eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2012
271-2 Balme

Swetlana Lukanitschewa. Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov. Die Entdeckung der Kultur als Performance. Tübingen: A. Francke Verlag, 2013, 367 Seiten.

2012
Jan Lazardzig
Rezensionen Swetlana Lukanitschewa. Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov. Die Entdeckung der Kultur als Performance. Tübingen: A. Francke Verlag, 2013, 367 Seiten. Nikolai Evreinov (1879 - 1953) sei, so urteilte Mitte der 1920er Jahre der Petersburger Altphilologe Boris Kazanskij, „von dem Dämon der Theatralität besessen“ (S. 194). Alle großen Fragen der Zeit, sei es der Psychologie, Anthropologie oder der Kulturtheorie, würden von ihm mit der Zwangslogik eines Morphinabhängigen auf das immer gleiche Prinzip, jenen ‚theatralen Instinkt‘ zurückgeführt, den er als entscheidende anthropologische Konstante in der Menschheitsgeschichte ausgemacht zu haben glaubte. Swetlana Lukanitschewas Studie, eine überarbeitete Fassung ihrer 2012 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommenen Habilitationsschrift, nimmt erstmals das umfangreiche kulturtheoretische und dramatische Gesamtwerk des russischen Theaterreformers (inklusive der in seinem Pariser Nachlass erhaltenen Quellen) in den Blick und entwirft eine differenzierte Perspektive auf den monomanen Theatrokraten, eine Zentralfigur der europäischen Theaterreform des frühen 20. Jahrhunderts. Ihr gelingt das Kunststück, den für Evreinov zentralen Gedanken eines vor-ästhetischen, menschlichen Transformationswillens variantenreich (sowohl biographisch und werkimmanent als auch kultur- und ideologiegeschichtlich) herauszuarbeiten und die verschiedenen Ebenen überzeugend miteinander zu verschalten. Der Name Nikolai Evreinov ist durch die Theatralitäts-Forschung der 1980er und 1990er Jahre, namentlich durch die Arbeiten von Joachim Fiebach, Eleonore Kalisch und vor allem durch Erika Fischer-Lichte, als Erfinder und Apologet des Begriffs ‚Theatralität‘ (theatral’nost) erneut in das Bewusstsein der deutschsprachigen Theaterwissenschaft gerückt. Doch bleibt es aufgrund der schwierigen Übersetzungssituation einer russischkundigen Leserschaft vorbehalten, sich eingehender mit der Theaterphilosophie Evreinovs zu befassen. Die überzeugend aufgebaute, präzis formulierte und mit 29 Abbildungen illustrierte Studie ist in sechs Kapitel untergliedert. In den ersten beiden Kapiteln leuchtet die Verfasserin den kultur- und theatergeschichtlichen Kontext für Evreinovs Wirken als Theaterreformer aus. Sie skizziert die russische Theaterentwicklung als ein Nebeneinander von Adelskultur und einer sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts emanzipierenden Volkskultur (S. 30). Aufgrund dieser dichotomen Struktur sei der Kontrast zwischen ‚natürlich‘ und ‚theatralisch‘, ‚echt‘ und ‚gespielt‘ in Russland sehr viel stärker ausgeprägt als anderswo in Europa. Das ideengeschichtliche Umfeld Evreinovs wird durch die Suche nach Erlösungsstrategien im russischen Kunstdiskurs des sogenannten Silbernen Zeitalters (der Zeit zwischen 1880 und 1917) bestimmt, hier vor allem durch das theurgische Kunstkonzept und die Sophienlehre von Vladimir Solov’ëv. Im dritten Kapitel (50 - 214), dem Herzstück der Studie, folgt die Verfasserin der Entstehung des Theatralitätskonzepts zwischen 1905 und 1917. Sie stellt das Wechselspiel von ästhetischer Theorie, früher Dramatik und den Regiearbeiten am Starinniyj Theater, im Theater von Vera Komissarževskaja sowie insbesondere im Kabarett dar. Zwischen 1908 und 1917 erscheinen die zentralen Schriften Die Theatralisierung des Lebens, Theater als solches und Theater für sich selbst. Letztere Schrift birgt die Quintessenz der Evreinovschen Lehre von der Theatrokratie, d. h. der Omnipräsenz des Theaters im Leben. Der Handlungsimpuls, der dem Erkennen der Allmacht des Theaters entwächst, soll im Endeffekt in die Eudämonie münden, in eine „Welt, die ein Individuum ohne Rücksicht auf die in der Gesellschaft etablierten Normen und Vorschriften nach seinen Bedürfnissen gestalten kann“ (S. 177). Das vierte Kapitel (S. 215 - 287) widmet sich der nach-revolutionären Phase seines Schaffens bis zur Emigration nach Paris 1925. In diese Zeit fällt sein Interesse an Methoden der Machtinszenierungen (Theater und Schafott), die berühmte Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 111-112. Gunter Narr Verlag Tübingen Masseninszenierung Erstürmung des Winterpalais (1920), die Entwicklung einer Theatertherapie (Aktionskatharsis) und die Ausdehnung der Theatralitätskonzeption auf die Tierwelt (Das Theater bei den Tieren). Unter den im fünften Kapitel (288 - 340) behandelten Werken und Inszenierungen aus der Emigrationszeit, in denen Evreinov seine Theaterphilosophie an das kapitalistische Umfeld anpasst, ist besonders das technophile Drama Der Radio-Kuss oder Der Roboter der Liebe hervorzuheben. Eine knappe Zusammenführung dient schließlich der nochmaligen Befestigung der in den Buchtitel aufgenommenen Hauptthese (S. 341 - 344). Die Studie, die nach der „Entdeckung der Kultur als Performance“ in den Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts fragt, entfaltet dort ihre größte Kraft, wo sie das konkrete Funktionieren eines widerspruchsvollen Philosophierens schildert. Es ist schnell klar, dass Evreinovs Schriften nach systematischen Kriterien oftmals inkonsistent und die mitunter irrsinnigen Thesen (auch aus zeitgenössischer Sicht) rasch widerlegbar sind. Der Autorin zufolge wäre eine Bewertung von Evreinovs ästhetischen Schriften (hier vor allem Theater für sich selbst) auf einer rational argumentativen Ebene verfehlt (siehe insbes. S. 167 - 214). Seine Popularität als Autor verdanke sich vielmehr dem Aufführungscharakter seines Schreibens, in welchem sich eine überbordende, disziplinübergreifende Zitierlust mit dem Ankündigungs- und Behauptungsgestus des Conférenciers verbinde. Evreinov nehme gegenüber seinen Lesern verschiedene Rollen ein, vorzugsweise die des Harlekin oder eines mittelalterlichen Doctor Prolocuteur. In einer zirkulären Bewegung werde der Leser einer Wucht des Behauptens ausgesetzt, die suggestiv eben jenen theatralen Instinkt anzusprechen suche, den Evreinov variantenreich als anthropologische Gegebenheit immer schon voraussetzte. Evreinov adressiere seine Leser auf einer gleichsam vorreflexiven, somatischen Ebene (S. 175 ff.). Auf allfällige Parallelen zu Antonin Artaud, der mit Evreinovs Philosophie vertraut gewesen sein dürfte, geht die Verfasserin wiederholt ein (siehe etwa S. 163). Äußerst spannend lesen sich zudem die Passagen zur ideologischen Anpassungsfähigkeit Evreinovs in der post-revolutionären Zeit, die im Licht seiner These des quasi naturgesetzlichen menschlichen Verwandlungswillens betrachtet werden können (S. 215 - 224). Als kleines Manko der Studie fällt auf, dass das von der Verfasserin zusammengetragene Bildmaterial nicht durch eine quellenkritische Würdigung in die Untersuchung eingebunden ist. Auf ein Namens- und Sachregister wurde bedauerlicherweise verzichtet. Swetlana Lukanitschewa leistet in ihrer Studie eine beeindruckende (nicht zuletzt übersetzerische) Grundlagenarbeit, die wichtige Impulse für ein besseres Verständnis der europäischen Theaterreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts birgt. Nach der Lektüre des Buches wird deutlich, dass es wohl allein dem weitgehenden Fehlen von Übertragungen aus dem Russischen geschuldet ist, wenn Nikolai Evreinov in der (deutschsprachigen) Theaterforschung noch immer nicht in einem Atemzug mit Georg Fuchs, Peter Behrens, Max Reinhardt, Adolphe Appia oder Gordon Craig genannt wird. Amsterdam JAN LAZARDZIG Ingrid Hentschel, Una H. Moehrke, Klaus Hoffmann (Hrsg.). Im Modus der Gabe / In the Mode of Giving. Theater, Kunst Performance in der Gegenwart / Theater, Art, Performance in the Present. Bielefeld: Kerber Verlag, 2011, 207 Seiten. Dieser Tagungsband basiert auf einem im Juni 2010 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld veranstalteten Symposium „Konzepte der Gabe in der Gegenwartskunst“. Das programmatische Modell von ‚Kunst als Gabe‘ dient hier als Dispositiv für ethisch-ästhetische Gegendiskurse zur allgegenwärtigen Ökonomisierung darstellender und bildender Kunst. Mit dem fast allen Beiträgen gemeinsamen Beharren auf der aufklärerischen Idee ästhetischer Autonomie wird eine vorschnelle Vereinnahmung der Kunstpraxis für aktuelle sozio-kulturelle und bildungspolitische Zwecke grundlegend in Frage gestellt. Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 112-114. Gunter Narr Verlag Tübingen 112 Rezensionen