eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2012
271-2 Balme

Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber

2012
Simona Travaglianti
Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber: Ein Versuch, den Zuschauer zu theoretisieren Simona Travaglianti (Bern) Im zeitgenössischen Theater, ob nun auf experimentelleren Off- oder etwas weniger verspielten Stadttheaterbühnen, hat sich die Rolle des Zuschauers verändert: Sie wurde aufgewertet. Im Rahmen verschiedenster inszenierter Situationen fungiert der Zuschauer wesentlich häufiger als aktiver Teilnehmer, als anwesender Zeuge, als partizipierender Mitgestalter, der zusätzlich eine gewisse Mit-Verantwortung an den Geschehnissen trägt, als dass er passiver Konsument oder Voyeur sein darf. Dies wurde natürlich erst möglich, nachdem er belehrt, beschimpft und angeschrien wurde. Nachdem er, von Indien aus ferngesteuert, spazieren geführt wurde. Nachdem er gebeten wurde, auf den Brettern, die einst die Welt bedeuteten, Platz zu nehmen, anstatt im Parkett. Nachdem er basisdemokratisch über die Abschiebung illegaler Migranten mitbestimmen durfte. Nachdem er in ein intimes Gespräch mit dem Künstler höchstpersönlich involviert wurde, auf gleicher Augenhöhe, face to face. Oder nachdem ganz einfach das Licht im Zuschauersaal nicht ausgeschaltet wurde. Natürlich: Nachdem er an bestimmte Nicht-Theater-Orte geführt wurde, wie in kalte Industriehallen, aseptische Atombunker, erlebnisreiche Einkaufszentren oder an Plätze, Orte und Straßen inmitten des städtischen Raumes. Aus seiner vermeintlichen Passivität befreit, wird der Zuschauer zum Mit-Beteiligten, Ko-Autor oder Katalysator der theatralen Aktion. Neben den Performern erhält auch er eine Rolle, die konstitutiv ist und das Zustandekommen der Aufführung determiniert. Die Position und Konzeption des Zuschauers wird in Bewegung versetzt, so sehr, dass sich zeitweilig die Grenze zwischen Betrachter und Darsteller aufzulösen scheint. Dieses Phänomen taucht in unterschiedlichen zeitgenössischen Theaterprojekten und -formen auf. Die Position des Theaterzuschauers möchte ich nun anhand eines Beispiels aus den 1970er-Jahren analysieren. Die Theaterformation Squat Theatre, in den 1970er und 1980er Jahren in New York ansässig, bringt die Zuschauer in eine fürs Theater regelrecht nonkonformistische Lage und spielt mit dem Dispositiv der theatralen „Schauanlage.“ 1 Ihre Projekte scheinen mir für die Auseinandersetzung mit der Rolle des Zuschauers äußerst bedeutsam zu sein. Mit der Inszenierung Andy Warhol’s Last Love (1978) soll die Figur des Zuschauers an dieser Stelle anhand von drei Gegenpaaren diskutiert werden: Die Partizipation und die Distanz; die Position und die Situation des Zuschauers; der individuelle Standpunkt und die Teilnahme an einer (Zuschauer-) Gemeinschaft. Diese drei Paare dienen als Eckpfeiler, um die Frage nach der Subjektkonstitution des Zuschauers zu stellen. Die Zuschauer des Squat Theatres Die ursprünglich aus Ungarn stammende Theatergruppe Squat Theatre lässt sich 1977 in New York an der 23. Straße in einem Geschäftsraum nieder, der für die drei wichtigsten Inszenierungen Pig, Child, Fire! (1977) 2 , Andy Warhol’s Last Love (1978) und Mr. Dead and Mrs. Free (1981) als Spielstätte genutzt wird. Anders als der Name suggeriert, handelt es sich beim Squat Theatre nicht um Hausbesetzer, sondern um Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 75-87. Gunter Narr Verlag Tübingen moderat kritische und surrealistisch angehauchte Theaterkünstler. Bereits in ihrer Heimatstadt Budapest hatte sich das Squat Theatre einen eigentümlichen Ort für ihre Theaterarbeit ausgesucht: eine Wohnung. 3 Mit dem New Yorker Kaufladen wird dieses Experiment fortgeführt und konkretisiert, ausgefeilt und verdichtet. Die Straße wird einbezogen und mittels der Glasfront des Ladenlokals kann eine einzigartige Zuschauer-Schauspieler- Beziehung erzeugt werden: Das Spiel vollzieht sich im Geschäft und auf der Straße. 4 Es handelt sich um zwei parallele Aufführungsstätten, die immer wieder zur Überlappung gebracht werden. Diese Konstellation ist für die Aufführungen des Squat Theatres charakteristisch und ermöglicht gemäß Richard Schechner, der das Squat Theater interessiert beobachtete, drei Zuschauertypen: Derjenige, der Eintritt bezahlt hat und im Geschäft als offizieller Zuschauer sitzt; derjenige, der als Passant zufälligerweise vorbeikommt und entweder in die auf der Straße gespielten Szenen verwickelt wird oder neugierig und verstohlen durch das Schaufenster die Szenerie im Laden betrachtet; letztlich derjenige, der die Aufführung im Inneren gesehen hat und nochmals kommt, um sie von der Straße aus zu sehen. 5 Das Spiel selbst findet vorwiegend im Inneren des Theaterraumes statt. Vor der Fensterfront im Ladenlokal befindet sich eine leicht erhöhte Bühne, die von den Mitgliedern des Squat Theatre selber Proszenium, also Vorbühne, genannt wird. Der Vorhang hinter dieser Vorbühne ist beim Squat Theatre das Schaufenster, also eine durchsichtige Glasscheibe, die den Blick des Zuschauers auf die 23. Straße freigibt. Dieser „Vorhang“ kann als Grenze oder Trennwand fungieren, aber als eine durchlässige, durchsichtige und auch fragile Grenze, die allenfalls auch durchbrochen werden kann. Hinter einer Vorbühne befinden sich, in der Tradition der illusionistischen Guckkastenbühne, die Bühne und das Bühnenbild. Beim Squat Theatre sind Bühne, Bühnenbild und Prospekt im engeren Sinne die 23. Straße in New York, im weitesten Sinne die Stadt New York als Ganzes. Diese Situation wird verschiedentlich genutzt: An erster Stelle einfach als Hintergrund oder Szenerie, die von den Ereignissen im Theater unabhängig ist. Da es sich hierbei um die 23. Straße handelt, ist die Szenerie kontinuierlich in Bewegung und verändert sich unentwegt, auch ohne eine inszenatorische Einmischung. An zweiter Stelle fungiert die Straße als zusätzliche, durch die Glasscheibe physisch getrennte Bühne des Squat Theatre, ob dies nun die Straße direkt vor der Glasfront betrifft oder die Straßen New Yorks, die per Projektion ins Theater geholt werden. Das Wechselspiel von Innenraum zum außerdiegetischen Außenraum, bzw. Projektionsraum, zeigt sich besonders markant in Andy Warhol’s Last Love aus dem Jahr 1978. Für den zweiten Akt dieser Produktion werden die Zuschauer über das Treppenhaus vom ersten Stock des Wohn- und Geschäftshauses ins Ladenlokal geführt. Der Laden ist bestuhlt, die Glasfront des Geschäfts mit einer Leinwand verdeckt. Eine Projektion wird in Gang gesetzt, die beidseitig, von der Straße aus und von innen gesehen werden kann. Parallel dazu wird auf Tonband Kafkas kaiserliche Botschaft aus der Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer vorgelesen. Die kafkaeske Nachricht spricht die Zuhörer direkt an: „Der Kaiser - so heißt es - hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet.“ 6 Die Botschaft stellt die Tonspur des stummen Filmes und eine over- Stimme im Theater- und Geschäftsraum dar, die bloß im Inneren zu vernehmen ist. Auf dem Bildschirm gestikuliert zunächst der Unterhaltungsmedienhändler Crazy Eddie 76 Simona Travaglianti tonlos, dann erscheint ein Darsteller zu Pferd, der aussieht wie Andy Warhol, 7 und durch New York reitet. Er kann als Bote der Erzählung identifiziert werden, die der Zuschauer im Squat Theatre gerade hört, und der, wie Kafkas Bote, verschiedene Hindernisse bewältigen muss. Während er inmitten der Wolkenkratzer Manhattans reitet und sich durchkämpft, betritt eine bewaffnete Frau das Ladenlokal an der 23. Straße, zielt auf die Leinwand und erschießt einen Statisten des Films. Damit tritt sie mit der filmischen Ebene in direkte Interaktion. Im Film reitet „Andy Warhol“ weiter, hält in China Town bei einem Chinesen und bekommt eine Sahnetorte ins Gesicht geschleudert. Auf dem Kuchenboden findet er eine Nachricht. Es ist der vorletzte Satz aus Kafkas kaiserlicher Botschaft: „Niemand dringt hier durch und gar mit einer Nachricht eines Toten.“ 8 Daraufhin nimmt er ein Taxi und steigt direkt neben dem Geschäftslokal des Squat Theatres aus. Noch immer auf dem Bildschirm, sehen die Zuschauer von Andy Warhol’s Last Love wie der Darsteller von Andy Warhol auf sie zukommt. Dann tritt er auf, geht von der Straße in den Laden und zündet das Licht an. Die Leinwand, die als Projektionsfläche diente, wird wie ein Vorhang gezogen. Die Zuschauer von Außen sehen nun direkt ins Innere, sehen die Szene und die anderen Zuschauer, die drinnen auf ihren Plätzen sitzen. Die Zuschauer im Inneren erblicken nun ebenfalls die anderen Zuschauer, die durchs Schaufenster ins Innere spähen. Der zweite Akt endet damit, dass die Fensterscheibe der Glasfront eingeschlagen und einem Squat- Darsteller, der zuvor vom Laden aus im Film erschossen wurde und nun vor dem Squat Theatre tanzt, ein Bier hinaus gereicht wird. Der nun anwesende „Andy Warhol“ sitzt im dritten Akt im Squat Theatre und seine Stimme stellt seinen letzten Lieben Fragen. Die Stimme kommt nach wie vor aus den Lautsprechern, ist aber direkt mit den szenischen Abläufen verbunden. Eine der beiden Frauen, die Ulrike Meinhof darstellt, verurteilt und erschießt ihn. Damit wird vor der Glasfront eine Mylarfolie heruntergelassen. Sie wirft den Zuschauern - innen wie außen - ihr eigenes Spiegelbild zurück und schirmt Ladenlokal und Straße klar voneinander ab. Die 23. Straße direkt vor dem Squat Theatre ist ferner auch der zweite Ort, an dem eine Zuschauerposition sich etablieren kann. Passanten, die zufälligerweise vorbeikommen, betreten versehentlich die Bühne und mutieren schlagartig von schaulustigen Passanten zu Performern und Zuschauern zugleich. Als Performer beteiligen sie sich an einer Aufführung und erkennen nicht, dass es sich um eine Aufführung handelt, sondern nehmen die Abläufe als real wahr. Als Zuschauer vor dem Schaufenster wird ihre Position eins zu eins mit den Zuschauern im Inneren gespiegelt. Der Theaterkritiker Roger Copeland beschreibt die Disposition wie folgt: Passers-by of all descriptions invariably begin to peek inside, sometimes pressing their faces up against the glass for a better look. One’s first temptation is to laugh at those unsuspecting souls who have unwittingly wandered into a performance. But soon it becomes appartent that the paying audience is as much on display as those random spectators are. 9 Das Schaufenster des Squat Theatres ermöglicht, wie es Copeland beschreibt, die Gestaltung von zwei Positionen, von welchen aus der Zuschauer blicken kann und gleichzeitig als Zuschauer ins Visier gerät: Auf der einen Seite des Schaufensters sitzt die Zuschauerpartei, die bezahlt hat und entweder lachend oder mit Irritation darauf reagieren kann, dass nie vollkommen klar ist, ob der Zaungast, der vor dem Schaufenster hält, ein planmäßig beteiligter Performer oder ein stehengebliebener Passant ist, was gespielt 77 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber ist und was nicht. Die spontane, unvorhersehbare Intervention seitens der Straße ist natürlich in den Projekten des Theatres einkalkuliert. Für die im Inneren sitzende Zuschauerpartei betreten die allfälligen Passanten die Bühne der Geschehnisse und werden zum integrativen Teil der Aufführung, sie werden zu Performern. Auf der anderen Seite des Schaufensters, auf der Straße, steht die andere Zuschauerpartei und blickt in den Laden, nimmt die Vorgänge auf der dazwischengeschalteten Vorbühne wahr und erkennt ebenfalls deren Verlängerung: Es ist das ‚Parkett‘, in welchem die anderen Zuschauer sitzen. So gesehen werden die auf den Stühlen sitzenden Zuschauer zur Szenerie hinzugezählt; eine Rolle als Mitbeteiligte kann auch ihnen zugeteilt werden, selbst wenn sie ein etwas statisches Bühnenbild darstellen. Kurzum, auch sie werden mittels der Blicke der anderen Zuschauer zu Performern. Partizipation und Distanz Der Zuschauer des Squat Theatres, ob er nun im Geschäftslokal sitzt und zuschaut oder außen an der Fensterfassade steht und zusieht, rahmt mit seinem Blick einen von ihm geschiedenen und auf Distanz gehaltenen anderen Raum, in welchem eine theatrale Aktion stattfindet. Die Theaterwissenschaftlerin Josette Féral arbeitet bei ihrer Bestimmung der Eigentümlichkeit der Theatralität ein hilfreiches Modell heraus, das für die Analyse der Inszenierungen des Squat Theatres äußerst aufschlussreich ist. 10 Ausgehend von drei verschiedenen Beispielen leitet sie die Konstellation von Blicken in theatralen Situationen her, in und außerhalb der Institution Theater. Sie kommt zum Schluss, dass Theatralität entsteht, wenn es zu einer doppelten Spaltung des Blickes kommt. Dies kann Féral zufolge durchaus in einer alltäglichen Situation vorkommen. Entscheidend ist, dass der Betrachter mittels seines Blickes auf ein bestimmtes Geschehen den alltäglichen Raum neu einteilt und rahmt. Diesem anderen, von ihm geschiedenen und von den Alltagsgeschehnissen isolierten Raum, unterscheidet ein Zuschauer aufgrund von „events, behaviours, physical bodies, objects and space without regard for the fictional or real nature of the vehicle's origin.“ 11 Es handelt sich hierbei um einen virtuellen Raum, einen Raum „belonging to the other“ 12 , aus welchem „fiction can emerge.“ 13 Umgekehrt übernehmen die in diesem anderen Raum Handelnden die Kontrolle über ein Fragment des Alltags, trennen es, indem sie es in Anspruch nehmen, von den umgebenden Geschehnissen ab. Féral spricht damit von einem Prozess, der eine reziproke Blickrelation beinhaltet: [T]heatricality appears to be more than a property; in fact, we might call it a process that recognizes subjects in process; it is a process of looking at or being looked at. It is an act initiated in one of two possible spaces: either that of the actor or that of the spectator. In both cases, this act creates a cleft in the quotidian that becomes the space of the other, the space in which the other has a place. 14 Die doppelte Spaltung des Blickes erfolgt nach Féral, wenn eine Situation des Betrachtens und Angeschaut-Werdens sich einstellt, ein wechselseitiges Zu- und Anschauen also. Aus diesem Blickverhältnis wird eine Spaltung erzeugt, in welcher Subjekte, die in einen bestimmten Prozess verwickelt sind, beidseitig erkannt werden können. Dadurch entstehen zwei Räume: Ein Raum, in dem etwas dargestellt und eine Geschichte („fiction“ oder „illusion“ in Férals Worten) erzählt werden kann, und ein Raum des Betrachtens. Ein Bühnenraum und ein Zuschauerraum. Angewandt auf die Inszenierungen im Squat Theatre muss Férals Modell aller- 78 Simona Travaglianti dings, aufgrund der durchsichtigen Trennwand des Schaufensters, erweitert werden. Für die Zuschauer im Inneren des Geschäftslokals könnte die Situation einer konventionellen, institutionellen Theatersituation entsprechen: Sie sitzen auf ihren bezahlten Plätzen. Die Rampe der Vorbühne trennt sie von den Geschehnissen auf der Bühne. Behütet sitzen sie im Zuschauersaal, neben ihnen andere Zuschauer. Jeder einzelne Zuschauer rahmt und bestimmt die theatrale Aktion auf der Bühne als solche. An und für sich könnte er auf seinem Sitzplatz in die erzählte Geschichte versinken und sich seinem kulturellen Konsum hingeben. Doch der Zuschauerblick wird gestört und kann sich nicht „ungehindert auf den fiktionalen Raum ausrichten.“ 15 Er wird gestört durch die durchsichtige Bühnenhinterwand, welche die Straße zur Verlängerung der Bühne macht und so der Realität, der Unvorhersehbarkeit und Spontaneität der Straße willentlich Einlass gewährt. Die doppelte Spaltung des Blickes von Josette Féral wird in Andy Warhol’s Last Love nochmals verzweifacht. Nicht nur die Handelnden, die eine Fiktion oder Illusion herstellen, blicken zurück, sondern auch die andere Zuschauerfraktion im Innenwie auch im Außenraum. Damit wird der Zuschauerblick zweifach gestört, da er zweifach erwidert wird. Dies demontiert die Behaglichkeit der Zuschauerposition, weil das Betrachten auffällig gemacht wird. Josette Férals Theatralitätskonzept beinhaltet damit eine direkte Teilnahme - oder Partizipation -, die sich über ein Blickverhältnis einstellt. Nur mittels eines handelnden Blickes, der betrachtet und zuschaut, aushandelt, rahmt und einteilt, kann sich eine theatrale Situation generieren. Der Zuschauer behält indes immer eine gewisse Distanz zu den Geschehnissen. Die Abgrenzung stellt sich in dem Moment ein, in dem er erkennt, dass es sich um eine Theateraufführung handelt. In Andy Warhol’s Last Love lässt sich diese Distanzierung am prägnantesten bei der Zuschauerfraktion herausarbeiten, die sich auf der 23. Straße befindet. Per Zufall in die Aufführung hineingeraten, bastelt sich dieser Zuschauer einen Sinn zusammen, aus den wahrnehmbaren Fragmenten im Inneren des Squat Theatres und mit den Ereignissen auf der Straße, ob sie nun zur Inszenierung gehören oder nicht. Dabei spielt sein Blick, der rahmt und entscheidet, was zum Stück zählt und was nicht, die entscheidende Rolle. Indem er weitgehend eine Partizipation akzeptiert, nimmt er gleichzeitig eine Distanzierung vor, die seine eigene Position plötzlich ins Zentrum rückt. Er muss seine Position aushandeln und sich entscheiden, ob er weitergehen möchte oder auf der Verlängerung der Bühne des Squat Theatres stehen bleibt. Vor allem entscheidet er, wie er sich an der Aufführung beteiligen will, als Performer und/ oder als Betrachter. Position und Situation Indem die Zuschauer des Squat Theatres im Inneren wie auch die Zuschauer außen durch die gegenüberliegende Zuschauerpartei in ihrem Betrachten betrachtet werden, wird ihre Steh- oder Sitzposition bedeutungsvoll, weil sie eigenständig auszuhandeln ist. Durch die auffällig gemachte Tätigkeit des Zuschauens und durch den Einbezug dieser Tätigkeit gerät der eigentliche Ort, 16 auf welchem die Zuschauer sitzen, gehen oder stehen, in den Brennpunkt. Dies ist dem Blickdispositiv des Squat Theatres mit seiner spezifischen und durchsichtigen Bühnenhinterwand geschuldet. Die Raumeinteilung, die mittels der transparenten Glasfront des Ladenlokals zwei verschiedene Zuschauerpositionen spiegelt und eine konventionelle Betrachterposition stört, hat aber noch eine weitere Konsequenz. Josette Férals reziproke Blickrela- 79 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber tion beruht auf der Annahme, dass das, was zwischen diesem Blickaustausch entsteht, eine in sich geschlossenen Fiktion oder Illusion darstellt. Mit der Emergenz einer Fiktion oder Illusion als Resultat eines Wechselverhältnisses, das auf einem Blickaustausch basiert, geht sie undifferenziert um. In Andy Warhol’s Last Love wird aber eine in sich abgeschlossene Erzählung mit den unterschiedlichsten Mitteln fortwährend unterlaufen. Neben der Konfrontation des Innenmit dem Außenraum und mit der Gegenüberstellung der Zuschauer innen und außen, spielt insbesondere der Einsatz der Stimme, die aus dem Lautsprecher kommt, eine bedeutende Rolle in der Unterbrechung einer abgerundeten Fiktion. Die aus den Lautsprechern eingespielte Stimme ist nicht klar einer Person oder einem Darsteller zuzurechnen. Als over-Stimme 17 ist sie sowohl von der Projektion und den darin auftretenden Darstellern (Crazy Eddie und „Andy Warhol“), als auch von dem dann auftretenden Schauspieler losgelöst. Der Inhalt der Tonbandnachricht, die kaiserliche Botschaft, die sich direkt an den Zuschauer wendet, unterstreicht ein scheiternder Illusions- und Kommunikationsversuch. Der Inhalt der kaiserlichen Botschaft, die Nachricht eines Toten, wird nicht enthüllt, sondern kann nur erträumt werden, wie dies der letzte Satz der Parabel besagt: „Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.“ 18 Damit wird eine raum-zeitliche, stimmige und abgerundete Illusion aufgebrochen. Eine bündige, in sich geschlossene Fiktion - gar eine spektakuläre Fiktion - wird verhindert. Es handelt sich um eine Situation, in welcher der Zuschauer nicht „consommateur d’illusions“ 19 ist. Vielmehr muss er sich einbringen und träumen, und so die Lücken von Andy Warhol’s Last Love eigenständig, mit seiner Vorstellungskraft bereichern. Die Position und Verortung des Zuschauers bekommt eine zentrale Bedeutung, weil er sich mit einer aufgebrochenen Fiktion konfrontieren muss. Das Bewusstsein des eigenen Standortes wird verstärkt und unterstrichen. Oder um die bereits erwähnte Aussage von Gerald Siegmund vollständig aufzugreifen: Wenn sich der Zuschauerblick nicht ungehindert auf den fiktionalen Raum ausrichten kann, dieser andere Raum sich also nicht eindeutig als anderer Raum etablieren kann, vermag der Ort des Zuschauers selbst auffällig zu werden. Unabhängig von unserem Status als Zuschauende und dem damit verbundenem Raum wird unser Blick und unsere Aufmerksamkeit auf den realen Ort gelenkt, an dem, wie Aleida Assmann es bereits formuliert hat, bereits gehandelt wurde, an dem bereits etwas stattgefunden hat. Die Geschichtlichkeit des Ortes wird selbst dabei auffällig und ins Spiel der Blicke integriert und ausgespielt. 20 Sowohl durch diese spezielle Konstellation der Zuschauer und der theatralen Aktion in den Inszenierungen des Squat Theatres als auch durch die angewendeten Verfahren in ihrer Theaterarbeit treten der konkrete Ort und die spezifische Position, die der Zuschauer einnimmt, in den Vordergrund. Dadurch wird sich jeder Zuschauer seiner jeweiligen Zuschauerposition bewusst und die Wahrnehmung kann immer wieder von der inszenierten Geschichte auf den realen Ort abgleiten, an dem er sich befindet und der ihn umgibt. Damit sieht sich jeder Zuschauer mit der Aushandlung seiner eigenen Position konfrontiert, wie auch mit seiner je individuellen und subjektiven Situation. Für die Bestimmung der Situation möchte ich an dieser Stelle die Konzeption bzw. die Konstruktion einer Situation einführen, welche die Situationisten auf besonders prägnante Art und Weise formuliert haben. Die Situationistische Internationale ist eine 80 Simona Travaglianti Avantgarde-Bewegung, die von 1957 bis 1972 bestand. Bereits für die Namenswahl erscheint der Begriff Situation entscheidend: Ihr künstlerisches Hauptanliegen ist die Konstruktion von Situationen, 21 die als konstruierte Zwischenfälle aufzufassen sind, und welche der Verunsicherung und der Beschleunigung eines Bruchs dienen. Damit, so die Absicht der Situationisten, kann es zur Subversion einer in sich geschlossenen, fiktionalen und spektakulären Welt kommen, und Gewohntes wird mit einer veränderten Wahrnehmung angeblickt. In einem Artikel aus dem Jahr 1960 mit dem Titel „Théorie des moments et construction des situations“ erklären sie ihr Bestreben mit folgenden Worten: „La situation, étroitement articulée dans le lieu, est complètement spatio-temporelle. Les moments construits en ‚situation‘ [peuvent] être considérés comme les moments de rupture [et] d'accélération.“ 22 Der reale Standort und der spezifische Ortsbezug spielen bei der Konzeption der Situation eine entscheidende Rolle. Erst wenn sich ein Zuschauer an einem ganz bestimmten Ort positioniert hat, seine Wahrnehmung ins Spiel bringt und aufs Spiel setzt, kann es gemäß der Situationistischen Internationale zu einer konstruierten Situation kommen. Nur indem sich ein Zuschauer an einem ganz spezifischen Ort einfindet, dort willentlich und bewusst das Risiko einer veränderten Wahrnehmung eingeht und gegen Gewohnheiten, Normen und Regeln aufbegehrt, können Brüche in der Wahrnehmung beschleunigt und erzeugt werden. Der Ort spielt bei den Situationisten eine Hauptrolle und fungiert als Mitgestalter, mit welchem permanent ein Dialog aufgebaut werden soll. In den site-specific-Aufführungen des Squat Theatres ist dieser Ort das Geschäftslokal, das wie die Theatergruppe selbst Squat Theatre heisst, und die Strasse davor, beziehungsweise die Stadt New York. Im Squat Theatre, an der 23. Straße in New York, intervenieren kontinuierlich distanzierende Zuschauer. Diese sitzen und stehen, blicken und betrachten. Sie fügen Brüche ein, sie konstruierten Situationen. So betrachtet, erhält der Name der Gruppe plötzlich eine wesentliche Signifikanz: Etwas wird „gesquattet“, eine Besetzung findet statt. Durch diese spezifische Blickposition und -situation nehmen die Zuschauer des Squat Theatres die unterschiedlichen Theaterräume in Beschlag, sie finden sich darin ein, benutzen und gestalten sie mit. Auch wenn die Grenze zwischen Passant, Mitakteur und Zuschauer sich zeitweilig zu verflüssigen scheint, wird sie sofort wieder errichtet durch den Blick und durch das Bewusstsein, in eine theatrale Aktion hineingeraten zu sein. Diese doppelte Spaltung des Blickes, wie Féral es nennt, ermöglicht das Ausloten einer bestimmten Zuschauerposition, die zwischen Partizipation und Distanzierung oszilliert und sich nicht definitiv festlegen muss, sondern aufgrund der Zuschauersituation immer wieder ins Spiel geraten kann. Die jeweilige Situation des Zuschauers vermag die Brüche, die in der Inszenierung Andy Warhol’s Last Love bereits angelegt sind, zu beschleunigen und die Fiktion offen zu halten. Damit wird eine multiple Interpretation ermöglicht. Jeder Zuschauer hat sein eigenes Stück gesehen, ausgehend von seiner Position und Situation, seiner Anteilnahme und/ oder Distanzierung. Vereinzelung und Gemeinschaft Jeder Zuschauer hat in den so angelegten Inszenierungen des Squat Theatres also eine andere Aufführung gesehen. Selbst ein Zuschauer im Inneren des Ladenlokals hat nicht dasselbe gesehen wie sein Sitznachbar, von dem Zuschauer vor dem Squat Theatre ganz zu schweigen. Damit kann jedem einzelnen Zuschauer des Squat Theatres eine 81 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber Rolle zugesprochen werden, die aufgrund dieser Disposition und dieses Dispositivs ins Rampenlicht rückt. Als Mitbeteiligter, Teilnehmer oder Zeuge kann die Stellung des Zuschauers mit einer gewissen Aktivität in Verbindung gebracht werden. Zuvor wurde Férals Vorschlag zur Bestimmung der Theatralität mithilfe einer reziproken Blickrelation betrachtet, die der Zuschauer vornimmt. Diese Handlung, die ein Aushandeln von Räumen und eine Rahmung der Geschehnisse impliziert, stellt Zuschauersubjekte ins Zentrum und spricht ihnen eine gewisse Eigenständigkeit für die vorgenommene Spaltung des Blickes zu. Jacques Rancière hält in der Benennung des Zuschauers als „emanzipierten Zuschauer“ ebenfalls an einer Handlung fest. Er löst den Blick von einem Voyeur und somit von einer ihm inhärenten Passivität ab und schreibt der Handlung des Zuschauens eine Aktivität zu. Mit den Worten Rancières handelt der Zuschauer, auch wenn er vermeintlich reglos im abgedunkelten Parkett sitzt: Er beobachtet, er wählt aus, er vergleicht, er interpretiert. Er verbindet das, was er sieht mit vielen anderen Dingen, die er gesehen hat, auf anderen Bühnen und an anderen Arten von Orten. Er erstellt sein eigenes Gedicht mit den Elementen des Gedichts, das vor ihm ist. [. . .] Sie [die Zuschauer] sind somit distanzierte Zuschauer und aktive Interpreten des Schauspiels, das ihnen geboten wird. 23 Diese Möglichkeit, Rancière spricht sogar von „Macht“, zur Assoziation und Dissoziation, verwandelt jeden einzelnen Zuschauer in einen emanzipierten und aktiven Zuschauer. 24 Als emanzipierter Zuschauer partizipiert er, ohne komplett involviert zu sein, und tut dies auf seine je individuelle Art und Weise, mit seinen Erfahrungen, Erinnerungen und Fantasien, Unterscheidungsbestrebungen und Bestätigungsbedürfnissen. Er interpretiert aktiv und inmitten einer Gruppe von Zuschauern, also mehr oder weniger gleichgesinnten Theaterliebhabern, dem Publikum. Rancières emanzipierter Zuschauer der ästhetischen Konfrontation ist ein zur Handlung ermächtigtes Subjekt, aber keinesfalls ein Kollektivsubjekt. 25 Doch stellt es nicht eine Verkürzung dar, wenn man an dieser Stelle beim vereinzelten, wenn auch emanzipierten - da blickenden, beobachtenden und damit handelnden - Zuschauer stehenbleibt? Rancières Überlegungen scheinen mir zu kurz zu greifen, insbesondere in Bezug zur allgemein geduldeten Annahme, dass dem Theater eine gemeinschaftsstiftenden Funktion innewohnt. Zuerst bestimmt Rancière ein die Theaterkunst konstituierendes Paradox - ohne Zuschauer kein Theater - 26 und spricht dem Theater mit folgenden Worten jegliche gemeinschaftsbildende Eigenschaft ab: Die kollektive Macht, die den Zuschauern gemeinsam ist, liegt nicht in ihrer Eigenschaft Mitglieder eines Kollektivkörpers zu sein oder in irgendeiner spezifischen Form der Interaktion. Es ist die Macht, die jeder oder jede hat, das, was er/ sie wahrnimmt, auf seine/ ihre Weise mit dem besonderen intellektuellen Abenteuer zu verbinden, die sie jedem anderen ähnlich macht, insofern dieses Abenteuer keinem anderen gleicht. Diese gemeinsame Macht der Gleichheit der Intelligenzen verbindet die Individuen, lässt sie ihre intellektuellen Abenteuer untereinander austauschen, insofern sie sie getrennt voneinander hält, die sie alle fähig sind, die Macht aller zu verwenden, um ihren eigenen Weg zu gehen. 27 Indem Rancière den emanzipierten und vereinzelten Zuschauer zu einem Zuschauer macht, der sich gewissermaßen der szenischen Aktion unterwirft, um sich zum Akteur, Übersetzer und Interpreten seiner intellektuellen Abenteuer erheben zu können, gliedert er ihn wieder in eine homogene 82 Simona Travaglianti Gruppe ein. Es ist die Verschiedenheit, die alle Zuschauer gleich macht. Wie Nikolaus Müller-Schöll es in seiner Kritik an Rancières emanzipiertem Zuschauer ausdrückt, ist „jeder Betrachter [ein] Handelnder (acteur) seiner Geschichte und zugleich deren Betrachter [und wird] dadurch den anderen [Zuschauern] ähnlich [da er] mit ihnen die Fähigkeit der Assoziationen und Dissoziationen [teilt], aber weiter nichts.“ 28 Obwohl Rancière das Publikum parzelliert und jeden emanzipierten Zuschauer zum vereinzelten Betrachter erklärt, schließt er ihn trotzdem in eine, in sich bündige, ästhetische Gemeinschaft ein, die durch die Kommunion aller Versammelten erst entstehen kann. Es ist eine unhinterfragte Eingliederung in ein, in dieser Form zuvor inexistentes Ensemble, in welchem Zuschauer wie Darsteller sich zusammenschließen zu einem romantischnostalgischen Miteinander. Dies passiert wohlgemerkt in der einzigartigen Situation Theater, in welcher sich Performer und emanzipierte Zuschauer kopräsent begegnen können. Was sich, ausgehend von und während dieser performativen Zusammenkunft entwickelt und produziert, nennt er „eine dritte Sache.“ 29 Mit diesen Ausführungen verbindet Rancière all seine Singularitäten zu einer Gemeinschaft, obwohl er eigentlich dagegen argumentiert. Indem er jeden einzelnen Zuschauer abkapselt und isoliert, bindet er ihn ein in eine Gemeinschaft der verschiedenartigen Singularitäten, in eine „Gemeinschaft der Subjekte ohne Identität.“ 30 Dies schließt eine gewisse Beliebigkeit aller Mitglieder ein. Wie es Giorgio Agamben in Die kommende Gemeinschaft erklärt, wären alle Mitglieder einer so gedachten Gemeinschaft Teil des „qualunquismo“. Jeder Teilnehmer an einer so konzipierten Gemeinschaft wäre also Irgendeiner. Als Irgendeiner wird nach Agamben das Subjekt als apolitisch, undifferenziert und als sich ständig exponierende Singularität aufgefasst. Dies hat zur Folge, dass dieser Irgendeiner, ein Subjekt ohne Identität und Individualität darstellt. 31 Wie könnte man eine Gemeinschaft der Theaterliebhaber heute denken? An der gemeinschaftsstiftenden Funktion des Theaters, die auf einer einstimmigen Kommunion oder homogenen Fusion basiert, lässt sich kaum festhalten. Wir tauchen als Theaterzuschauer nicht mehr in eine erzählte und dargestellte Geschichte ab, wir identifizieren uns nicht mehr mit den Figuren auf der Bühne. Das hat uns das postdramatische Theater endgültig ausgetrieben. Durch den Aufbruch einer in sich geschlossenen Illusion oder Fiktion, wie ich dies exemplarisch mit der Aufführung Andy Warhol’s Last Love ausgeführt habe, rückt die subjektive Position und Situation der Zuschauer in den Fokus. Die Subjektivität der einzelnen Zuschauer konstituiert sich performativ und während der Aufführung. Trotzdem befinden sie sich in einer Gruppe von gleichgesinnten Theaterliebhabern, teilen die gleiche Zeit und setzen sich dem gleichen künstlerischen Projekt aus. Rancières Gemeinschaftssinn, der auf einer Union der gemeinsamen Unterschiedlichkeit gründet, die alle Zuschauer teilen, lässt einen Aspekt unbeachtet, auf den Josette Féral für die Bestimmung der Theatralität hingewiesen hat und der für die Aktivität des Zuschauens wie auch für die Frage der Gemeinschaft nützlich ist: Die Tatsache, dass aufgrund einer doppelten Spaltung des Blickes dem Anderen ein Raum gegeben werden muss, sodass die Illusion oder Fiktion zum Vorschein kommen kann. Damit sich eine Gemeinschaft konstituieren kann, eine Gemeinschaft, die durchaus fragil und temporär sein kann, wie diejenige des Theaters, muss eine Beziehung zur Alterität akzeptiert werden. Dieses Andere lässt sich aber nur negativ fassen und vom Eigenen abgrenzen. Nicht die Heterogenität von Rancière vereint Subjekte und 83 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber Singularitäten. Férals Konstellation des wechselseitigen Zuschauens und Angeblickt-Werdens ermöglicht dem individuellen Subjekt eine „Exposition gegenüber dem, was seine Abgeschlossenheit unterbricht und es nach Außen kehrt [. . .].“ 32 Damit basiert die Zusammenkunft eines so gedachten Subjektes nicht auf einer Teilhabe, einem positiven Haben, sondern auf einer Negativität, einem Fehlen oder Mangel. Wie es Roberto Esposito in seiner Konzeption der Gemeinschaft formuliert, ist „das Gemeine nicht vom Eigenen gekennzeichnet, sondern vom Uneigen(tlich)en - oder, drastischer gesagt, vom Anderen.“ 33 Erst die reziproke Relation mit der Alterität und eine darauf basierende, negativ definierte Gemeinschaft, scheint für den Versuch zu greifen, eine Theorie des Zuschauers aufzustellen. Der Versuch, den Zuschauer theoretisch zu fassen Mit den Gegenpaaren Partizipation und Distanz, Vereinzelung und Gemeinschaft lässt sich die Frage des Zuschauers aufgreifen. Um ihn theoretisch zu fassen, so meine These, müssen darüber hinaus zwei weitere Elemente hinzugedacht werden, die anders als die ersten vier Parameter nicht Oppositionen darstellen: die Position und die Situation. Die Situation, die Brüche einleitet und eine fiktive Abgeschlossenheit verhindert, und die Position des Zuschauers, also sein Stand- und Betrachterpunkt, lassen sich meiner Ansicht nach in einer Auseinandersetzung, in welcher es um die Frage des Zuschauers und seiner Subjektkonstitution geht, nicht wegdenken. Mit Josette Férals doppelter Spaltung des Blickes gerät die Position des Zuschauers in den Brennpunkt. Seine Positionierung an Ort und Stelle beruht auf dem aktiven Aushandeln, das zwischen Partizipation und Distanzierung pendelt. Diese doppelte Spaltung wird in der Aufführung Andy Warhol’s Last Love vom Squat Theater bei der Zuschauerfraktion, die draußen auf der 23. Straße steht, besonders deutlich. In Férals Konzeption der Theatralität fehlt eine Reflexion bezüglich der Fiktion oder Illusion, und wie sich diese produziert und gestaltet. Mit der Hinzufügung der Situation als Komponente, die eine spektakuläre, in sich geschlossene Illusion unentwegt verhindert, kann Férals Modell erweitert und präzisiert werden. Die Situation leitet Brüche ein, beschleunigt sie und fordert die Zuschauer auf, sich einer Alterität zu öffnen. Das Verhältnis zum Anderen lässt den Zuschauer gleichzeitig als vereinzelten und doch gemeinschaftlichen Zuschauer dastehen, da die Abgeschlossenheit seiner Subjektivität aufgrund eines Mangels ausgestellt wird. In Andy Warhol’s Last Love wird der Andere an erster Stelle immer wieder mit dem Tod in Verbindung gebracht. Der Einsatz der Parabel von Franz Kafka, die die Botschaft eines Toten darstellt, bringt ein Fehlen oder einen Mangel in Bezug zur Alterität besonders treffend zum Ausdruck. Der Inhalt der Nachricht des Kaisers, der bereits tot ist als sich sein Bote damit auf den Weg macht, wird nicht dargelegt. Von der Botschaft bleibt nur der Übermittler, der Bote übrig, der in der kafkaesken Parabel allerdings den Fangarmen eines autoritären, kaiserlichen Systems nicht entkommt. Der Empfänger der Botschaft kann sich den Inhalt daher nur erträumen und sich vorstellen, wozu er mittels der direkten Ansprache auch aufgefordert ist. In Andy Warhol’s Last Love dringt der Bote durch und tritt im Squat Theatre auf. Doch er ist stumm. Die Nachricht des Toten lässt sich, selbst wenn der übrig gebliebene Bote alle Hindernisse bewältigt hat und durchkommt, nicht übermitteln. Sie lässt sich nur erdenken. An zweiter Stelle wird in der Aufführung des Squat Theatres noch eine andere Bezie- 84 Simona Travaglianti hung zur Alterität stimuliert. Diese erstellt sich über die Konfrontation mit der gegenüberstehenden Zuschauerfraktion, in der man sich als Zuschauer spiegelt. Unterstrichen wird damit, dass wir als Subjekte in einer Gemeinschaft vereint sind, doch wiederum nur über den Anderen, der nichts anderes darstellen kann als den Tod. Nur in unserer Sterblichkeit sind wir als Subjekte vereint, wie es Maurice Blanchot formuliert: Qu'est-ce donc qui me met le plus radicalment en cause? Non pas mon rapport à moimême comme fini ou comme conscience d'être à la mort ou pour la mort, mais ma présence à autrui en tant que celui-ci s'absente en mourant. Me maintenir présent dans la proximité d'autrui qui s'éloigne définitivement en mourant, prendre sur moi la mort d'autrui comme la seule mort qui me concerne, voilà ce qui me met hors de moi et est la seule séparation qui puisse m'ouvrir, dans son impossibilité, à l'Ouvert d'une communauté. 34 Anmerkungen 1 Ulrike Hass, Das Drama des Sehens: Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 143 ff. 2 Pig, Child, Fire! wurde vor dem Exil in New York produziert und 1977 in Rotterdam uraufgeführt. In New York wurde das Stück wieder aufgenommen. 3 Diese Entscheidung war nicht nur praktisch, sondern auch politisch. Sie hatten in Ungarn ein Auftrittsverbot. 4 Dieses Setting scheint bei allen Produktionen des Squat Theatres verwendet zu werden. Die Beschreibung der Aufführung Mr. Dead and Mrs. Free, beispielsweise von Suzanne Körösi („Squat Theatre’s‚ Mr. Dead and Mrs. Free’“, in: TDR, Vol. 25, Nr. 4, Winter 1981, S. 75 - 81), bezieht sich auf die Aufführung, die in Köln anlässlich des Festivals „Theater der Welt“ 1981 gezeigt wurde, und somit nicht im Squat Theatre an der 23. Straße in New York stattfand. In der Beschreibung wird darauf hingewiesen, dass ebenfalls eine Glasfront im Bühnenhintergrund benutzt wird, ohne jedoch näher darauf einzugehen. Der Artikel beschreibt ausschließlich das, was auf der Bühne passiert. 5 Richard Schechner, „Notizie, sesso e teoria della performance“, in: Claudio Vicentini, Bologna: Mulino (Hrsg.), Il teatro nella società dello spettacolo, S. 11 - 33, hier S. 20. Dieses Setting gilt für alle Aufführungen des Squat Theatre, die im Geschäftslokal in der 23. Straße gezeigt wurden. Für eine Aufführung von Mr. Dead and Mrs. Free anlässlich eines Festivals wird ebenfalls von einer Glasfront als Bühnenhintergrund gesprochen, siehe hierfür weiter hinten Fußnote 11. 6 Franz Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer: Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlass, hrsg. von Max Brod und Hans Joachim Schoeps, Berlin 1931, S. 22 - 23. 7 Es handelt sich dabei um einen Schauspieler mit langem, blondem Haar und einer Warhol-Maske. 8 Adele Edling Shank und Theodore Shank, „Andy Wahrhol’s Last Love“, in: The Drama Review, Vol. 22, Nr. 3, Sept. 1978, S. 11 - 22, hier, S. 18. Der Satz wird in der Aufführung auf Englisch verwendet: „Nobody could fight his way through here, least of all somebody with a message from a dead man.“ 9 Roger Copeland, „Squat Theatre Explodes Conventions“, in: The New York Times, 17. 10. 1982. 10 Josette Féral, „Theatricality: The Specificity of Theatrical Language“, in: Substance, #98/ 99, Vol. 31, Nr. 2/ 3, 2002, S. 94 - 108. 11 Ebd., S. 97. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 98. 15 Gerald Siegmund, „In die Geschichte eintreten: Performatives Erinnern bei Rimini Protokoll und Klaus Michael Grüber“, in: Moritz Csáky und Christoph Leitgeb (Hrsg.), Kommunikation - Gedächtnis - Raum: Kulturwissenschaften nach dem ‚Spa- 85 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber tial Turn‘, Bielefeld 2009, S. 71 - 92, hier S. 72. 16 Ganz bewusst wird an dieser Stelle von Ort und nicht von Raum gesprochen. Diese Unterscheidung geht auf Michel de Certaus L'intervention du quotidien: 1. Arts de faire aus dem Jahr 1980 zurück. Darin definiert er den Ort als fest verankert und von seiner Lage abhängig. Der Raum hingegen ist für de Certau mobil und entsteht erst aufgrund der darin ausgeführten Praktiken. 17 Für die Unterscheidung von off- und over- Stimme siehe: Michel Chion, L'audio-vision: son et image au cinéma, Paris 1990; Alain Boillat, Du bonimenteur à la voix-over: voixattraction et voix-narration au cinéma, Lausanne 2007 oder meine Ausführungen in: „Debords unzertrennliche Montagen in Critique de la séparation“, in: Andy Blättler u. a. (Hrsg.), Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung: Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte, Bielefeld 2010, S. 129 - 146. 18 Kafka 1931, S. 23. 19 Guy Debord, „La société du spectacle. Thèse 47“, in: Jean-Louis Rançon (Hrsg.), Guy Debord: Œuvres, Paris 2006, S. 781. 20 Siegmund 2009, S. 72. Auf diese Unterscheidung von Ort und Raum von de Certau greift auch Gerald Siegmund zurück und erweitert damit das Theatralitäts- und Blickmodell von Josette Féral. Er bezieht sich dabei auf Call Cutta (2004) von Rimini Protokoll und Klaus Michael Grübers Winterreise (1977). 21 Guy Debord, „Rapport sur la construction des situations et sur les conditions de l'organisation et de l’action de la tendance situationniste internationale“, in: Jean-Louis Rançon (Hrsg.), Guy Debord: Œuvres, Paris 2006, S. 309 - 328. Dieses Manifest wurde im Juni 1957 veröffentlicht und diente als Basis für die Gründung der Situationistischen Internationalen. 22 internationale situationniste, „Théorie des moments et construction des situations“, Nr. 4, S. 10 - 11, hier S. 11. 23 Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, aus dem Französischen von Richard Steurer, Wien 2009, S. 23 - 24. Original: Jacques Rancière, Le spectateur émancipé, Paris 2008, S. 19: „Il observe, il sélectionne, il compare, il interprète. Il lie ce qu'il voit à bien d'autres choses qu'il a vues sur d'autres scènes, en d'autres sortes de lieux. Il compose son propre poème avec les éléments du poème en face du lui. Elle participe à la performance en la refaisant de sa manière, en se dérobant par exemple à l'énergie vitale que celle-ci est censée transmettre pour en faire une pure image et associer cette pure image à une histoire qu'elle a lue ou rêvée, vécu ou inventée. Ils sont à la fois ainsi des spectateurs distants et des interprètes actifs du spectacle qui leur est proposé.“ 24 Rancière 2009, S. 27, meine Hervorhebung. 25 Interessanterweise betrachtet Rancière in La mésentente (1995) Subjekte des Ästhetischen, die ein Geschmacksurteil zu fällen haben, nie als Teil einer Gemeinschaft, während politische Subjekte erst durch den Zusammenschluss zu einer Gruppe (der Anteillosen) zu Wort kommen. 26 Rancière 2008, S. 12. 27 Rancière 2009, S. 27, im Original S. 23: „Le pouvoir commun aux spectateurs ne tient pas à leur qualité de membres d’un corps collectif ou à quelque forme spécifique d'interactivité. C’est le pouvoir qu’a chacun ou chacune de traduire à sa manière ce qu’il ou elle perçoit, de le lier à l’aventure intellectuelle singulière qui les rend semblables à tout autre pour autant que cette aventure ne ressemble à aucune autre. Ce pouvoir commun de l’égalité des intelligences lie des individues, leur fait échanger leurs aventures intellectuelles, pour autant qu’il les tient séparés les uns des autres, également capables d’utiliser le pouvoir de tous pour tracer leur chemin propre.“ 28 Nikolaus Müller-Schöll, „Das undarstellbare Publikum: Vorläufige Anmerkungen für ein kommendes Theater“, in: Sigrid Gareis und Krassimira Kruschkova (Hrsg.), Ungerufen: Tanz und Performance der Zukunft, Berlin 2009, S. 82 - 90, hier S. 85. 29 Rancière 2009, S. 21. Erika Fischer-Lichte nennt diese dritte Sache den „performativen Raum“. Siehe Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/ Main 2004, 86 Simona Travaglianti S. 187 ff. Für Nicolas Bourriaud ist es die „esthétique relationnelle“. Siehe Nicolas Bourriaud, Esthétique relationnelle, Dijon 2001. Mario Perniola kritisiert es harsch als „idealen, weil puren Kommunikationsakt“: Dieser zeichne sich aus durch eine totalitäre Einkapselung des Austausches, in welchem Zuschauer und Performer als gleichwertige Partner in einen Dialog treten. Dabei müssen beide Fraktionen äußerst sensibel und rezeptiv sein, damit dieser Austausch gelinge, und gleichzeitig seien sie beide unfähig, das, was vermittelt wurde, über den Moment der Rezeption und Transmission hinauszutragen. Siehe: Mario Perniola, Contro la communicazione, Torino 2004. 30 Siehe Marcus Steinweg, Subjektsingularitäten, Berlin 2004, S. 87. 31 Giorgio Agamben, La communità che viene, Torino 2001, S. 53. 32 Roberto Esposito, Communitas: Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin/ Zürich 2004, S. 18. 33 Ebd., S. 16. 34 Siehe Maurice Blanchot, La communauté inavouable, Paris 1983, S. 21. Blanchot greift dabei Georges Batailles Überlegungen auf, insbesondere seine Überlegungen in und zu „Acéphale“. Sein Text ist ebenfalls eine Antwort auf den Artikel von Jean-Luc Nancy, „La communauté désoeuvrée“ aus demselben Jahr. 87 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber