eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
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2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2012
271-2 Balme

Christina Schmidt. Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Bielefeld: transcript Verlag, 2010, 374 Seiten.

2012
Marielle Silhouette
Gruppe dargebotenen künstlerischen Performance und der kulturellen Performance indigener Gemeinschaften werde zwar ein Kulturkontakt initiiert, doch würden die ‚theatrical barters‘ im Gegensatz zu Mauss’ Modell gesellschaftlicher Gabenökonomie letztlich kaum auf einen dauerhaften, Gemeinschaft stiftenden Kulturaustausch abzielen. Mögliche Grenzüberschreitungen zwischen den Praktiken künstlerischer und kultureller Performance führt hingegen der iranische Theaterwissenschaftler Mohammadreza Farzad ins Feld. Bezeichnenderweise gründet seine Argumentation gerade nicht im ästhetischen Autonomieanspruch westlicher Kunst. Farzad differenziert - unter Rekurs auf Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft - zwischen der Ökonomie der ‚Gabe‘ als sozialem Kitt kulturell weitgehend homogener Gemeinschaften und der Opferhandlung bis hin zum Märtyrertod. Letztere spielen eine tragende Rolle in der religiösen und nationalen Identitätsbildung. Am Beispiel des traditionellen persischen Passionsspiels Ta’ziyeh, in dem das Martyrium von Imam Hussein, Enkelsohn des Propheten Mohammed, thematisiert wird, stellt er vor dem realen Hintergrund islamischer Selbstmordattentate die provozierende Frage nach den möglichen Konsequenzen ästhetischer und kultureller Performanz jenseits der symbolischen Formen. Mit der Überführung von Text (der noch die Spuren einer ‚Heiligen Schrift‘ in sich trägt) in performatives, soziales Handeln wird sowohl die Trennung zwischen dem Bereich der Religion bzw. Kunst und dem der Politik wie auch die Differenz von Gesellschaft und Gemeinschaft obsolet. Dass sich das Konzept der Gabe in rituellen und künstlerischen Performances gerade im transitorischen Raum sozialer, transzendenter und ästhetischer Erfahrungen realisiert, verdeutlicht auch der abschließende Beitrag von Ingrid Hentschel. Gleichzeitig akzentuiert sie abermals den bereits von Una H. Moehrke ins Spiel gebrachten ‚Mehrwert‘ performativer Kunst: Als ein sich erst in der Gemeinschaft von Performern und Publikum realisierendes „Präsent der Präsenz“ (S. 117) entzieht sie sich der ökonomischen Logik des materiellen Warentauschs. Im Modus der Gabe präsentiert sich auch die äußere Aufmachung der Publikation: Mit vielen farbigen Abbildungen, assoziativen Zwischentexten, leserfreundlichen Abstracts und einem ungewöhnlichen Schriftbild im Flattersatz auf satiniertem Papier vermag der Band dem Leser und Betrachter auch ein optisches und haptisches Erlebnis zu bescheren. München KATHARINA KEIM Christina Schmidt. Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Bielefeld: transcript Verlag, 2010, 374 Seiten. Wer sich mit Einar Schleef und allgemein mit der Frage des Chors im heutigen Theater befasst, wird diese Publikation als Nachschlagewerk betrachten, denn Christina Schmidt gelingt in ihrer hervorragenden Untersuchung die Vermittlung und Veranschaulichung einer anspruchsvollen Theaterreform, die radikal mit unseren Darstellungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten bricht. Nur eine umfangreiche Auseinandersetzung mit Schleefs Werk kann eine solche Klarheit des Blicks und des Ausdrucks verschaffen, die bereits im programmatischen Titel und in der 11seitigen Einleitung mit deren wirkungsvoller Erörterung der Grundbegriffe und -fragen zum Vorschein kommt. Dass Schleef „den Chor als zentrale Theaterfigur begreift“, bedeutet zunächst die Abwendung von einer ich-zentrierten Auffassung desselben, womit sich sein Theater „von anderen theatralen Einsätzen chorischer Ästhetiken“ (S. 9 - 10) deutlich absetzt: Statt einer massenhaften Ansammlung oder „ex negativo als dekonstruierte[r] und vervielfältigte[r], ehemalige[r] Einzelfigur“ (S. 11) wird der Chor als Theaterfigur und das Theater selbst als „realer Versammlungsort“ (S. 14) kenntlich gemacht. Dabei fokussiert Christina Schmidt auf drei späte chorische Inszenierungen des 2001 verstorbenen Regisseurs, Ein Sportstück von Jelinek (Burgtheater, Wien, 1998), den Golem in Bayreuth von Ulla Berkewicz (Burgtheater, Wien, 1999) sowie Verratenes Volk nach Döblin, Nietzsche, Milton, Dwinger und anderen (Deutsches Theater, Berlin, 2000). Statt einer beliebigen Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 114-116. Gunter Narr Verlag Tübingen 114 Rezensionen Beschreibung eines theatralen Phänomens wird zuerst anhand der zwei ersten Beispiele in einem mit „Tragödie als Bühnenform“ betitelten ersten Teil „das begriffliche Instrumentarium entwickelt und die methodische Herangehensweise zur Analyse von Schleefs szenischem Denken entfaltet“ (S. 19), womit in Teil II die „Porträtierung einer Inszenierung“ (S. 19) am Beispiel von Verratenes Volk erfolgen kann. Mit der Darstellung der „archäologischen Lektüre der verwendeten Texte“ anhand des neu erschlossenen Archivmaterials in Schleefs Nachlass an der Akademie der Künste (Berlin) und durch die „Genese der Inszenierung“ (S. 20) überhaupt wird Schleefs vom Chor ausgehendes szenisches Denken verdeutlicht. In Schleefs Neuinterpretation der Theatergeschichte ist der mit Shakespeare erfolgte Durchbruch des Protagonisten auf Kosten des Chors und der Frau zugleich ein tiefer, schmerzlicher Verlust, dem durch eine Wiederbelebung der Tragödie dringend entgegenzuwirken sei. Unter diesem Begriff versteht Schleef den „konfliktuöse[n] Zusammenhang szenischer Orte“ (S. 16), wie er in der ‚antiken Konstellation‘ zum Ausdruck kommt, als Elektra auf dem Proszenium „vor dem Palast“ steht, während sich der Chor in der Orchestra, das heißt dem Publikum am nächsten, behauptet. Die Frage ist nun, so Schmidt, „wie der Chor wieder Einzug in einem Theater halten [kann], dessen Bühne ihm nicht nur dramaturgisch, sondern auch baulich keinen Auftrittsort mehr bietet“ (S. 18). Denn das Verschwinden der Chor-Figur hängt auch, so hält Schleef in Droge Faust Parsifal (1997) fest, eng mit der Erfindung der Zentralperspektive zusammen und mit der Feststellung, dass nur eine „Einzelfigur im Fluchtpunkt erscheinen [könne], keine Gruppe“ (S. 15). Darüber hinaus sind seit dem Barock die Theatereinrichtungen als „rein optisch erschlossene Räume“ (Ulrike Haß) organisiert, in denen die Zuschauer als „passive Voyeurs“ (S. 32) eines „vor ihnen und in einem anderen zweiten, vom Zuschauersaal getrennten Raum stattfindenden Schauspiel“ (S. 27) sitzen. Es gilt also die Mittel zu untersuchen, mit denen Schleef in seinen Inszenierungen dem Chor zu neuem Leben verhilft, aber auch die „Räumlichkeit der Chorfigur“ sowie „die Bearbeitung der theatralen Wahrnehmung durch das chorische Theater“ zu hinterfragen und das Augenmerk auf die „Auffassung von Sprache, Text und Figur“ (S. 11) zu richten. Dass Schleef den Konflikt nicht nur als Grundprinzip des Theaters, sondern allgemein als existenzielle Kernfrage auffasst, wird in Schmidts Analyse verdeutlicht, indem sie die seinen Inszenierungen innewohnende Gewalt als Provokation des Publikums zu verstehen gibt. Über die neue Konfiguration der Bühne durch Stege, Podeste, über die systematische Sprengung des Bühnenrahmens und allgemein des Guckkastentheaters hinaus ist Schleef durch die „energistische Form des Chorauftritts“ (S. 13) und das ständige Übergreifen in den Zuschauersaal um eine Aufhebung der alten Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi bemüht. Auf diese Weise werden die Zuschauer notwendigerweise aus der Passivität gerissen und zum aktiven Widerstand gezwungen. Schleefs Theater konfrontiert das Individuum mit dem Kollektiv, die Figur mit dem Chor und gewinnt somit in den Jahren der Wende und der Wiedervereinigung eine politische Brisanz, die im weitaus längsten letzten Teil von Schmidts Untersuchung über Verratenes Volk am Deutschen Theater 2000 zur vollen Geltung kommt. Mit dem aggressiven Untertitel Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk ist dieses ‚Volksspiel‘ als neuer Versuch einer Rückführung des tragischen Bewusstseins in Zeiten des nationalen Jubels konzipiert, womit Schleef Individuum und Kollektiv mit dem Ausgestoßensein und der agonalen Dynamik konfrontiert. Bei aller Gewalt seiner unversöhnlichen Weltanschauung (Lehmann) spricht es doch sehr für Schleefs integratives Denken und reformatorische Grundeinstellung, dass er dem Theater eine entscheidende Rolle beimisst und in dieser Überzeugung seinen Einflussbereich zu erweitern bestrebt ist. Dass hiermit Ausgestoßene und Randerscheinungen eine tragische Würde erlangen, ist, wie Schmidt eindrucksvoll beschreibt, auf Schleefs Auffassung einer kontaminierenden Bühnenform zurückzuführen. Die Vervielfältigung der szenischen Situation „vor dem Palast“ und die Verstreuung der Darstellungs- und Wahrnehmungsquellen ermöglichen es, die Formwerdung selbst als konfliktträchtigen Störfaktor zu problematisieren. Wie Christina Schmidt in dieser Untersuchung meisterhaft dokumentiert, erlaubt 115 Rezensionen Schleefs Rehabilitierung des Chors als unentbehrlichen Bestandteil der Bühne in dieser Hinsicht eine vollständige, effektvolle und dauerhafte Verwandlung unseres Theaters in einen realen Versammlungsort. Paris MARIELLE SILHOUETTE Jeanette R. Malkin/ Freddie Rokkem (Eds.). Jews and the Making of Modern German Theatre. Iowa City: University of Iowa Press, 2010, 304 Seiten. Als im Juli 2010 während des XVI. Weltkongresses der International Federation for Theatre Research (IFTR) die Buchpräsentation von Jews and the Making of Modern German Theatre stattfand, war der Hörsaal der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Bersten voll. In der Tat verdient das Vorhaben der Herausgeber Jeanette R. Malkin und Freddie Rokkem, die Rolle von Juden und Nicht-Juden an der Entwicklung eines modernen deutschen Theaters in den Jahren 1871 bis 1933 zu beleuchten, besondere Aufmerksamkeit. Die Beiträge des Bandes halten sich von gesellschaftlichen, historischen und wissenschaftlichen Stereotypen weitgehend fern und öffnen zugleich neue Perspektiven auf das Thema: Dazu gehört die Betrachtung der Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten ebenso, wie die Korrektur der These von der Mitgestalterrolle der Juden an der deutschen Kultur („contribution history“, S. 3), bis hin zum Verständnis von der jüdischen Bevölkerung als Teil der gesellschaftlichen Gesamtstruktur („part of its fabric“, S. 3). Wichtig zu erwähnen ist zudem, dass es den Herausgebern mit diesem Band erstmals gelungen ist, interkulturelle Perspektiven in einem Sammelband zu vereinen. Tatsächlich bestätigt die Vielzahl der Aufsätze mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten und den vielfältigen Zugangsweisen zu diesem Thema nicht nur die (in sich) widersprüchliche Situation jüdischer bzw. nicht-jüdischer Theatermacher im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Deutschland und Österreich, die jegliche monokausale Deutung verbietet. Die Breite der Ansätze und Perspektiven vermittelt zudem neue Erkenntnisse über die vielfältigen Verbindungslinien zwischen Juden und Nicht-Juden auf dem Theater sowie deren Wirkung und Rückkoppelungseffekte vom Theater in gesellschaftliche und politische Kontexte. Das Theater als Ort ästhetischer, kultureller, intellektueller und politischer Sinnkonstitution, aber auch als Produktionsstätte mit spezifischen Organisationsstrukturen, vermag auf ganz besondere Weise das komplexe Problem jüdischer Identitätsbildung zu veranschaulichen, was auch an der theatralen Ausdrucksform vom Verstecken und Zeigen, von der Maskerade eines (vermeintlich) Authentischen oder an der flexiblen Binarität von Präsenz und Repräsentation liegen mag. Diese Vielfalt zu vermitteln, versucht beispielsweise der Aufsatz von Anat Feinberg, der überzeugend darlegt, dass das Interesse von Juden am Theater, bei den Machern wie beim Publikum, im Wilhelminismus zwar durchaus auch der Rezeption des bildungsbürgerlichen Kanons, der Texte Lessings, Goethes und Schillers geschuldet war. Vor allem aber seien das Praktizieren von Theater im privaten Familien- und Freundeskreis - wie etwa die Erinnerungen von Sammy Gronemann, Sohn des Hannoverschen Rabbis, zeigen - oder auch die theatrale Komponente religiöser Riten Ursachen für ebenso frühkindliche wie intensive Theatererfahrungen gewesen, die wiederum nicht selten in Berufen mündeten, die mehr oder weniger eng mit dem Theater zu tun hatten. Die Annahme von der Assimilation an ein deutsches Bildungsbürgertum relativiert auch Peter Jelavich, der zwar, wie Feinberg, zugibt, dass vor allem die ethischen Konzepte der deutschen Aufklärung, wie Offenheit, Toleranz und damit auch Pluralität, viele Juden im deutschsprachigen Raum begeistert hätten und weniger die Anpassung an eine (vermeintlich) homogene Vorstellung einer deutschen Kulturnation. Dies verdeutliche die Entwicklung einer pluralen Theaterkultur der so unterschiedlich orientierten Theatermacher Otto Brahm und Max Reinhardt. Deren Ästhetiken wiederum belegten, dass von einer spezifisch jüdischen Ausdruckskultur schlichtweg nicht zu sprechen sei, sondern allenfalls von einem hohen Maß an Sensibilisierung Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 116-117. Gunter Narr Verlag Tübingen 116 Rezensionen