecht sehr wohl bejahen, allerdings „nur, wenn man zugibt, dass sie [die heutige Welt, K. H.] dabei unsichtbar bleiben muss“ (S. 122). So wie in den letzten Jahren japanische Gastspiele außerhalb Japans zugenommen haben, ist auch öfter in deutscher Sprache über japanisches Sprechtheater geschrieben worden. Fischer-Lichte (2010) hat die ersten Auseinandersetzungen der japanischen Intellektuellen mit der Rezeption des europäischen Sprechtheaters im transkulturellen Kontext diskutiert. Auch die Arbeiten der zeitgenössischen japanischen Theatermacher sind Gegenstand der Forschung, wie z. B. bei Lehmann/ Hirata (2009) oder Pewny (2011) für die vorliegende Zeitschrift. Im Vergleich mit den genannten Arbeiten, die einem theaterwissenschaftlichen oder philosophischen Ansatz folgen, wählt der Japanologe Breu einen soziolinguistischen Ansatz und konzentriert sich auf den Aspekt der (Körper-)sprache. Ein weiteres Verdienst liegt in der Übertragung aktueller umgangssprachlicher japanischer Zitate aus den Texten in die deutsche Umgangssprache. Hierbei muss jedoch bemerkt werden, dass die Übersetzung an einigen Stellen noch zu schriftsprachlich ist. Um den Ton der japanischen Umgangssprache genauer zu treffen, sollten die Wortwahl im Deutschen noch lässiger und der Satzbau noch unvollständiger sein. Wie man sich verhält, hängt eng damit zusammen, was und wie man spricht. Dieses Was und Wie des japanischen zeitgenössischen Sprechtheaters, und die Frage, warum die Praxen japanischer Theatermacher in der jüngsten Zeit anders sind als die der konventionellen Theatermacher, erklärt Breu zum ersten Mal ausführlich in deutscher Sprache. Gleichzeitig wird, wie der Autor zu Beginn selbst anmerkt, „Hiratas einflussreiche Schauspieltheorie [. . .] erstmals im Rahmen einer kommentierten Analyse für den deutschen Sprachraum zugänglich“ (S. 9) gemacht. Einige kleine typographische Fehler stören zwar den Lesefluss an einigen Stellen, beeinträchtigen jedoch den Gesamtwert des Buches nicht. Neben den ausführlich angeführten Zitaten sind auch das Glossar zu Schlüsselbegriffen und -personen (S. 127 - 139) und die abgedruckten Bühnenfotos für das Verständnis dieser jüngsten Form des japanischen Theaters hilfreich. Tokyo KEN HAGIWARA Bernd Stegemann. Kritik des Theaters. Berlin: Theater der Zeit, 2013, 334 Seiten. Eine Kunst, die so sehr Gefallen daran findet, ihre eigenen Verfahren zu dekonstruieren, dass sie darüber versäumt, die Wirklichkeit der ökonomischen Verhältnisse zu verstehen und ihnen etwas entgegenzusetzen, leistet keine wirksame Kritik des neoliberalen Kapitalismus. Ihre lustvoll-reflexiven Experimente spielen vielmehr dessen Deregulierungen zu. Im Verzicht auf Opposition oder dialektische Konfliktzuspitzung hängt sie der Idylle eines friedlichen und vielfältigen Nebeneinanders nach, während die Ausbeuter ungestört den gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum abschöpfen. So lautet die an Ève Chiapello und Luc Boltanski anschließende These der Kritik des Theaters von Bernd Stegemann, der an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin Dramaturgie und Theaterge- Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 121-123. Gunter Narr Verlag Tübingen 121 Rezensionen schichte lehrt und Dramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz ist. Den Vorwurf, eine ernsthafte Analyse und Gegenwehr zuliebe narzisstischer Selbstbespiegelung zu verpassen, richtet er insbesondere an das „postmoderne Theater“. Nachdem Theater von der griechischen Antike bis zum bürgerlichen Realismus und Brechts epischem Drama menschliches Verhalten mimetisch dargestellt und in der jeweiligen Ästhetik des Mimetischen die Möglichkeiten weltverändernden Handelns erörtert habe, kollabiere die Distanz von Darstellung und Dargestelltem in der vermeintlichen Authentizität der Performance. Ein Theater, das Menschendarstellung unterlässt oder Rollen nur mehr als Material für performative Effekte benutzt, verliere die Fähigkeit, Alternativen zum Status quo aufzuzeigen. Seine Raffinesse, die der Intelligenz des Publikums durch Kooperation mit dessen informiertem, verfeinertem Geschmack schmeichelt, wirke prinzipiell affirmativ. Die Schärfe dieser Polemik läuft über vier von fünf Kapiteln dadurch ins Ungefähre, dass man bloß raten darf, wer sich hinter dem postmodernen Theater verbirgt: Künstler, die lieber mit ‚Laien‘ arbeiten als mit professionellen Schauspielern (ergo: die Gruppe Rimini Protokoll, bei denen die Nichtschauspieler aber gerade nicht als Authentizitätsträger auf der Bühne stehen, sondern als Vertreter anderer Berufe mit deren jeweiligen Performance- und Präsentationskompetenzen). Oder solche, bei denen infantilkichernde Ironisierung sich als politischer Dissens aufspielt (was vielleicht auf einige Inszenierungen von Stegemanns Wegbegleiter Nicolas Stemann zutrifft). Während der Autor mit Hegel, Marx, Luhmann und David Graeber ein enges, aber luzides Konzept von kapitalistischer Ausbeutung vorlegt und knapp die Hauptepochen europäischer Theatergeschichte rekapituliert, wird der Gegner schemenhaft aus französischer Philosophie der 1980er, dem „performative turn“ und der Angewandten Theaterwissenschaft an der Universität Giessen zusammengesetzt. Der Ehrenkodex dialektischen Denkens gebietet eigentlich, das Angefeindete in seinen stärksten und präzisesten Momenten aufzusuchen. Doch Stegemanns Widerpart „postmodernes Theater“ offenbart meistens (es gibt kurze Ausnahmen) genau die Eigenschaften, die das Urteil ‚dem Kapitalismus dienlich! ‘ mit geringster Mühe denunziert. Im fünften Kapitel, das den Titel „Theater“ trägt, treten hinter der Pauschalpolemik konkretere Anliegen hervor, und es scheint mir ratsam, die Kritik des Theaters von ihnen her zu lesen. Stegemann räumt da etwa ein, dass die Impulse zu den künstlerischen Veränderungen des Theaters im Zeichen der Performance aus einer freien Szene kamen, deren Arbeit die Stadt- und Staatstheater dann in Besitz nahmen - direkt, indem man die Gruppen für Gastspiele engagierte oder koproduzierte, oder durch Übertragung ihrer ästhetischen Strategien auf Drameninszenierungen. Der „Vereinnahmungsversuch des Stadttheaters“ sei „von geringer künstlerischer Sensibilität“, heißt es diesbezüglich. „Der Kampf der Avantgarde gegen die Institutionen der Kunst wird im Stadttheater täglich neu verloren“. (S. 239) Das erinnert auch daran, dass die Entwicklungen, die im deutschen Sprachraum zur Entstehung eines Performance-Theaters führten, ursprünglich im Zusammenhang mit der Ökonomie und Politik von Arbeitsbedingungen standen. Wenn sie den Schauspieler zugunsten des Selber-Performens abschafften und die schauspielerische Darstellung teils gleich mit, verfolgten Kollektive wie She She Pop, Gob Squad, Showcase Beat Le Mot usw. damit den Wunsch nach anderen Formen des Zusammenarbeitens als an den großen Bühnenbetrieben, wo fordistische Arbeitsteilung mit ihren rigiden Funktionshierarchien herrschte und ‚das Künstlerische‘ sich als hysterische Besetzung bürokratischer Strukturen eingerichtet hatte. Die Reflexion performativer Kunst auf ihre eigenen Voraussetzungen, die Stegemann erst als neoromantische Selbstreferenzästhetik verwirft, galt, wie er zugesteht, keineswegs allein der Aufführung, sondern vor allem auch dem Prozess ihres Erarbeitens. Diese Differenz ging verloren in einem Stadttheaterbetrieb, der Performance-Formate gerade aufsog, damit er institutionell so weiterlaufen konnte wie bisher. Stegemann möchte aus ähnlichen Überlegungen das „Künstlertheater“ reaktivieren, dessen Tradition von Stanislawski über Brecht bis zu Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil und Peter Steins früher Schaubühne reicht. Eine ästhetisch- 122 Rezensionen politische Sendung, die Techniken des epischen Theaters weiterführt, soll Theaterspielen den künstlerischen Bedürfnissen anpassen. Dazu empfiehlt Stegemann den Theatermachenden, „Gemeinschaft“ zu wagen, um dem Marktliberalismus mit widerständigen Produktionsformen zu begegnen. Da der Autor die Autorität des Regisseurs vehement in Frage stellt, kann man annehmen, dass diese Gemeinschaften anders als die Truppen von Stanislawski, Brecht, Mnouchkine und Stein keine Mini-Diktaturen sind, in denen das familiäre Miteinander die Repression perfektioniert, sondern ‚irgendwie demokratischer‘. Neben der offen gelassenen Frage nach der Finanzierung und praktischen Organisation solcher Künstlertheaterarbeit bleiben bei mir Zweifel, ob die Erzählung vom isolierenden, die Menschen zum Egoismus erziehenden Kapitalismus und der heilsamen Gemeinschaft trägt. Die Stadttheaterblasen, deren Bewohner einander einreden, ein Schicksal zu teilen, zeigen, dass starke Gemeinschaftsimaginationen mit allen erdenklichen ökonomischen und politischen Grausamkeiten vereinbar sind. Die kritische Wirkung dessen, was aus der Institution Theater heute geworden ist, könnte geradezu daher kommen, dass sie uns an die schlechteste aller Gemeinschaften gemahnt: die aggressiv-defensive Verschwörung derjenigen, die wider besseres Wissen das einstmals Zentrale, das Privileg des ‚besonderen Ortes‘ verteidigen. Etwas von dieser Diagnose klingt durch Stegemanns Kritik des Theaters hindurch, obwohl er antritt, den besonderen Ort des Theaters zu retten. Große Institutionen haben die Macht, künstlerische Arbeitsweisen und Ästhetiken unabhängig davon weiterzuschleppen, ob irgendjemand so arbeiten und solche Arbeiten hervorbringen mag. Abseits von institutioneller Trägheit hängt die Kunst an Vorlieben und Abneigungen, die nicht zunächst ihr selbst, sondern dem Leben gelten. Welche Kunst entstehen wird, lässt sich schwerlich ohne Bezug dazu besprechen, wie Menschen gern zusammen leben und arbeiten. Statt bloß die Arbeitsleistung einer kritischen, die Welt auf ihre Änderbarkeit hin prüfenden Mimesis zu fordern, wäre nach den Motivationen zu solchem Arbeiten zu forschen. Das Theater könne wie ein spielendes Kind sein, voller Selbstvertrauen und gesunder Skepsis zugleich, versichert Stegemann im letzten Satz. Wer hat Lust, diesen Kindheitstraum zu realisieren? Und welche Lust wäre das heute? Berlin KAI VAN EIKELS Rimini Protokoll. ABCD. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Recherchen 100. Berlin: Theater der Zeit, 2012, 176 Seiten. Roland Schimmelpfennig. Ja und Nein/ Sí y No. Vorlesungen über Dramatik/ Conferencias sobre dramática. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Recherchen 107. Berlin: Theater der Zeit, 2014, 234 Seiten. Kathrin Röggla. Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Recherchen 116. Berlin: Theater der Zeit, 2015, 108 Seiten. Die Universität des Saarlandes organisiert seit 2012 die Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik, die von Rimini Protokoll, Roland Schimmelpfennig, Kathrin Röggla, Albert Ostermaier und 2016 von Falk Richter übernommen wurde. Zu den ersten drei Dozenturen sind im Verlag Theater der Zeit Publikationen erschienen - zuletzt Kathrin Rögglas Die falsche Frage. In ihren drei Vorträgen fragt Kathrin Röggla nach der Möglichkeit des Theaters und dramatischer Literatur in der heutigen Gesellschaft. Sie entwirft ein heterogenes Bild gegenwärtiger Gesellschaft, indem sie sich nicht zuletzt auf eine Vielzahl theoretischer Positionen beruft. Ausgangspunkt ihrer ersten Vorlesung ist das Primat des ökonomischen Diskurses, der auch das Theater bestimme, ein Marktdenken, in das die Autorin selbst verstrickt sei (vgl. S. 17). Katrin Röggla „will Gesellschaft als Zusammenhang verstehen, auch wenn er nicht mehr in der geschlossenen Form beschreibbar ist“ (S. 22). Theater brauche vor allem eines: Zeit für „Theo- Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 123-125. Gunter Narr Verlag Tübingen 123 Rezensionen