eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
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2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2012
271-2 Balme

Ingrid Hentschel, Una H. Moehrke, Klaus Hoffmann (Hrsg.). Im Modus der Gabe / In theMode of Giving. Theater, Kunst Performance in der Gegenwart / Theater, Art, Performance in the Present. Bielefeld: Kerber Verlag, 2011, 207 Seiten.

2012
Katharina Keim
Masseninszenierung Erstürmung des Winterpalais (1920), die Entwicklung einer Theatertherapie (Aktionskatharsis) und die Ausdehnung der Theatralitätskonzeption auf die Tierwelt (Das Theater bei den Tieren). Unter den im fünften Kapitel (288 - 340) behandelten Werken und Inszenierungen aus der Emigrationszeit, in denen Evreinov seine Theaterphilosophie an das kapitalistische Umfeld anpasst, ist besonders das technophile Drama Der Radio-Kuss oder Der Roboter der Liebe hervorzuheben. Eine knappe Zusammenführung dient schließlich der nochmaligen Befestigung der in den Buchtitel aufgenommenen Hauptthese (S. 341 - 344). Die Studie, die nach der „Entdeckung der Kultur als Performance“ in den Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts fragt, entfaltet dort ihre größte Kraft, wo sie das konkrete Funktionieren eines widerspruchsvollen Philosophierens schildert. Es ist schnell klar, dass Evreinovs Schriften nach systematischen Kriterien oftmals inkonsistent und die mitunter irrsinnigen Thesen (auch aus zeitgenössischer Sicht) rasch widerlegbar sind. Der Autorin zufolge wäre eine Bewertung von Evreinovs ästhetischen Schriften (hier vor allem Theater für sich selbst) auf einer rational argumentativen Ebene verfehlt (siehe insbes. S. 167 - 214). Seine Popularität als Autor verdanke sich vielmehr dem Aufführungscharakter seines Schreibens, in welchem sich eine überbordende, disziplinübergreifende Zitierlust mit dem Ankündigungs- und Behauptungsgestus des Conférenciers verbinde. Evreinov nehme gegenüber seinen Lesern verschiedene Rollen ein, vorzugsweise die des Harlekin oder eines mittelalterlichen Doctor Prolocuteur. In einer zirkulären Bewegung werde der Leser einer Wucht des Behauptens ausgesetzt, die suggestiv eben jenen theatralen Instinkt anzusprechen suche, den Evreinov variantenreich als anthropologische Gegebenheit immer schon voraussetzte. Evreinov adressiere seine Leser auf einer gleichsam vorreflexiven, somatischen Ebene (S. 175 ff.). Auf allfällige Parallelen zu Antonin Artaud, der mit Evreinovs Philosophie vertraut gewesen sein dürfte, geht die Verfasserin wiederholt ein (siehe etwa S. 163). Äußerst spannend lesen sich zudem die Passagen zur ideologischen Anpassungsfähigkeit Evreinovs in der post-revolutionären Zeit, die im Licht seiner These des quasi naturgesetzlichen menschlichen Verwandlungswillens betrachtet werden können (S. 215 - 224). Als kleines Manko der Studie fällt auf, dass das von der Verfasserin zusammengetragene Bildmaterial nicht durch eine quellenkritische Würdigung in die Untersuchung eingebunden ist. Auf ein Namens- und Sachregister wurde bedauerlicherweise verzichtet. Swetlana Lukanitschewa leistet in ihrer Studie eine beeindruckende (nicht zuletzt übersetzerische) Grundlagenarbeit, die wichtige Impulse für ein besseres Verständnis der europäischen Theaterreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts birgt. Nach der Lektüre des Buches wird deutlich, dass es wohl allein dem weitgehenden Fehlen von Übertragungen aus dem Russischen geschuldet ist, wenn Nikolai Evreinov in der (deutschsprachigen) Theaterforschung noch immer nicht in einem Atemzug mit Georg Fuchs, Peter Behrens, Max Reinhardt, Adolphe Appia oder Gordon Craig genannt wird. Amsterdam JAN LAZARDZIG Ingrid Hentschel, Una H. Moehrke, Klaus Hoffmann (Hrsg.). Im Modus der Gabe / In the Mode of Giving. Theater, Kunst Performance in der Gegenwart / Theater, Art, Performance in the Present. Bielefeld: Kerber Verlag, 2011, 207 Seiten. Dieser Tagungsband basiert auf einem im Juni 2010 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld veranstalteten Symposium „Konzepte der Gabe in der Gegenwartskunst“. Das programmatische Modell von ‚Kunst als Gabe‘ dient hier als Dispositiv für ethisch-ästhetische Gegendiskurse zur allgegenwärtigen Ökonomisierung darstellender und bildender Kunst. Mit dem fast allen Beiträgen gemeinsamen Beharren auf der aufklärerischen Idee ästhetischer Autonomie wird eine vorschnelle Vereinnahmung der Kunstpraxis für aktuelle sozio-kulturelle und bildungspolitische Zwecke grundlegend in Frage gestellt. Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 112-114. Gunter Narr Verlag Tübingen 112 Rezensionen Neben der kunsttheoretischen Annäherung an das Konzept der Gabe unternimmt der Band zumindest ansatzweise auch den Versuch, der gegenseitigen Bedingtheit von Kunstwissenschaften und künstlerischer Praxis i. S. einer pratice based research Gestalt zu verleihen. Allerdings beschränken sich die Darlegungen zahlreicher praktischer Projekte nicht selten auf eine kurze Konzeptbeschreibung und Fotodokumentation. Darin zeigt sich indirekt auch die generelle Schwierigkeit, körperliche Performanz und Interaktionsphänomene in das Medium der Wissenschaftssprache zu bannen. Besonders von internationalen bzw. interreligiösen Kunstprojekten, wie dem von Klaus Hoffmann allzu knapp präsentierten Theatre for a Change aus Ghana und der Performance Wishuponastar Smadar Yaarons vom israelischen Acco Theater, würde man sich ausführlichere Beschreibungen wünschen. Hanne Seitz gelingt es hingegen in ihrer Darstellung von This Baby Doll will be a Junkie - einer Wiener Intervention im öffentlichen Raum von Ulrike Möntmann über die Biographien drogenabhängiger Frauen - den bisweilen zwiespältigen Charakter von Kunst als gesellschaftlich verstörender, „giftiger Gabe“ (S. 95) aus der Doppelperspektive ästhetischer Theorie und Praxis zu erhellen. Auch Christine Biehlers Projektpräsentation Landarbeit 07, eine mehrjährige Gemeinschaftsaktion professioneller Künstler mit Hildesheimer Studierenden und Bewohnern des niedersächsischen Dorfs Heinde, vermittelt einen umfassenden Eindruck vom Austausch zwischen traditioneller Dorfkultur und Kunst bei der Realisierung einer ephemeren, sozialen Skulptur im ländlichen Raum. Den theoretischen Bezugspunkt des Modells von ‚Kunst als Gabe‘ bildet vor allem Marcel Mauss’ Essai sur le don, in dem der Gabentausch als ein umfassendes kulturtheoretisches Paradigma analysiert wird. In den Beiträgen von Gerhard Stamer und Klaus Lichtblau werden die Differenzen zwischen der außerhalb des ökonomischen Kreislaufs stehenden, durch Reziprozität gekennzeichneten ‚Gabe‘ und der Logik des kapitalistischen Äquivalententauschs, systematisch und historisch untersucht. Erst mit der juristischen Verankerung der ‚Schenkung‘ ohne Verpflichtung zur Gegengabe, wie etwa im Bürgerlichen Gesetzbuch seit 1900, ist deren Einseitigkeit und die damit verbundene Abgrenzung von Warentausch und Kauf rechtlich definiert. Die Ökonomie des Gabentauschs zielt primär auf Etablierung bzw. Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen innerhalb eines Kollektivs bzw. zwischen benachbarten Gemeinschaften. Dadurch unterscheidet sie sich vom individuellen, auf ‚Berechenbarkeit‘ ausgelegten, modernen gesellschaftlichen Warentausch. Wie Lichtblau im Anschluss an die jüngere Mauss-Rezeption ausführt, ist das ethnologische Konzept der prinzipiell reziproken Gabe von der einseitigen ‚reinen‘ oder ‚authentischen Gabe‘ unterschieden. Letztere beruht stets auf einer - mit der Vorstellung eines ursprünglichen Gottes verknüpften - Schöpfungstheologie. Diese These wird an späterer Stelle auch von dem praktischen Theologen Gerhard Marcel Martin bekräftigt. Anhand von Beispielen religiöser bzw. religiös inspirierter Kunst aus verschiedenen Weltreligionen verweist er auf die strukturelle Verwandtschaft zwischen theologischen Schöpfungsmythen und künstlerischen Schöpfungsprozessen. Aus ethnologischer Sicht verbindet sich mit der Gabe hingegen stets ein, wenn auch verhülltes, soziales ‚Interesse‘, nämlich die Anknüpfung bzw. dauerhafte Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen. Analog hierzu, so Lichtblau, erschöpfe sich auch die gesellschaftliche Bedeutung moderner Kunst weder in der ökonomischen Verwertbarkeit noch seien künstlerische ‚Gabe‘ oder ‚Begabung‘ auf - letztlich religiös fundierte - einseitige Schöpfungsprozesse reduzierbar. Automatisch rücken dabei Fragen zur Kunstrezeption und -kritik in den Vordergrund. Hier hätte sich, gerade im Hinblick auf den fast allen Beiträgen zu Grunde liegenden ästhetischen Autonomieanspruch, eine Bezugnahme auf neuere Konzepte der relationalen Ästhetik, wie sie etwa von Nicolas Bourriaud vertreten werden, wohl als gewinnbringend erweisen können. Die meisten der hier versammelten kunst- und theaterwissenschaftlichen Annäherungen an den ‚Modus der Gabe‘ berufen sich jedoch auf Eugenio Barbas Theateranthropologie. Ian Watson weist in seiner Gegenüberstellung von Mauss’ Konzept des Gabentauschs und Barbas Praxis der ‚theatrical barters‘ aus den 1970er Jahren allerdings auf einen fundamentalen Unterschied hin: Durch die Differenz zwischen der von Barbas 113 Rezensionen Gruppe dargebotenen künstlerischen Performance und der kulturellen Performance indigener Gemeinschaften werde zwar ein Kulturkontakt initiiert, doch würden die ‚theatrical barters‘ im Gegensatz zu Mauss’ Modell gesellschaftlicher Gabenökonomie letztlich kaum auf einen dauerhaften, Gemeinschaft stiftenden Kulturaustausch abzielen. Mögliche Grenzüberschreitungen zwischen den Praktiken künstlerischer und kultureller Performance führt hingegen der iranische Theaterwissenschaftler Mohammadreza Farzad ins Feld. Bezeichnenderweise gründet seine Argumentation gerade nicht im ästhetischen Autonomieanspruch westlicher Kunst. Farzad differenziert - unter Rekurs auf Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft - zwischen der Ökonomie der ‚Gabe‘ als sozialem Kitt kulturell weitgehend homogener Gemeinschaften und der Opferhandlung bis hin zum Märtyrertod. Letztere spielen eine tragende Rolle in der religiösen und nationalen Identitätsbildung. Am Beispiel des traditionellen persischen Passionsspiels Ta’ziyeh, in dem das Martyrium von Imam Hussein, Enkelsohn des Propheten Mohammed, thematisiert wird, stellt er vor dem realen Hintergrund islamischer Selbstmordattentate die provozierende Frage nach den möglichen Konsequenzen ästhetischer und kultureller Performanz jenseits der symbolischen Formen. Mit der Überführung von Text (der noch die Spuren einer ‚Heiligen Schrift‘ in sich trägt) in performatives, soziales Handeln wird sowohl die Trennung zwischen dem Bereich der Religion bzw. Kunst und dem der Politik wie auch die Differenz von Gesellschaft und Gemeinschaft obsolet. Dass sich das Konzept der Gabe in rituellen und künstlerischen Performances gerade im transitorischen Raum sozialer, transzendenter und ästhetischer Erfahrungen realisiert, verdeutlicht auch der abschließende Beitrag von Ingrid Hentschel. Gleichzeitig akzentuiert sie abermals den bereits von Una H. Moehrke ins Spiel gebrachten ‚Mehrwert‘ performativer Kunst: Als ein sich erst in der Gemeinschaft von Performern und Publikum realisierendes „Präsent der Präsenz“ (S. 117) entzieht sie sich der ökonomischen Logik des materiellen Warentauschs. Im Modus der Gabe präsentiert sich auch die äußere Aufmachung der Publikation: Mit vielen farbigen Abbildungen, assoziativen Zwischentexten, leserfreundlichen Abstracts und einem ungewöhnlichen Schriftbild im Flattersatz auf satiniertem Papier vermag der Band dem Leser und Betrachter auch ein optisches und haptisches Erlebnis zu bescheren. München KATHARINA KEIM Christina Schmidt. Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Bielefeld: transcript Verlag, 2010, 374 Seiten. Wer sich mit Einar Schleef und allgemein mit der Frage des Chors im heutigen Theater befasst, wird diese Publikation als Nachschlagewerk betrachten, denn Christina Schmidt gelingt in ihrer hervorragenden Untersuchung die Vermittlung und Veranschaulichung einer anspruchsvollen Theaterreform, die radikal mit unseren Darstellungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten bricht. Nur eine umfangreiche Auseinandersetzung mit Schleefs Werk kann eine solche Klarheit des Blicks und des Ausdrucks verschaffen, die bereits im programmatischen Titel und in der 11seitigen Einleitung mit deren wirkungsvoller Erörterung der Grundbegriffe und -fragen zum Vorschein kommt. Dass Schleef „den Chor als zentrale Theaterfigur begreift“, bedeutet zunächst die Abwendung von einer ich-zentrierten Auffassung desselben, womit sich sein Theater „von anderen theatralen Einsätzen chorischer Ästhetiken“ (S. 9 - 10) deutlich absetzt: Statt einer massenhaften Ansammlung oder „ex negativo als dekonstruierte[r] und vervielfältigte[r], ehemalige[r] Einzelfigur“ (S. 11) wird der Chor als Theaterfigur und das Theater selbst als „realer Versammlungsort“ (S. 14) kenntlich gemacht. Dabei fokussiert Christina Schmidt auf drei späte chorische Inszenierungen des 2001 verstorbenen Regisseurs, Ein Sportstück von Jelinek (Burgtheater, Wien, 1998), den Golem in Bayreuth von Ulla Berkewicz (Burgtheater, Wien, 1999) sowie Verratenes Volk nach Döblin, Nietzsche, Milton, Dwinger und anderen (Deutsches Theater, Berlin, 2000). Statt einer beliebigen Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 114-116. Gunter Narr Verlag Tübingen 114 Rezensionen