eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2012
271-2 Balme

Daniele Daude, Oper als Aufführung – Neue Perspektiven auf Opernanalyse. Bielefeld: transcript Verlag, 2014, 291 Seiten.

2012
Bernd Hobe
und Offenheit für unterschiedliche Theaterinhalte wie Theaterästhetiken, befördert durch die den Juden zugewiesene Außenseiterposition. Eine analoge Vielfalt ist zudem im jiddischen Theater anzutreffen, wie Delphine Bechtel ausführt. Das jiddische Theater, selbst in hochkulturelles Theater und Unterhaltungstheater unterteilt, aber häufig als Theater der Unterprivilegierten wahrgenommen, sei in Wahrheit ein Ort der Versammlung unterschiedlichster kultureller Stile und Sprachen gewesen. Das Theater sei eine Möglichkeit, ein Hybrid an (Sprach- und Sprech-) Stilen nicht nur zu präsentieren, sondern auch zu inszenieren, und werde damit zum bewussten Verhandlungsort einer Vielzahl von Stimmen, das es ermögliche, die ironische Brechung vorgefertigter Haltungen auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft vorzuführen. Dass die Vielzahl dieser Stimmen keineswegs Eintracht innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bedeutete, belegt wiederum die Untersuchung von Hans-Peter Bayerdörfer, der am Beispiel des Kabaretts in Berlin und Wien vor 1933 darlegt, dass es innerhalb der „jewish community“ durchaus wechselseitigen Widerspruch gab. Die theatrale Praxis der jungen Kabarettisten, namentlich Walter Mehring und Kurt Tucholsky, belege nicht nur deren reges Interesse an neuen, unkonventionellen Theaterformen. Sie zeige, so Bayerdörfer, auch ein Widerstandspotential gegenüber konventionalisierten Meinungen des jüdischen Establishments von einer angemessenen Auffassung jüdischer Identität in einer sich neu definierenden nationalen Gemeinschaft. Ihre Kritik zielte vor allen Dingen gegen die offensichtlich allzu liberale und auch inaktive Haltung gegenüber einer antijüdischen Propaganda. Auf eine kritische Lektüre monokausaler Deutungsmuster zielt auch Bernhard Greiners Beitrag zur Entwicklung jüdischer Theaterkultur im deutschsprachigen Raum: Das Theater verhandele in Praxis wie Theorie erst seit Ende des 18. Jahrhunderts die Binarität von Realismus und Idealismus, von der faktischen Integration der Juden und deren idealisierter Selbstinterpretation, da die Notwendigkeit einer Anpassung die Frage nach einer idealen jüdischen Identität überhaupt erst als Problem habe aufkommen lassen. Die Sehnsucht nach einer jüdischen Identität, gepaart mit der Ambivalenz jüdischer Selbstwahrnehmung, verdeutlicht wiederum die Analyse von Arnold Zweigs Theaterutopie durch Peter W. Marx: Arnold Zweigs Vorstellung vom Theater als Beitrag zu einer authentischen jüdischen Kultur, wie er sie in dem jüdischen Ensemble aus Vilnius und der Hebräischen Habima zu erkennen glaubte, sei erkauft gewesen durch eine imaginierte Homogenität. Die tatsächliche Interferenz dieser Truppen mit dem nicht-jüdischen europäischen Mainstream-Theater musste Zweig, um dieser Utopie gerecht zu werden, ausblenden. Es scheint, als vermöge das Theater aufgrund seiner binären Disposition von Rolle und Selbst - wie kongruent diese auch immer ausfallen mag - die Frage nach der Identität überhaupt erst in dieser Tiefendimension aufzuwerfen. Sie bildet den Nexus der Beiträge von Jews and the Making of Modern German Theatre. Im Eingangsaufsatz spricht Steven E. Aschheim von den Problemen einer essentialistischen Identitätsrhetorik mit all ihren (tragischen) Konsequenzen. Dabei zeigt sich, dass hier die Debatte um den Anteil einer performativen, also handlungsorientierten Konstruktion von Identität überhaupt erst die Möglichkeit einer kritischen Genealogie essentialistischer und damit eben auch rassistischer Zuweisungen eröffnet. Die Verbindung von Außenseiterposition und theatraler Praxis wirkt hier nicht nur destabilisierend, sondern eben auch produktiv, indem sie die Selbstwie Fremdwahrnehmung in besonderer Weise zu schärfen vermag. Hildesheim MIRIAM DREWES Daniele Daude, Oper als Aufführung - Neue Perspektiven auf Opernanalyse. Bielefeld: transcript Verlag, 2014, 291 Seiten. Neue Perspektiven auf Opernanalyse verspricht Daniele Daude mit ihrer Dissertation Oper als Aufführung. Ihr Ziel ist es, „ein systematisches Instrumentarium zu entwickeln, mittels dessen die Prägungen einer Opernaufführung [. . .] in den Analyseprozess mit einbezogen werden“ (S. 14). Für ihre Untersuchung wählte Daude zwei an der Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 117-119. Gunter Narr Verlag Tübingen 117 Rezensionen Staatsoper in Berlin entstandene Inszenierungen von Ruth Berghaus: Der Barbier von Sevilla (Premiere: 1968, damals noch auf Deutsch gesungen) und Pelléas et Mélisande (1991). In sieben Aufführungsbesuchen zwischen 2002 und 2008 (viermal Barbier und dreimal Pelléas) gewinnt Daude ihre (primären) ‚Forschungsgegenstände‘. Dabei verfolgt sie nicht mehr das Ziel einer Tansformations- oder Inszenierungsanalyse, sondern stellt eine Aufführungsanalyse vor. Jeder Aufführung ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das in „Sequenzen“ (Aufführungsausschnitte unterschiedlicher Länge) gegliedert ist. Zu Beginn jeder Sequenz wird aus Daudes Beobachtungsprotokoll zitiert. In zwei Teilanalysen (erste Barbier-Aufführung/ „Sequenz 2“, erste Pelléas-Aufführung/ „Sequenz 4“) und zwei Komplettanalysen (vierte Barbier- und dritte Pelléas-Aufführung) sind es Rollenfiguren bzw. ihre DarstellerInnen („Figurenanalyse“) oder die vier unterschiedlichen Ebenen von Dramaturgie (Basis Libretto), Musikdramaturgie (Partitur), Inszenierung und Aufführung („Vier- Schritt-Analyse“), mit denen die Analysen gegliedert sind. Theoretisch-methodisches Rückgrat ist die Begriffstrias „Gesten, Knoten, Korrespondenzen“. Der (weite) Gestenbegriff zielt auf den „produzierenden Pol einer Aufführung“. Die Autorin unterscheidet „musikalische Gesten“, „inszenatorische Gesten“ und „performative Gesten“ (aufführungsspezifische Momente der Bedeutungserzeugung). Der Knotenbegriff bezieht sich auf „den rezipierenden Pol einer Aufführung“. Knoten sind erfahrene Spannungsmomente, die aus individueller ästhetischer Erfahrung resultieren. Analog zu den Gesten wird zwischen musikalischen bzw. musikdramaturgischen Knoten, Inszenierungsknoten und Aufführungsknoten unterschieden. Daude macht es sich zur Aufgabe, performative Gesten und Aufführungsknoten zu identifizieren und zu erläutern. Ein markantes Merkmal der Arbeit ist die Darstellung des Prozesses, den die Autorin in der Beschäftigung mit ihren Gegenständen (die Inszenierungen und Aufführungen derselben) durchlaufen hat. Sie stellt fest, „dass Aufführungen nach unterschiedlichen Kriterien erfasst werden, je nachdem, ob es der erste, zweite oder dritte Besuch einer Inszenierung ist“ (S. 260). Teilweise (wie etwa bei der dritten Barbier-Aufführung) fließen auch Publikumsbeobachtungen oder -befragungen ein. Die Befragung von einzelnen Aufführungsbesuchern gerät bisweilen recht bizarr und trägt eher zu einem Erkenntnisgewinn über die Befragten als zur Aufführung bei, etwa bezüglich der Reichweite des Begriffs „expressionistisch“ (S. 234). Zwischengeschaltet ist für jede Inszenierung ein Kapitel „Inszenierungsanalyse“, das insbesondere auf Recherchen im Nachlass Berghaus’ (Regiebuch, -klavierauszug, Notizen und Protokolle) basiert. Im Fall vom Barbier wird eine vergleichende ‚Analyse‘ mit der Inszenierung von Daniel Slater (Komische Oper Berlin 2002) vorgenommen, bei welcher die Autorin als Regiehospitantin beteiligt war. Das begriffliche Grundkonzept „Gesten, Knoten, Korrespondenzen“ erweist sich zumindest in seinen Grundzügen als fruchtbar. Die Unterscheidung von Inszenierungs- und Aufführungsknoten vermag allerdings nicht vollends zu überzeugen. Ist es überhaupt sinnvoll von „Inszenierungsknoten“ zu sprechen? Denn es sind ja - zumindest im Konzept von Daude - nie Inszenierungen, die ästhetisch erfahren werden, sondern immer nur Aufführungen (von Inszenierungen). Die Differenzierung von Inszenierungs- und Aufführungsknoten ist da schwer durchhaltbar. Inszenierungsknoten können doch nur als Aufführungsknoten wahrgenommen werden. Und was (in der ästhetischen Wahrnehmung) womöglich ausschließlich als Aufführungsknoten identifiziert wird, könnte immer auch Inszenierungsknoten sein. Aus der Konzentration auf die Aufführungen gelingen bemerkenswerte Einzelbeobachtungen. Etwa bezüglich der subtilen Verbindung der beiden Figuren Geneviève und Pelléas, die durch die „gleiche Langsamkeit“ ihrer Bewegungen hergestellt wird. Daude formuliert hierfür die Kategorie „performative Korrespondenz“ (S. 180). Nuanciert beobachtet wird auch, wie Rinat Shaham (Mélisande) in der Haarszene (III.1) den Namen „Pelléas“ singt: „ohne Eile, ohne schleppende Emphase“; eine „leichte Unterstreichung des aufgezeichneten Tenuto“ vermag dabei ihre Klage zu verdeutlichen. Denn durch die von Pelléas hier missverstandene Rosenmetapher verliert sie ihren „Verbündeten und Spielkameraden“ (S. 196). Oder Katharina Kammer- 118 Rezensionen loher (Rosina), die durch ihre Realisierung der inszenatorischen Gesten eigene performative Gesten kreiert und so eine sexualisierte Lesart für Rosina eröffnet (S. 127). Das sind aufschlussreiche Blicke auf feinste Wirkungsmechanismen innerhalb einer Opernaufführung. Der - nicht explizit formulierte - Schwerpunkt der Analysen liegt auf proxemischen Vorgängen in den Aufführungen. Bewegungen der Darstellerkörper im Raum werden genau beobachtet, beschrieben und oft im Sinne einer kohärenten Dramaturgie gedeutet. Trotz einiger Ausnahmen (etwa die Unterschiede in der musikalischen Interpretation der Dirigenten Michael Gielen und Simon Rattle betreffend, S. 228) ist die Beschäftigung mit der Musik (als Klangereignis) in einem Grad ausgeprägt, der sie als eine Nebensache erscheinen lässt. So etwa bei der Figurenanalyse von Figaro: „Die emphatische Art und Weise seiner musikalischen Gestaltung ist Hinweis sowohl auf das Übertreiben seiner Heldentaten wie auch auf seine eigentliche Überforderung“, ist hier die einzige Aussage, die die Musik einbezieht (S. 92). Bartolos Figurenanalyse kommt ganz ohne aus (S. 94). Bei der Untersuchung der Musikdramaturgie der Brunnenszene (Pelléas, II.1) wird im Wesentlichen erläutert - und dies ist eine nicht nur hier in Anspruch genommene Vorgehensweise -, wie der untersuchte Ausschnitt musikalisch zu gliedern ist (S. 183 - 186). Die Beschreibung trägt dann recht ausgeprägt den Charakter von nacherzählter Musik: „Vom Moment des Verlustes des Ringes an fügt Debussy ein weiteres, aus abwärtsgehenden Triolen und vier Achteln bestehendes Motiv ein.“ (S. 186) Unter Einbezug des folgenden, die „szenenbezogene Analyse“ komplettierenden Unterkapitels „Inszenierungs- und Aufführungsanalyse“ fällt auf, dass die separiert betrachteten Ebenen Musikdramaturgie und Inszenierung/ Aufführung auch im weiteren Verlauf der Analyse weitgehend separiert bleiben (S. 186 - 189). Ähnliches ist auch bei der Vier-Schritt-Analyse bezüglich der Verratsszene (III.4) festzustellen (S. 243 - 257). Es gibt praktisch keine Verbindung zwischen der musikdramaturgischen und der Inszenierungs-/ Aufführungsebene. Doch gerade hier würden sich doch die Fragen stellen: Wie wirkt in der Aufführung die Szene auf die Musik und umgekehrt? Wie stellt sich dieses Zusammenwirken in der Ereignishaftigkeit der Aufführung dar? Was trägt die aufgeführte Musik zur Prägung der Aufführung bei? Im Ansatz ist dies, etwa bei dem erwähnten Gielen-Rattle-Beispiel, durchaus erkennbar. Doch diese Fragen konsequent(er) von der Aufführung her zu erörtern, wäre spannend gewesen. Es ist die Aneinanderreihung der „Sequenzen“, einer „Sammlung von Momenten“ (S. 136), die sich im größeren Zusammenhang der Arbeit als Manko erweist. Die Teilanalysen wünschte man sich methodologisch im Einzelnen ausführlicher kommentiert und in den gesamtanalytischen Kontext stärker eingebunden. Beim Vergleich der Inszenierungen von Berghaus und Slater rühmt Daude Berghaus’ „wesentlich andere Auffassung von Oper“, die die „spezifisch musikdramatische Form“ respektiere (S. 118). Es bleibt aber unklar, worin denn das Spezifische der musikdramatischen Form liegt. Dass Berghaus die Bühne nicht „auf eine repräsentative Funktion“ reduziert (wie Slater), sondern sie „als eine weitere narrative Ebene im komplexen Operngewebe“ (S. 118) betrachtet, ist ein spannendes Ergebnis bezüglich Berghaus’ Inszenierungsarbeit und ihrer „wesentlich anderen Auffassung von Oper“ (S. 118). Es sagt aber nichts darüber aus, ob und wie dies mit der „spezifisch musikdramatische[n]“ Form zusammenhängt. Die wechselseitigen Defizite in der musikwissenschaftlichen und theaterwissenschaftlichen Disziplin in puncto Opernaufführung mit einem Buch zu tilgen, ist eine unlösbare Aufgabe. Wie Daude selbst klarstellt, sind aufführungs- und inszenierungsanalytische Herangehensweisen theaterwissenschaftlicher Provenienz „Spezifizierungen eines umfassenden opernanalytischen Kontextes, in dem Opern aus unterschiedlichen Blickwinkeln und von unterschiedlichen Ausgangspunkten her erforscht werden“ (S. 223). Die verschiedenen Strategien seien daher „weniger gegeneinander auszuspielen als vielmehr als komplementäre Techniken zur Ergründung von Opern zu verstehen“. Dem kann man nur zustimmen und die aufführungsanalytisch gewonnenen, opernanalytischen Perlen, die sich zweifellos in dem Buch finden, inspiriert zur Kenntnis nehmen. Thurnau/ Bayreuth BERND HOBE 119 Rezensionen