eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2012
271-2 Balme

Sich einfügen, sich ausfügen

2012
Philipp Schulter
Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils am Beispiel von ZOO von aktör&vänner und von Xavier Le Roys Product of Other Circumstances Philipp Schulte (Gießen) I. Kümmere Dich um mich! - ZOO von aktör&vänner Zwölf Personen, eigenartig uniformiert, „Schutzanzug“ hatte der Performer mit dem Klemmbrett es genannt, sitzen in einer Art Warteraum in einem Gebäude in der Masthuggsterrasse in Göteborg, und warten, bis sie einzeln aufgerufen werden. Sie sind allesamt Teilnehmer an der Performance ZOO des schwedischen Produktionskollektivs aktör&vänner (Regie: Johan Forsman und Johan Rödström). Überall liegen Informationsbroschüren herum. An den Wänden befinden sich Tafeln, die in fehlerhafter Schreibmaschinenschrift allerlei Wissenswertes aus der Welt der Insekten mitteilen. Ein weiterer Performer betritt den Raum. Er ruft den ersten Teilnehmer auf und bittet ihn an einen kleinen Schreibtisch, der die insgesamt bürokratische Atmosphäre des Raumes nur noch unterstützt. Hier liegt schon ein Schriftstück parat, ein Vertrag: Es handelt sich um eine Einverständniserklärung des Teilnehmers, der sich mit seiner Unterzeichnung bereit erklärt, der vorübergehenden Adoption und Inobhutnahme eines Insekts zuzustimmen. Nach getätigter Unterschrift wird der Teilnehmer gebeten, sich zu einem Ausgabefenster in der Wand zu begeben. Sein Name wird deutlich genannt, und er erhält endlich, worauf er die ganze Zeit gewartet hat: in einem etwa 30x20 cm großen, durchsichtigen Gefäß sein „Adoptionskind“, eine lebendige Kakerlake. Für die Dauer einer Stunde hat er der Adoption zugestimmt, eine Stunde hat er nun die Verantwortung für diese Kakerlake, die übrigens einen sehr kurzen und fremdartigen Namen trägt, so etwa Bög oder Träg oder auch Groch. Zwanzig Minuten später. Die Teilnehmer sind inzwischen in einen weiteren Raum geleitet worden, der in krassem Gegensatz zu der Behördenästhetik des vorigen steht. Dafür erinnert er aber auf beunruhigende Weise aufgrund seines Maßstabs und seiner Form an das Gefäß, das jeder Teilnehmer in seinen Händen hält und in dem sich die kleinen, gar nicht so kleinen Kakerlaken noch immer tummeln. Es ist sehr warm und riecht nach Gewächshaus. Ein Außen lässt sich nur schwer ausmachen, obwohl es hinter den Wandfolien existiert. Es ist nicht ganz leicht, sich auf den Raum zu konzentrieren, denn etwas anderes erweckt gerade die Aufmerksamkeit. Jeder Teilnehmer trägt inzwischen einen Kopfhörer, dessen Kabel verbunden ist mit den kleinen Kakerlakengefäßen, eine Übersetzungsmaschine, wie es genannt wurde. Tatsächlich ist da neben vielem Glucksen und Rauschen und leisem Fauchen ein zartes Stimmchen zu hören, kindlich und hoch wie von einem winzigen Wesen, und es möchte gehört werden, es ruft, unendlich leise und doch hörbar: „Mutter“ oder „Vater“, und „Bist du das, da draußen? “ Eine Stimme, die via Kopfhörer erklingt und unweigerlich mit einer Kakerlake in Verbindung gebracht wird, ruft jeden Teilnehmer an und bestimmt ihn so als Mutter oder Vater. Es ist zu bezweifeln, dass Louis Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 97-110. Gunter Narr Verlag Tübingen Althusser genau diese Situation im Sinn hatte, als er vor bald vierzig Jahren sein Konzept der Anrufung beschrieben hat, in seinem marxistisch geprägten Text Ideologie und ideologische Staatsapparate 1 . Bei ihm ist es noch der beispielhafte Polizist, der durch ein schmetterndes „He, Sie da! “ ein Individuum in ein Subjekt verwandelt, es „rekrutiert“ 2 . Eine gewisse Fatalität kennzeichnet Althussers Denken: Bei ihm gibt es kein Entrinnen vor der Ideologie. Alle unsere Praktiken werden, und zwar schon im Augenblick ihres Vollzuges, zu ideologischen, dadurch dass sie unabwendbar etwas wiederholen, was durch Staatsapparate, Institutionen überliefert wurde. Der Polizist als Vertreter einer Behörde ruft im Modell an, das Subjekt dreht sich anerkannt und sich dadurch auch selbst anerkennend und unterwerfend um. Dies sei „ein Phänomen, das nicht allein durch ein ‚Schuldgefühl‘ erklärt werden kann, trotz der Vielzahl der Leute, die ‚sich etwas vorzuwerfen haben‘.“ 3 Die zeitliche Abfolge dieses Vorgangs existiert nur im Modell, tatsächlich stellt sich Althusser dies in ständiger Simultanität vor: Individuen werden nicht erst zu Subjekten, sie sind es immer schon. In ZOO von aktör&vänner sieht sich das Teilnehmersubjekt einer Vielzahl von Situationen ausgesetzt, in denen es derartig angerufen und subjektiviert wird. Ermöglicht wird diese ständige Ansprache durch die Angabe seines Namens in einem ausführlichen Fragebogen im bisher verschwiegenen ersten Teil der Performance. Die immer höflichen Akteure rufen auf, wer in den Warteraum gehen darf. Sie rufen auf, wer die Schutzkleidung anlegen soll. Sie rufen auf, wer den Vertrag mit seinem Namen unterschreiben und seine Kakerlake in Empfang nehmen darf. Die klaren Prozeduren und Regeln, nach denen alles geschieht, die behördenartige Inneneinrichtung der beiden Vorräume tun ihr übriges, um diesen Eindruck des Zu-Funktionieren-Habens in einem System zu unterstützen. Man richtet sich nach den Anweisungen, beobachtet die anderen Teilnehmer, wie sie es tun, akzeptiert das Als-ob der Situation, weil es sich so leicht vergessen lässt. Und im nächsten Schritt übernimmt man dann scheinbar selbst Verantwortung, sorgt gewissermaßen selbst dafür, dass das System im angestrebten Sinne funktioniert, vollzieht eine Praxis, die unabdingbar systemisch vorherbestimmt ist. Die Anrufung erfolgt nun von einer anderen Seite. Nicht mehr von einem Kontrolleur, der Gehorsam mahnt, sondern von einem Hilfe suchenden Wesen, der Kakerlake. Mit ihrem scheinbaren Stimmchen betont die alles andere als scheinbare Kakerlake, ohne die schützende Obhut, für die man vertraglich verantwortlich ist, schutzlos ausgeliefert zu sein. Diese Situation, für eine Kakerlake in dem anvertrauten Behälter vorübergehend verantwortlich zu sein, zugespitzt durch die kindliche Anrufung aus den Kopfhörern, ruft also Aspekte einer Elternschaft wach, mit allem, was damit zusammenhängt: eine Schutzfunktion, die sich vor allem in der Vorsicht äußert, mit der die Teilnehmer mit den Behältnissen umgehen, deren Insassen vor größeren Erschütterungen bewahrend. Außerdem auch eine Funktion der Ernährung und der Unterhaltung, aber auch Erziehung, also einer Prägung im gesellschaftlichen Sinne: Denn im Vorraum noch können für den Betrag von einem Euro unterschiedliche kleine Gegenstände erworben werden, welche man durch eine kleine Klappe im Gefäß seinem Schützling anbieten kann - kleine Karottenstücke, die sie fressen, kleine Murmeln, mit denen sie spielen, wenn sie dazu in der Stimmung sind; sogar eine Wippe ist darunter. Die Teilnehmer machen davon ausgiebig Gebrauch und werden auf diese Weise, durch die Übernahme institutionell geregelter Praktiken also, Teil jenes subjektkonstituierenden Kreislaufes, wie ihn Althusser beschreibt. 98 Philipp Schulte Das Theater ist ein Ort, an dem Subjektivität reflektiert wird. Es ist sein Merkmal, dass es einerseits selbst Menschen institutionell unterwirft, formt, prägt - dass es auf diese Weise Mechanismen des Unterwerfens aufzeigt, beim Versuch, Gemeinschaften zu bilden (Republiken wie die griechische, Nationen wie die deutsche, Klassen wie die der Arbeiter, Szenen wie die der Intellektuellen). Diese Mechanismen bestimmen das Theater selbst in vielen seiner Arbeitsformen, die Struktur, welche durch den Vorgang des Inszenierens erzeugt wird. Die Inszenierung ist der Versuch festzulegen, wie etwas - und jemand - auf der Bühne zu wirken hat, wie er sich zu geben hat, um als etwas Bestimmtes wahrgenommen zu werden. Und wenn es in zeitgenössischer Performance Art gerade diese Formen des Inszenierens und Repräsentierens sind, die immer wieder aufs Neue in Frage gestellt werden, mal konsequent, mal nebenbei, so werden genau dadurch auch Prozesse der Subjektivierung nach Alternativen befragt. Und, freilich, auch auf inhaltlicher Ebene hat sich Theater immer mit diesen Prozessen beschäftigt. ZOO zeigt das auf spezielle Weise in einer aktuellen Ästhetik. Aber auch schon Iphigenie und Hamlet, und wie sie alle heißen, sind Gewährsleute, dass die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und deren Befolgung zur Akzeptanz als Subjekt führt, schon immer Thema war. Aber es ist eben genauso typisch, zumindest oft im zeitgenössischen Theater und in der Performance Art, dass Zweifel an der Richtigkeit, an der Alleingültigkeit dieser Prägung genährt werden sollen: Wir versuchen uns oft an der Beschreibung künstlerischer Taktiken, die die Souveränität des vom System kreierten Subjekts in Frage stellen, dadurch dass sie das, was sich der Inszenierung sperrt, begünstigen. Das Theater ist somit Schauplatz der Unterwerfung und Subjektbildung, aber genauso Schauplatz der Entunterwerfung. Auch in ZOO sperrt sich etwas der Inszenierung. Es ist die Kakerlake selbst. Auch sie sieht sich Subjektivierungsprozessen ausgesetzt, wurde von aktör&vänner inszeniert. Auch sie hat von den Künstlern einen Namen erhalten, er ist handschriftlich im Vertrag eingetragen, und sie wird durch die Rahmung und Behauptungen der Performance gesetzt als Obhut bedürfendes Wesen. Ihr wurde eine Stimme gegeben, auch wenn es freilich etwas ‚suspense of disbelief‘ seitens der Teilnehmer voraussetzt, die Übersetzungsmaschinerie als glaubwürdig anzunehmen. Das rationierte Essen, die Spielzeuge, die man für seinen Schützling erwerben kann - all das sind Ergebnisse der Bemühungen der Künstlergruppe, das Insekt zu vermenschlichen. Die Kakerlake wird als Kreatur, als Ge-schöpf inszeniert - und sperrt sich doch dieser Inszenierung ganz und gar. Denn so intensiv die Inszenierungsbemühungen auch sein mögen: Das Tier krabbelt und zappelt in seinem Käfig, und wenn man es verkehrt herum hält - dann faucht es auf so fremdartig-gefährliche Weise, dass jeglicher Inszenierungsversuch als billiger Trick verblasst. Es ist diese Reibung zwischen der versuchten Verniedlichung und Entschärfung dieses allzu verrufenen Insektes einerseits und seiner unbestreitbaren Wildheit und dem Ekel, den es trotz allem zu erzeugen in der Lage ist, andererseits. Nichts scheint sich hier nach einem vorgegebenen Regelsystem oder nach kulturellen Verhaltensmustern zu richten, nichts scheint hier auch nur annähernd subjektivierbar zu sein. Die Kreatur ist inszeniert, doch ihr reales Fauchen sperrt sich jeglicher Inszenierung. Prozesse der Anrufung, der Subjektivierung werden angedeutet, nur das hier die Subjektivierung eben nicht funktionieren kann, zu wild und fremd und unmenschlich ist das Wesen, und genau das wird vorgeführt - mit Übertragungsmöglichkeiten auf die reale Situation der Teilnehmer. 99 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils Besonders die Einrichtung des Raumes, in der sich der zweite Teil von ZOO abspielt, führt dazu, dass man die Situation der Kakerlake leicht als modellhaft deuten kann. Der Raum, in dem die zwölf Teilnehmer geführt werden, gleicht, wie erwähnt, vom Aufbau unverkennbar jenen kleinen Gefäßen, in denen sie ihr persönliches Insekt transportieren. Beides hat die Form eines halbierten Zylinders, beide Böden sind mit organischen, geruchsintensiven Materialien bedeckt, beide haben eine weitgehend transparente Außenhülle. Hindurchschauen, nach außen, kann man da nicht. Dafür kann man einzelne Bewegungen wahrnehmen, Scheinwerfer erzeugen Schatten und Lautsprecher entfernte Geräusche. Der Rückschluss ist simpel, vielleicht zu simpel, und gerade dadurch unweigerlich: So wie die Kakerlake in ihrem Gefäß, so ich in meinem; so wie sie Regeln eines Apparates unterworfen ist, so auch ich. Der subjektivierende Vorgang, der an ‚meiner‘ Kakerlake durchgeführt wird, den auch ich an ihr durchführe, kann äquivalent zu den subjektivierenden Vorgängen betrachtet werden, die im Verlauf der Performance an mir durchgeführt werden. Der unterzeichnete Vertrag ruft uns beide beim Namen und verpflichtet uns scheinbar zu einem bestimmten Verhältnis zueinander über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Die Regeln, die für mich aufgestellt werden, die Beschränkungen, die die Räume mir auferlegen, gelten auf anderer Ebene ähnlich für ‚meine‘ Kakerlake. Und schließlich, vor allem, eine Frage, die sich aufdrängt: Verhält es sich bei mir genauso wie bei dem eigenwilligen Insekt? Besteht die Möglichkeit, dass ich mich, von außen betrachtet, ebenso schlecht inszenieren, subjektivieren lasse, wie die Kakerlake, welche sich so unübersehbar wild krabbelnd und fauchend ihrer Inszenierung als niedliches Wesen widersetzt? Nicht so sehr unterscheidet sich diese Selbst-Beobachtung, die ganz automatisch entsteht, von denen, die Theaterzuschauer schon immer begleitet haben, wenn sie etwa Rückschlüsse vom Existenzkampf Hamlets oder den extremen Situationen, in die Marina Abramović sich begeben hat, auf die eigene Situation gezogen haben. Dieses Reflexionspotential durch Vorführen, durch Modellhaftigkeit, aber wie im Falle von ZOO auch von Partizipation, versucht eben durch Vorführung genau das zu unterwandern, was die Ideologie, das diskursive Machtsystem so stark macht: Die Tatsache, dass sie ihren eigenen ideologischen Charakter stets verbirgt. Insgesamt vier Stationen, vier Räume erlebt der Besucher von ZOO, die ihm jedes Mal eine neue Wahrnehmungshaltung abverlangen, zu einem neuen probeweisen Selbstentwurf anhalten: das Wartezimmer, wo er, noch ohne Schutzanzug, einen Fragebogen ausfüllt; der Übergaberaum, wo er den Vertrag unterzeichnet und seine Kakerlake in Empfang nimmt; dann die große Kopie des kleinen Käfigs, worin sich der längste Teil der Performance abspielt; und schließlich werden die Teilnehmer noch in eine Art Bar geleitet, an der ein Epilog stattfindet, auf den ich noch zu sprechen komme. Auch der Stil der Performance verändert sich von Raum zu Raum, was erst wie eine Aktion mit hoher Teilhabe der Zuschauer wirkt, wandelt sich zu einer Performance mit passiverer Zuschausituation, die schließlich durch ein kurzes Solo durch einen der Akteure abgelöst wird. Immer wieder neu wird ein Teilnehmer angerufen, immer wieder neu muss er sich entwerfen lassen. Doch gerade dieser verhältnismäßig schnelle Wechsel der Umgebungen und Situationen schafft auch die Möglichkeit eines Freiraums: Was dadurch angeregt wird, kann als Form der selbstreflektierten Entunterwerfung im Foucaultschen Sinne gefasst werden. Foucault erläutert sein Konzept der Entunterwerfung mit Hilfe des Begriffes der Selbst-Stilisier- 100 Philipp Schulte ung. Dieser Begriff beschreibt immer auch ein Wechselverhältnis aus Einfügen und Ausfügen, aus opting-in und opting-out 4 , zwischen der Anpassung an ein gegebenes symbolisches System und dem Versuch der Subversion einzelner Aspekte desselben, ein Spannungsverhältnis, das in Subjektivitätstheorien eine so wesentliche Rolle spielt. Gerade auf diese Weise lässt sich der Epilog der Performance verstehen: Nachdem jene vertraglich geregelte eine Stunde vorüber ist, nachdem die zwölf Teilnehmer ihre Tiere wieder abgegeben haben und ihr eigenes Gefäß wieder verlassen, gibt es noch ein letztes kleines Zimmer. Ein weiterer Performer, der bislang noch nicht aufgetreten ist, wartet dort auf sie. Es handelt sich um einen Mann asiatischer Herkunft, eine hochgewachsene Erscheinung, der durch ein androgynes Aussehen auffällt, welches von dem Frauenkleid, das er trägt, und seiner Langhaarfrisur, die durch ein kleines Spängchen gebündelt wird, noch unterstützt wird. Er begrüßt die Teilnehmer zurück in der Realität, indem er sie kurz aufklärt, welche Sendungen sie heute Abend im Fernsehprogramm verpasst haben. Und schließlich teilt er einige autobiographische Details mit, dass er als Kind aus Korea adoptiert wurde, oder von seinen Aggressionen, die er lange gegen Menschen und Tiere gehegt hat. Der von ihm gewählte Stil in Kleidung und Äußerung lässt dabei Rückschlüsse darauf zu, welchen gesellschaftlichen Erwartungszusammenhängen er ausgesetzt war und ist, welchen Normen er sich fügt - und welchen eben nicht, und in welcher Haltung. Dass genau dieses Spannungsverhältnis zwischen Ein- und Ausfügung nicht nur ZOO modellhaft beschäftigt, sondern freilich auch übertagbar ist auf Subjektivierungsprozesse in unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit, das macht dieser Auftritt des koreanisch-stämmigen Schweden am Ende der Performance deutlich. Die Performance ZOO, die sich von Raum zu Raum immer wieder neu erfunden hat und mit den Erwartungshaltungen ihrer Teilnehmer spielt, bricht in ihrer letzten Sequenz konsequent auch mit der zuvor von ihr etablierten fiktiven Ebene und lenkt die Wahrnehmung und Reflektion der mehr und mehr zu Zuschauern gewordenen Gäste von der Ebene des Spiels zu einer quasi-dokumentarischen Ebene. Eine brisante, weil nicht ausschließlich spielerische Komponente jenes Spiels mit der Subjektivität kommt so zum Vorschein. Die Aussetzung der Ungläubigkeit, welche angesichts der ‚sprechenden Kakerlake‘ noch willentlich herbeigeführt werden musste, stellt sich am Schluss von ZOO, viel leichter her. Das Kunstprojekt zeigt sich hier, unmittelbar vor der Ausgangstür des Theaterhauses, nicht mehr als Spiel, welches einige Regeln der Wirklichkeit vorübergehend aussetzt, sondern eben als Teil dieser Wirklichkeit, die uns gestaltet und unterwirft und die es, falls möglich, sich entunterwerfend selbst zu gestalten gilt - denn Selbststilisierung ist nach Foucault und Judith Butler nichts anderes als eine Form von Kritik an gegebenen Machtstrukturen. II „Was ist Kritik? “ 5 Diese Frage stellte Michel Foucault sich und seinen Zuhörern in seinem gleichnamigen Vortrag im Jahr 1978. 6 Dieselbe Frage in einem anderen Vortrag mit demselben Titel stellte 22 Jahre später Judith Butler und schloss eine ausführliche Analyse und Auslegung des Foucault-Textes an. 7 „Was ist Kritik? “ - bei beiden Theoretikern ist dies die Kurzform für eine Fragestellung, die sich so formulieren lässt: Durch welche Mittel kann das Subjekt sich entunterwerfen, wie kann es eine freiwillige Unknechtschaft, eine reflektierte Unfügsamkeit entwickeln, um den diskursiven Vorgaben potentiell oder zumindest temporär zu entkommen? Butler 101 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils zeigt etwas Faszinierendes in ihrem Vortrag. Sie zeigt, dass Foucaults Vortrag performativ zu verstehen ist, dass er das, worüber er spricht, den Akt der Entunterwerfung, selbst in seinem Vortrag probt. Auf die Frage eines Zuhörers, aus welcher Quelle sich jene Entunterwerfung denn speise, woher also der Wille zum Widerstand käme, antwortet Foucault auf eine listige Weise: „Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, auf eine ursprüngliche Freiheit, die sich schlechterdings und grundlegend jeder Regierungsentfaltung widersetzt. Ich habe davon nicht gesprochen - aber ich will es absolut nicht ausschließen.“ 8 Eine weitere Antwort gibt er nicht. Foucault spricht nicht von einer ursprünglichen Freiheit als ontologisch gesetzte Triebfeder für sein Modell. Gleichzeitig tut er es aber auch nicht nicht. Butler nun weist darauf hin, wie schwer verständlich diese und andere Stellen in Foucaults Vortrag zu verstehen seien, wenn man sich nicht gleichzeitig die Art und Weise vorstellte, mit der Foucault das von ihm Ausgesprochene in Szene setze. Davon geht sie aus, dass Foucault diese Worte eben nicht ontologisch setzt - sondern dass er sie „mit List inszeniert“ 9 - und er erprobt sie so: Die Inszenierung eines Wortes [. . .] ist nicht dessen Aussage, aber wir könnten sagen, dass die Aussage, mit List inszeniert, einer ontologische Suspension unterworfen wird, sodass sie ausgesprochen werden kann. Und wir könnten sagen, dass dieser Sprechakt den Ausdruck ‚ursprüngliche Freiheit‘ vorübergehend von der epistemischen Politik befreit, in der er lebt, und zugleich eine gewisse Entunterwerfung des Subjekts innerhalb der Politik der Wahrheit vollzieht. 10 Foucault sei seltsam unerschrocken, denn er weiß ja, dass er jene „ursprüngliche Freiheit“ nicht begründen kann, das will er auch gar nicht; und gerade diese hingenommene Nichtbegründbarkeit ist es, die sich in einer listigen, augenzwinkernden Aussprache ausdrückt. „Kritik beginnt mit [. . .] dem Scheitern der Totalisierung des Subjekts, das erkannt und unterworfen werden sollte.“ 11 Und das Mittel der Artikulation ebenjenes Reibungsverhältnisses ist das der Selbststilisierung. Ein Inszenieren mit List also, ein probehaftes Austesten von und Experimentieren mit alternativen Anwendungen diskursiv vorgegebener Muster - das ist die (sehr butlerianische) Richtung, in die Butlers Auslegung von Foucaults Vortrag geht. Dieses Inszenieren ist als kreativ anzusehen, da es über die vorgegebenen diskursiven Normen hinausgeht bzw. sich ihnen teilweise widersetzen kann. Butler interpretiert Foucault dahingehend, dass es keine Ethik und keine Politik geben kann „ohne Rekurs auf diesen singulären Sinn von Poiesis“ 12 . Das Subjekt zeigt sich somit ein weiteres Mal als gefertigt und fertigend, und zwar nicht in einer zeitlichen Abfolge, sondern eher in einer Art Gleichzeitigkeit. Und diese singuläre Poiesis im Spannungsfeld zwischen Geformtsein und Formen bezeichnet Foucault als Selbststilisierung. Dass das ein sehr passender Begriff ist, möchte ich im Folgenden zeigen. Und mehr noch: Meine These ist, dass es gerade diese Begriffe von Stil und Stilisierung sind, die die subjektbildenden Prozesse von Unterwerfung und Entunterwerfung theaterwissenschaftlich, ja auch aufführungsanalytisch greifbar machen könnten. Der Stilbegriff passt deshalb zum erörterten Subjektbildungsmodell, da er etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts einem paradoxalen Bedeutungswandel unterliegt und es seitdem zwei sich widersprechende Tendenzen gibt, die mit ihm gefasst werden sollen. Da ist zum einen die Betrachtung von Stil als einem erkennbaren, isolierbaren und normativen Element unter vielen, welche ein Kunstwerk auszeichnen. Er ist hier einem Prinzip der Kontinuität verschrieben, 102 Philipp Schulte das mit einer künstlerischen Tradition verbunden ist und sich an sie hält. Stil wird hier im Sinne eines Sich-Einfügens in ein bestehendes Wertesystem verstanden, einer Unterwerfung unter gegebene Normen. Stil bedeutet hier künstlerisch im Wesentlichen so etwas wie Machart, Art und Weise der Herstellung. 13 Eine ‚Stil-Revolution‘ nun, die zumindest im Bereich der Literatur die zweite Tendenz begründet, verortet beispielsweise Aleida Assmann im England des 18. Jahrhunderts. Damals führte eine zunehmende Alphabetisierung dazu, dass die Masse des religiösen Schrifttums immer mehr durch neuartige profane Genres verdrängt wird und somit auch der Literaturkritik einen deutlichen Aufschwung bescherte. 14 Auch Foucault sieht die Geburtsstunde der Kritik und damit der Frage, wie man ‚so nicht regiert wird‘ in dem Moment, wo die christliche Pastoral nicht mehr ausschließlich mündlich in der Macht des Papstes lag, sondern wo sie schriftlich durch zahlreiche Interpreten immer wieder neu ausgelegt und gedeutet werden konnte, bis hin zu ihrer Profanisierung. Eine zweite Dimension des Stilbegriffs erlebte hier ihr noch zaghaftes Entstehen, und es ist diejenige, die heute weitgehend dominiert, wenn auch nicht ausschließlich ist: Stil als individuelles Sich-Ausfügen aus dem System, als Regelabweichung. Stil ist, wenn ein Versuch der Manifestation von „gesteigerter Eigenheit“ 15 unternommen wird, eine Mischung aus dem alten Konzept der Nachahmung und dem neuen der künstlerischen Produktion. Dieses Ausfügen kann sich nur innerhalb eines Sich-Einfügens vollziehen, die Entunterwerfung nur innerhalb einer Unterwerfung. Somit ist Stil die positive Variante der Kritik. Sich einfügen, sich ausfügen; sich einer hergebrachten Stilistik anpassen, oder beim Versuch, einen Individualstil zu entwickeln durch versuchte ‚Erwartungsbesiegung‘ - in genau diesem Spannungsfeld spielt sich auch Kunst, namentlich darstellende, seit jeher ab. In der Bestimmung einerseits der definitorischen Merkmale unterschiedlicher Stilistiken, Theater-Formen und Genres aus verschiedenen Epochen liegt daher die eine Aufgabe einer zeitgenössischen Theaterwissenschaft; die detaillierte, an konkrete Beispiele in ihrer ganzen Bandbreite gebundene Beschreibung derjenigen Theaterphänomene - seien es künstlerische Projekte oder einzelne Darstellungsaspekte in diesen Projekten - eine zweite, die in unmittelbarer Kooperation mit der erstgenannten erfolgen muss; nur so kann das stetige Wechselverhältnis zwischen der Bildung von Stilistiken und dem Sich-Ereignen von temporären Individualstilen dargestellt werden. Das moderne Verständnis von Stil ist nicht, wie das alte Verständnis der Stilistiken, durch fixe Regeln zu bestimmen, besteht ja gerade seine Bewegung darin, Regeln über- oder unter-zu-erfüllen, mit ihnen zu spielen und zu brechen. Die Notwendigkeit, sich als Subjekt immer wieder neu einzuordnen und zu erfinden, wurde durch die Struktur der Performance ZOO erörtert; auf ganz andere Weise findet sie sich wieder bei einem Künstler, dessen Arbeiten ausgesprochen geeignete Beispiele sind, wenn es um Prozesse des Ein- und des Ausfügens geht: beim Tänzer und Choreographen Xavier Le Roy. III. Den Aufstand proben: Entunterwerfung durch Stilisierung in Xavier Le Roys Product of Other Circumstances Eine schwarze, leere Studiobühne; leer bis auf eine Leinwand an der Rückwand, einen Laptop auf einem kleinen Schemel im vorderen, linken Bereich, und leer bis auf den Performer in ihrer Mitte, einen Mann um die Fünfzig in kurzärmeligem T-Shirt und bequemer Hose. Es handelt sich um Xavier Le 103 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils Roy, der seinem Publikum dabei zusieht, wie es allmählich seine Plätze einnimmt, aufmerksam verfolgt er den Vorgang, manchmal nickt er jemandem freundlich zu. Als alle sitzen, beginnt er: „Let’s start.“ Er legt seine Brille ab, zieht seine Schuhe aus, begibt sich in den hinteren Bühnenbereich - und beginnt zu tanzen. Sehr langsam bewegt Le Roy sich zunächst, mit eigentümlich abgewinkelten Händen und verkrampft wirkenden Fingern, als würde er sich vor etwas schützen. Er bewegt sich vor allem auf dem Boden, weit streckt er seine Arme aus, als würde er etwas Unsichtbares halten; manchmal kann man den Eindruck bekommen, er ahme ein Tier nach. Auch seine Mimik ist auffällig: Die Augen sind meistens geschlossen, die Partie um den Mund ist verzerrt, dann öffnet Le Roy ihn, um kehlige, röchelnd-saugende Geräusche zu erzeugen. Die ganze Bewegungssequenz erweckt vorerst vage Erinnerungen an die Tanzform des Butoh. Nach etwa fünf Minuten bricht Le Roy seinen Tanz abrupt ab, trinkt einen Schluck Wasser und wendet sich dann wieder direkt an seine Zuschauer: „This dance is a part of a story I would like to tell you this evening. The story will be about two hours long.“ Dies ist der Beginn der Lectureperformance Product of Other Circumstances aus dem Jahr 2009. Die Geschichte, die Le Roy in Product of Other Circumstances erzählt, beginnt mit dem Moment, als ein Freund, der Choreograph Boris Charmatz, ihn an eine offensichtlich von ihm selbst irgendwann einmal übermütig getroffene Aussage erinnerte, er könne den Tanzstil des Butohs in nur zwei Stunden lernen. Charmatz bat Le Roy, diese Vorgabe in die Tat umzusetzen, und zwar auf dem von ihm organisierten Festival „Re- Butho“. In Product of Other Circumstances zeigt uns Le Roy nun - etwa zwei Stunden lang - auf humorvolle und charmante Weise, das vorläufige Ergebnis seiner Arbeit: Wie er sich der asiatischen Tanzform angenähert hat - nämlich auf der Grundlage seiner wenigen eigenen Erfahrungen und Erinnerungen, dann vor allem mit der Hilfe von Google, Wikipedia, Youtube und einigen Lehrbüchern -, er erörtert den Prozess des Recherchierens und Probens in seiner Freizeit, und er präsentiert uns sogar zwei kurze Choreographien, einmal ein Reenactment, dann eine freier mit dem Material umgehende Sequenz, inspiriert von den Ergebnissen der Recherche. Indem er uns an einem zweistündigen Aneignungsprozess teilhaben lässt, der tatsächlich viel länger gedauert hat, kommt er indirekt dem Auftrag der Parole „Butoh in zwei Stunden“ nach. Auf mindestens drei Ebenen lässt sich nun der Widerstreit zwischen Ein- und Ausfügung in Le Roys Arbeit beobachten. 1. Product of Circumstances und Product of Other Circumstances Auf einer ersten Ebene beschäftigt sich Product of Other Circumstances mit seiner über zehn Jahre älteren Vorgängerarbeit Product of Circumstances. Die intensive theoretische Auseinandersetzung mit Le Roys Arbeit setzte vor etwas über zehn Jahren ein, als er mit einer anderen Lectureperformance dieses Genre einem größeren, vor allem tanzinteressierten Publikum bekannt machte, mit dem viel diskutierten Projekt Product of Circumstances. Auch diese Vortragsperformance selbst kann somit als Setzung, als Begründung eines bestimmten Stils gelten, der dadurch in einer bestimmten Theaterszene immer populärer wurde und heute als etablierte Form betrachtet werden kann, wobei der künstlerische Vortrag bekanntermaßen auf eine sich ausfügende Weise mit der konventionellen Form des akademischen Vortrags umgeht. Und auch inhaltlich bewegte sich Le Roy in diesem Projekt buchstäblich zwischen Tendenzen des Ein- und des Aus- 104 Philipp Schulte fügens, wenn er seine Lust am Tanzen ebenso erörtert wie seine körperliche Inkompatibilität, sich unterschiedliche vorgegebene Tanzstilistiken anzueignen, seinen Werdegang als Wissenschaftler ebenso wie seine Skepsis gegenüber dem System Wissenschaft. Ebenso kann dieses Spannungsfeld in den meisten weiteren von ihm choreographierten Arbeiten ausgemacht werden, so auch in Xavier Le Roy oder besonders deutlich in seiner Version des Sacre du Printemps, wo er sich mit dem Bewegungsmaterial des Dirigenten Sir Simon Rattle auseinandersetzt. Und diese oszillierende Bewegung zwischen regelorientiertem Einfügen und kreativem Ausfügen findet sich nun wieder, um eine Ebene weitergetrieben, in Le Roys Lectureperformance Product of Other Circumstances. Wie der Titel schon zeigt, handelt es sich um eine direkte Anknüpfung an Product of Circumstances. Wieder bedient sich Le Roy der Form des Vortrags, diesmal aber nicht, um seine biographische Entwicklung als Wissenschaftler und Tänzer einer vergangenen Dekade zu erörtern; diesmal deckt seine Schilderung einen weit kürzeren Zeitraum von wenigen Monaten ab. Auch auf dieser Ebene gelingt es Le Roy, Erwartungshaltungen zu brechen, wenn er in dem von ihm populär gemachten Genre einen neuen Haken schlägt. Statt einer biographisch motivierten Lebensgeschichte - ‚wie ich zu dem wurde, was ich heute bin‘ - äußert er eine vergleichsweise kurze, ein konkretes Projekt betreffende Erzählung - ‚wie diese Aufführung zu dem wurde, was sie gerade ist‘. In Product of Other Circumstances zeigt Le Roy auf diese Weise, dass Stil im Sinne des Ausfügens nur in probeartigen Zusammenhängen temporär Bestand haben kann; hat er sich einmal entwickelt, kann er schnell zur Stilistik werden; die einem ganzen Genre zu Prominenz verhelfende Arbeit Product of Circumstances belegt das in gewisser Hinsicht. Nur in einer Probe ist es möglich, jene vorübergehende, imaginäre, listig zu äußernde ‚Freiheit‘ zu genießen, auf welche Foucault und Butler sich berufen. 2. Butoh tanzen können und Butoh tanzen proben Das Spiel zwischen Ein- und Ausfügung findet auf einer zweiten Ebene in Auseinandersetzung mit der label-artig getroffenen Aussage - „Ich lerne Butoh in zwei Stunden! “ - statt, die nicht mehr erinnerter Ausgangspunkt und Motto der Arbeit ist. Die Behauptung, so Le Roy sie denn wirklich getroffen hat, entspricht übergangslos jenen, die wir gewohnt sind, in einer auf Effektivität hin ausgerichteten Vermarktungsgesellschaft zu hören: „Englisch lernen in zwei Monaten“, „Fünf Kilo weniger in zwei Wochen“, „Hegel verstehen in zwei Tagen“. . . Dass es zudem der kaum fassbare ‚Stil‘ des Butohs ist, den Le Roy kühn als schnell lernbar qualifiziert hat, macht die Unmöglichkeit, ja Dreistigkeit des Vorhabens nur noch deutlicher. So wurde auch ‚Butoh‘ von Kazuo Ono im Prinzip als Label vielmehr für eine bestimmte Haltung im Umgang mit Tanz entwickelt als für eine Tanzform selbst. Die widersprüchlichen Definitionen und Beschreibungen, die Le Roy im Internet findet und nach denen Butoh auch schon mal darin bestehen kann, sich gar nicht auf der Bühne zu bewegen - „There is no set style, and it may be purely conceptual, without any movement, with or without an ordiance“ -, unterstreichen dies. Butoh proben, sich dieser liminalen Form also annähern, das ist freilich möglich. Und so berichtet uns Le Roy von diesem Proben- und Annäherungsprozess, indem er die von ihm getroffene Aussagen in actu listig inszeniert, ebenso listig vielleicht, wie Ono einst den Begriff des Butoh erfunden haben mag. Le Roys individuelle bzw. durch andere Einflüsse geprägte Herangehensweise an jene 105 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils nur schwer greifbare ‚Stilistik‘ sind das Thema von Product of Other Circumstances. Schon früh im Verlauf der Lectureperformance macht Le Roy klar, was er alles nicht unternommen hat, um Butoh zu erlernen: So ist er beispielsweise nicht nach Japan gereist, und er hat sich auch geweigert, an Butoh-Workshops teilzunehmen, um sich etwas von einem Lehrer vermitteln zu lassen. Dazu hatte er keine Zeit, er bekam dafür kein Geld vom Produzenten Charmatz, und wahrscheinlich hatte er auch gar keine Lust dazu, weil er sich für eine grundsätzlich andere Annäherungsweise entschieden hat. Le Roy setzt sich - ganz unsystematisch und persönlich - auseinander mit dem, woran er sich erinnert und was ihm bei Recherchen im Internet auffällt. Von dem, was er dort vorfindet, lässt er sich leiten, und trifft - „you’ll never know with the internet. . .“ - erwartungsgemäß auf das übliche Allerlei, welches das Netz und die Popkultur zur Verfügung stellt. Und er trifft auch auf sich selbst. Denn als einen der ersten Treffer auf der Ergebnisliste von Google für die Sucheingabe ‚butoh in 2 hours‘ stößt er auf sein eigenes Zitat, welches er entweder selbst geäußert oder Charmatz ihm in den Mund gelegt hat. Somit hat die geübte Werbeabteilung des Re-Butoh-Festivals bereits selbst dafür Sorge getragen, dass Le Roy und sein Vorhaben ins Netz eingespeist worden sind. Das ist wenig hilfreich, aber witzig, und zeigt, was auch Product of Other Circumstances im Ganzen zeigt, dass die Umstände, die uns prägen und bestimmen, unmöglich von uns selbst zu trennen sind; dass wir, wenn wir Produkt von anderen Umständen sind, dennoch Spuren im Diskurs hinterlassen, die wiederum zu Umständen für andere oder wieder für uns selbst werden können. Die Diskrepanz zwischen dem leicht vermarktbaren Motto „Butoh in zwei Stunden“, zwischen der Schwierigkeit, einen klaren Butoh-Stil tatsächlich eindeutig zu identifizieren (im Sinne eines „Das ist Butoh, und das ist es nicht“) und schließlich die vom Choreographen tatsächlich praktizierter Herangehensweise, welche sich aus dem ihm gegebenen körperlichen, zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten ergeben hat, definiert ein Spannungsfeld. Und dies ist das Feld, in dem Le Roys Ein- und Ausfügen stattfindet. Er fügt sich ein und aus in ein gut funktionierendes Vermarktungssystem für darstellende Künste, welches dankbar mit werbetauglichen Catchphrases umgeht. Er fügt sich ein und aus in bestehende, von Kazuo Ono entwickelte, von anderen Tänzern wiederum adaptierte, verfälschte, von Le Roy selbst erinnerte, angeeignete Praktiken des Butoh, um nicht ‚den‘ Stil des Butoh zu erlernen, sondern seinen eigenen Butoh- Stil zu entwickeln. Die drei längeren Bewegungssequenzen, die Le Roys Lectureperformance gliedern, beschreiben diesen Prozess des Aneignens von Fremdem mit den Möglichkeiten und dem Begehren des Eigenen. Der beschriebene Tanz am Anfang bereitet auf das Thema der sich anschließenden zwei Stunden vor. Ein Zuschauer ahnt vielleicht schon, dass hier eine erste Annäherung an Butoh stattfindet. Doch dieser Tanz findet vor der Sprache statt, bevor Le Roy beginnt, diese Bewegungen sprachlich zu kontextualisieren. Anders ist dies bei Beginn der zweiten Tanzsequenz, die etwa nach einer Stunde erfolgt. Hier hat die Kontextualisierung schon stattgefunden, die Zuschauer wissen, was Le Roys Projekt ist. Diese Kontextualisierung hat eine klare Funktion, die Le Roy auch später ausführt: Sie vermeidet einen bloß identifizierenden, evaluierenden Blick des Publikums und regt stattdessen zur Reflexion über das Gesehene ein. Rückblickend erläutert er die Anfangssequenz und die Technik, die er dabei eingesetzt hat: Konkrete Bilder habe er sich vorgestellt - einen Mann, einen Baum, ein Tier - und inspiriert dadurch seine Bewegungen assoziativ hervorgebracht. In der zweiten Abfolge verfährt 106 Philipp Schulte er anders: Sein Tanzen hier ist ein Nachahmen einer Butoh-Choreographie, die Le Roy vor Jahren gesehen hat, unterstützt durch eine Videodokumentation. Aus dem vorsichtigen Annähern an eine Stilistik wird hier ein einigermaßen detailgetreues Re- Enactment, ein Einfügen in vorhandenes Material. Diese Idee aber, Fremdes nachzuahmen und es sich so anzueignen, widerspricht seinem Interesse: „You have to find your own Butoh, and this was not really my butoh, it was their butoh. . . So I dropped the idea.“ Was Le Roy schließlich gegen Ende der Performance präsentiert - wie bei den vorigen beiden Sequenzen beginnt er auch wieder in der hinteren rechten Bühnenecke - ist das vorläufige Ergebnis seiner monatelangen Recherchearbeit, die er in den vorausgegangenen fast zwei Stunden seinen Zuschauern erläutert hat. Erst durch diese detaillierten Ausführungen ist es ihnen nun möglich geworden, das Spannungsfeld, in dem Le Roy sich selbst choreographiert hat, zu erkennen. Nach all den Informationen wissen wir, was uns gezeigt werden soll: Wir kennen Le Roys Experiment, und wir sehen die Person Le Roy in ihrer eigenen Körperlichkeit in Auseinandersetzung mit der irgendwie vorgegebenen und schwer sich anzueignenden Stilistik des Butohs. Diese Stilistik bildet dabei den Gegenpart und die Reibungsfläche, mit der Le Roy sich konfrontiert und mit der er nun - mal sich anpassend einfügend, mal an ihr scheiternd bzw. sie kreativ transformierend, sich also ausfügend - umgeht, immer aber in jenem notwendigem Wechselverhältnis zwischen beiden Tendenzen. 3. Institutioneller Rahmen und persönlicher Freiraum Auf einer dritten Ebene findet die Thematisierung mit Prozessen des Sich-Ein- und Ausfügens in der Weise statt, mit der der Künstler Le Roy sich gegenüber der Institutionalisierung des zeitgenössischen Bühnentanzes und dem System der Bühnen und Festivals, das sie strukturiert, verhält. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt in vielen seiner früheren Arbeiten. Denn was bedeutet es, den Entstehungs- und Rechercheprozess zu einer künstlerischen Arbeit so detailliert während der Aufführung selbst zu schildern? Statt eines Produktes, welches sich als ausgereift und fertig behauptet, gelingt es Le Roy, Vorgänge des Probens mit in die Aufführung zu integrieren. Oder vielmehr: Sie bestimmen den Charakter der Performance. Mit entwaffnender Offenheit verweigert sich der Choreograph marktorientierten Forderungen nach einem fertigen, in sich stimmigen Produkt, welches sich nicht den Erwartungen der Unterhaltsamkeit und auch Kurzweiligkeit - „Butoh in zwei Stunden“ - beugt. Auf diese Weise entzieht sich Le Roy gängigen organisatorischen und kuratorischen, kultur- und sozialpolitischen Konventionen des Performance-Art- Marktes. Auch dies thematisiert er direkt in Product of Other Circumstances: End of august I got this receipt from the production office. And that was somehow interesting: the proposal was 1.300 Euro. My first reaction was: ‘Wow. Two hours work and maybe ten or twenty minutes dance - that’s very well paid.’ But of course at this time already I failed because I worked much more than two hours. Am Ende der Performance wird Le Roy hier noch konkreter: The French administration sends me a letter every year telling me how much I earn by hour, or what I should earn. And last year it was 29 Euro an hour. So I did this very fast calculation: 1.300 Euro, 12 % for the administration and production, and the rest. . . counting the taxes and all this: I should have worked 26 hours. But of course I worked more. And then I thought, what does it 107 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils mean? It was interesting for me to realize that I have done this in a way more in my freetime than in my time where I am supposed to work. So the conclusion of this would be that this work is more like an amateur work, a work that is done as a hobby piece. [. . .] What the whole story produces is also a space for me to be detached from certain pressure or expectations. I was not at all in the situation where I had to look for a coproduction to find the money and to pay the people or to find the time to get the people together, the premiere and all this. This proposal somehow freed me from these conditions. Le Roy gefällt diese Arbeitsweise, weil für ihn so ein Raum entstanden ist, in dem er unberührt sei von einem gewissen Druck und bestimmten Erwartungshaltungen - ein Raum anderer Umstände. Diese ‚Freiheit‘ des Probens ist der Weg, den Le Roy gewählt hat, um den systemischen Vorgaben zumindest teilweise und vorübergehend zu entgehen. Den Anforderungen eines professionellen Kunstmarktes, Kunstproduktion unbedingt als kreative Arbeit zu betrachten, kann Le Roy in diesem Projekt zumindest teilweise entgehen. Indem er darauf besteht, es als Hobbystück zu betrachten, fügt er sich vorübergehend aus diesen professionellen Ansprüchen aus und gibt sich so das Gefühl einer gewissen Freiheit, die Kreativität erst möglich macht. In der Aufführung nun, die freilich schon wieder viel stärker den pragmatischen Zwängen und Bedingungen der Institution eines Festivals oder Theaters unterworfen ist, spielt diese Freiheit trotzdem immer noch eine wichtige Rolle - wenn auch vielleicht eben nicht mehr als jene beim Probenprozess von Le Roy empfundene Freiheit, so doch immerhin noch in Form einer listigen Inszenierung, eines raffinierten Hinweisens auf die Notwendigkeit jenes Freiraums, den sich der Künstler in seiner Auseinandersetzung mit seinen Auftrag- und Geldgebern immer wieder aufs Neue erkämpfen muss. In Product of Other Circumstances werden Le Roys Zuschauer Zeugen einer ermöglichenden De-Ontologisierung: zum einen jener ‚Freiheit‘, zum anderen der Tanzform des Butohs, zum dritten auch der Möglichkeit eines subversiven Verhaltens von Xavier Le Roy selbst. Durch die akribische Erörterung ihres eigenen Entstehungsprozesses und die sprachliche Kontextualisierung ihrer eigenen Mittel und Gegenstände arbeitet die Performance fast ausschließlich mit probehaften, als probehaft ausgewiesenen Setzungen, die jederzeit wieder ausgehebelt werden können. Le Roy bringt sich ‚so etwas wie‘ Butoh bei, er erfährt dabei ‚so etwas wie‘ eine kreative Freiheit entgegen den Anforderungen eines professionellen Kunstmarktes, und er kann sich auf diese empfundene Quasi-Freiheit berufen, wenn er ‚so etwas wie‘ die Möglichkeit eines subversiven Verhaltens diesem System gegenüber aufzeigt. Jene ursprüngliche Freiheit, von der Foucault nicht spricht und von der er nicht nicht spricht, ist somit eng verwandt mit Le Roys persönlich erfahrener Freiheit bei den Proben zu Product of Other Circumstances. Diese Freiheit kann nur im Verhältnis bestehen, als ‚Freiheit von etwas‘ und zeigt sich in der Performance einmal mehr als eine, die nur im Abgleich mit, in Reibung zu den Umständen gedacht und empfunden werden kann. Nur durch das aufzeigende Zitieren und Kenntlichmachen von normativen, wenn auch teilweise selbst gewählten Vorgaben - der Stilistik des Butoh, der Performance-Art-Szene, den Erwartungen der Produzenten und des Publikums - kann eine vorübergehende Abweichung von diesen Vorgaben erfolgen; Le Roys Freiheit entwickelt sich in einer Situation der Umstände und Zwänge. Seine Erzählung dieser Umstände und Zwänge ist zugleich die Erzählung seines listigen Umgangs mit ihnen - „this dance is part of a story. . .“ Die Frage aber, worin der Ursprung, die ermöglichende Triebfeder einer derartig um tem- 108 Philipp Schulte poräre Ausfügung bemühten Selbststilisierung liegt, das kann Le Roy nicht begründen - ebenso wenig, wie Foucault es konnte, der stattdessen mit genealogischen Konstruktionen à la Nietzsche arbeitete. Und auch Le Roys Erzählung nimmt manchmal die Züge einer solchen genealogischen Konstruktion an. Martin Saar beschreibt Nietzsches genealogischen Stil als „kritisch motivierte Kunst der drastischen Darstellung“ 16 . Selbstverständlich stilisiert Nietzsche beispielsweise in der Genealogie der Moral 17 auf eine andere Weise als Foucault in seinem Vortrag Was ist Kritik? und Foucault auf eine andere Weise als Le Roy in Product of Other Circumstances: Alle drei stilisieren sich selbst und ihr (Sprach-)Handeln auf je eigene Art. Doch in einem Punkt sind sie ähnlich: Und diese Ähnlichkeit liegt gerade im Vorgang der narrativen und inszenierten Konstruktion jener letztlich nicht nachweisbaren ‚ursprünglichen Freiheit‘, einer Konstruktion, die nicht theoretische Gegenentwürfe zu scheinbaren Gewissheiten produziert, sondern vielmehr „kritische Anfragen an gegenwärtiges Selbstverständnis“ 18 stellt. Althussers Modell der bestimmenden Anrufung durch die uns umgebenden Strukturen, der sich kein Subjekt jemals entziehen kann, kann als fatalistischer Ansatz betrachtet werden. Der Akt der sich ausfügenden Entunterwerfung, der freiwilligen Unknechtschaft dagegen kann immer nur von Subjekten geprobt werden, die sich nicht als vollständig unterworfen begreifen möchten - so auf der Bühne durch einen Performer wie Le Roy, so durch dazu aufgeforderte Teilnehmer der Performance ZOO von aktör&vänner. Die hingenommene Nichtbegründbarkeit der ‚ursprünglichen Freiheit‘, auf welche ein Subjekt sich hierbei beruft, berufen muss, kann sich in einer listigen Stilisierung ausdrücken. Mit dieser These schließe ich: Philosophische und künstlerische Äußerungsformen sind prädestiniert dazu, Räume einzurichten, die die Bildung von - sich einfügendem, sich ausfügendem - Stil ermöglichen. Und damit sind sie auch prädestinierte Äußerungsformen sich heranbildender Subjektivität: Orte notwendig gesetzter Subjekte auf der stetigen, tätigen Suche nach ‚so etwas wie‘ einer ursprünglichen Freiheit, ihren setzenden Anrufungen zumindest gelegentlich, vorübergehend zu entkommen. Anmerkungen 1 Vgl. Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, in: Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg und Westberlin 1977, S. 108 - 153. 2 Ebd., S. 142. 3 Ebd, S. 143. 4 Vgl. Aleida Assmann, „‚Opting in‘ und ‚opting out‘. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der englischen Aufklärung“, in: Hans-Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, Frankfurt/ Main 1986, S. 127 - 143. 5 Teile des zweiten Hälfte des vorliegenden Artikels sind in überarbeiteter Form und ins Englische übersetzt erschienen in: Philipp Schulte, „Alternative Genealogies: Critique and Style in Contemporary Performance Art“, in: Philipp Schulte, Anneka Esch-van Kan, Stephan Packard (Hrsg.), Thinking - Resisting - Reading the Political, Zürich und Berlin 2013, S. 275 - 290. 6 Vgl. Michel Foucault, Was ist Kritik? , Berlin 1992. 7 Vgl. Judith Butler, „Was ist Kritik? “, in: Rahel Jaeggi, Tilo Wesche (Hrsg.): Was ist Kritik? , Frankfurt/ Main 2009, S. 221 - 246. 8 Vgl. Foucault 1992, S. 52 f. 9 Vgl. Butler 2009, S. 243 (Hervorhebung nicht im Original). 10 Ebd. 11 Ebd., S. 240. 109 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils 12 Ebd., S. 244. 13 Vgl. hierzu Hans-Martin Gauger, Über Sprache und Stil, München 1995. 14 Vgl. Assmann 1986. 15 Ebd., S. 141. 16 Vgl. Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt/ Main 2007, S. 139. 17 Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Stuttgart 1988. 18 Saar 2007, S. 141. 110 Philipp Schulte