eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2012
271-2 Balme

Über das Wir zum Ich

2012
Lorenz Aggermann
Über das Wir zum Ich. Rückblick auf eine Praxis, Ausblick auf eine Theorie Lorenz Aggermann (Gießen) Über das Wir zum Ich: So paradox lässt sich die Ausgangssituation einer Zusammenarbeit umschreiben, die in kontinuierlichem Austausch der Frage nach dem Subjekt im Kontext der darstellenden Kunst nachging. 1 Paradox, da doch das Ich nach eigener Erfahrung nicht nur unverhandelbar, sondern auch unteilbar, eben rein subjektiv zu sein scheint, und für ein Wir allenfalls die Voraussetzung sein kann - und nicht umgekehrt, auch wenn in mancher Philosophie das Gegenteil behauptet wird. 2 Jedem sein eigenes Ich, ganz exklusiv und singulär. Dass dieses Ich gerade vor dem Hintergrund der darstellenden Kunst diskutiert wurde, welche bekanntermaßen diese Auffassung subvertiert, indem sie diesem Ich zugleich ein Nicht-Ich zu Seite stellt, und dieses Nicht- Ich-Ich überwiegend gegenüber einem pluralen Ihr in Anschlag bringt, war die zweite, apokryphe Setzung. Doch wie im Falle jeder doppelten Verneinung erwies sich gerade diese Konstellation als äußerst produktiv, und so begannen wir über das Ich zu denken und zu sprechen. Kein Wunder, dass in der Serie dieser Paradoxa die Philosophie als jener die darstellende Praxis kontrastierende wie fundierende Diskurs firmierte und nicht seine soziologischen oder gattungsspezifischen Differenzierungen. Philosophie und Kunst, zwei freundschaftlich verwobene Disziplinen, auch wenn sie einander fallweise mit Skepsis und Vorurteilen begegnen: Beide zielen auf das Dysfunktionale, auf das Chaotische, auf das, was sich nicht erfassen lässt. Im Versuch, dieses zu umschreiben, konturieren sie einen gemeinsamen Corpus, der mehr als erörterungs- und diskussionswürdig ist. 3 Das Dysfunktionale zeigt sich indes nur vor dem Hintergrund einer Struktur, einer Ordnung, und diese ist es auch, welche den verschiedenen, mannigfaltigen Ichs ein Zuhause verspricht, in welchem transzendente Intimität und Vertrautheit herrschen. Ich ist ein Subjekt der Ordnung - oder zumindest eines, das die Ordnung sucht. Zugleich steht aber stets die untrügliche Gewissheit im Raum, dass es kein identisches, ungespaltenes Subjekt geben kann, dass die Ordnung, die ein geregeltes Leben ermöglichen soll, nur einen losen Rahmen gibt, der unter Belastung an allen Ecken und Enden knarrt und instabil wird, bricht. Dies evoziert zwangsläufig die Suche nach den Bruchstellen, an welchen das Dysfunktionale deutlich zum Vorschein kommt. Struktur und Chaos stecken also jenes Koordinatensystem ab, in welchem die Politik des Subjektes stattfindet. 4 Die Größe des Feldes, auf dem das Subjekt infolge zu verorten ist, wird bereits in der sprachlichen Mitteilung deutlich, welche die Voraussetzung bildet, die Immanenz zu überwinden und den Schritt über das Animalische hinaus in Richtung Subjekt zu tätigen. Subjekt, das Unterworfene, das der Sprache Unterworfene: „Am Anfang war das Wort. Das Wort war bei Gott und in allem war es Gott gleich.“ 5 Doch bereits das sprechende, stimmliche verfasste Ich meldet Zweifel an. Einerseits stellt sich die Frage, ob es nicht auch Akte der Anrufung gibt, die das Subjekt verfehlen und hierüber auf eine andere, (re) sonore Verfasstheit des Subjekts verweisen, in der Klang und Affekt maßgebliche Determinanten sind und welche der Lesbarkeit, dem sprachlichen Räsonnement entgeht. Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 69-74. Gunter Narr Verlag Tübingen Andererseits sind wir, selbst wenn wir die Vorgängigkeit der Sprache akzeptieren, gezwungen, in ihrer Ordnung eine Öffnung zu belassen, einen Spalt, durch welchen dieser Corpus elastisch bleibt und nicht in der Struktur erstarrt. Das Ich ist stets mehr als Sprache. Denn umgekehrt muss auch das Wort Fleisch werden, um dem Ich begegnen zu können, und Fleisch meint hierbei nicht primär die biologischen Aspekte des Menschseins, sondern all jene Akte, die über einen signifizierbaren Körper hinausweisen. 6 Der sprachlichen Verfasstheit des Subjekts muss also notwendigerweise eine physiologische Praxis gegenüber gestellt werden, in welcher das Ich abseits der Sprache wildert und seinen Corpus weniger expliziert als ausagiert. Diese andere Ebene des Subjekts durchbricht die sprachliche Behausung verschiedentlich, führt sie an ihre Grenzen, lässt sie fallweise gar dysfunktional werden. Doch diese Praxis lässt sich nicht so ohne weiteres definieren, handelt es sich doch hierbei um verschiedene, ineinander übergehende spielerische Akte, die gänzlich ephemer, vor und neben der Sprache ablaufen, und nicht um einen geregelten oder wiederholbaren Prozess. Die Konturen des Subjekts werden deshalb am ehesten durch Fragen ersichtlich, welche stärker eine Entwicklung denn eine mögliche Definition in den Mittelpunkt rücken. Wie generiert sich ein Ich: Über Training zur Kür? Vom Subjekt zum Projekt? Zwischen Anrufung und Aneignung? 7 Mit welchen Worten dieser Verlauf auch skizziert wird, eines ist allen gemein: Jede Subjektkonstitution generiert primär ein Ich auf Probe. Die leitende Überlegung unserer Zusammenarbeit war, dass diesem Verhältnis von Struktur und Dysfunktion von Sprache und Aktion etwas originär Theatrales inhärent ist. Gerade die darstellende Kunst rückt diese Bruchstellen in ihren Fokus; und im Rahmen der Bühne verkehren sie sich, werden vom Mangel zum Versprechen, welches das Theater gegenüber der Theorie in Anschlag bringt und dem Ich mitgibt: Die Dinge nicht besprechen, sondern berühren. Handeln, um der Selbst-Vergessenheit des Wortes zu entkommen. Spielen, um jenen Rest zu umkreisen, den das Wort verfehlt. Wirken, um eine Öffnung in diesen Corpus zu schlagen. Keine Beschreibung, sondern eine elastische Formung, eine Ich-Aktion, selbst wenn diese nur vor unseren Augen und Ohren stattfindet, wir nur als Publikum beteiligt sind. Doch auch hier steht ein Verdacht im Raum, dass dieses Handeln weniger ein Akt der Souveränität als der Subversion ist, welcher die Anrufung durch den anderen zwar konterkariert, aber letztlich nicht wirkungslos macht, sondern im Gegenteil durch seinen tatkräftigen Widerspruch, durch seine physiologische Verneinung mitunter bestätigt. Sub-act statt subiect, aber ebenfalls nicht-ich. Die Reflexion des Ich in der Theorie (der Sprache) und die Repräsentation des Ich in der Praxis (abseits der Sprache, auf der Bühne) stoßen gleichsam an ihre Grenzen. Nicht ich, nicht wir: Es schreibt, es spricht, es spielt. Vielleicht befreit uns in der Tat dieses Gedacht-Werden (durch die Sprache) und Gehandelt-Werden (gegen die Sprache) auf der Bühne von den steten Reaktionen und Reflexionen, vom Unterworfensein an sich: nicht ‚als ob‘, sondern ‚anstelle unser‘. 8 Sowohl Philosophie als auch Kunst zeitigen gerade hierin einen höchst utopischen Charakter. 9 Sie geben beide ein uneinholbares, fantastisches Versprechen auf Befreiung von den Bürden der Subjektivität und lassen die Illusion eines Ichs, das nicht unterworfen ist, zu. Darin liegt der Grundstein ihrer Freundschaft. Die Prämisse, dass Theorien zur Subjektkonstitution ihren kritischen Blick auf jene Taktiken und Praktiken richten, welche das Subjekt in einem Spannungsfeld von Autonomie und Unterwerfung konturieren, 70 Lorenz Aggermann ist dahingehend zu ergänzen, dass ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um subvertierende oder kreierende Akte oder um ein Wechselspiel beider handelt, zuallererst eine Selbstreflexion von den jeweiligen Subjekten eingefordert wird. So verwundert es wenig, dass die Frage „Wie lässt sich über eine Praxis sprechen, um eine Theorie zu gewinnen? “ stets am Anfang unseres Weges vom Wir zum Ich steht, und unsere Begegnungen immer wieder um diese Frage kreisen. Die Voraussetzung, dass gerade das reflektierende und diskutierende Ich ein sprachlich verfasstes ist, macht eine nähere Bestimmung der impliziten und expliziten Qualitäten ebendieser Sprache nötig. Wahrnehmung und Erfahrung, Eindruck und Ausdruck bedingen und beeinflussen einander. Der sprachliche Austausch über das Gesehene und Erlebte führt so häufig dazu, dass Worte nicht nur der Beschreibung und Reflexion, sondern auch der Bezeugung dienen. Jenes notwendige, sich aussprechende Ich, ohne welches die Analyse von Akten und Aufführungen nicht stattfinden könnte, erweist sich zugleich als ein Instrument der Affirmation, welches der Theoriebildung unweigerlich in die Hände spielt. ‚Ich habe diese Aufführung am so-und-so-vielten gesehen‘, dient nicht nur der Beschreibung, sondern verbürgt zugleich die vermeintliche Objektivität des Erlebten, obgleich letztere erst durch diese sprachliche Feststellung entstanden ist. In Kritik gerät hierbei weniger der Sachverhalt der Anwesenheit oder Ko- Präsenz, sondern die Implementation einer Instanz. Das Ich hat etwas gesehen. Das Subjekt macht sich derart, nicht nur zum Garanten, sondern gar zum Initianten einer Ordnung, wo es doch per definitionem nur auf eine Anrufung antworten, 10 oder im besten Fall etwas wiederholen kann, das bereits vorgegeben ist. 11 Die Ordnung, die das wissenschaftliche Subjekt postuliert und zur Theoriebildung heranzieht, ist demnach nicht genuin seine. Aber wie damit umgehen? Wie gerade diese notwendige, apriorische Subjektivität reflektieren? Die Bloßstellung dieses affirmativen und alles andere als souveränen Mechanismus bietet nur bedingt einen Ausweg: ‚Ich wurde am so-und-so-vielten zum Publikum dieser Aufführung‘ entspräche zwar weit eher den Konsequenzen der Philosophie, reduziert sich das Ich hierbei doch geradewegs auf jenen Status, den es aufgrund der vorgängigen Ideologie und des vorgängigen Spektakels für sich beanspruchen dürfte. Sie verkompliziert das Sprechen als auch die Reflexion. Dass das Ich sich als Garant eines objektiven Sachverhalts ausgeben muss, um das dargestellte Ereignis und die hierdurch evozierten Eindrücke und Erfahrungen in Theorie und Wissenschaft überführen zu können, ist eine paradoxale Prämisse, die auch auf methodischer Ebene Konsequenzen zeitigen müsste. Aber wie lässt sich diese Hypostasierung des Ichs zur Instanz im Sprechen vermeiden? Selbst wenn dies in Worten ausgestellt und als responsives Ereignis hervorgehoben wird ‒ ‚mir wiederfuhr. . .‘ ‒ macht eine derartige Äußerung nur die affimierende Dimension des Wortes deutlich, löst sie aber nicht auf. So aber wollte und will keiner von uns sprechen. Die Unterwerfung der Praxis (und der Wahrnehmung) unter die Theorie, ihre sprachliche Verfassung, ist in Wahrheit die Erschaffung eines neuen Faktums, denn Sprache ist kein Medium, welches von ihrem Träger unabhängig einen objektiven Sachverhalt verbürgen könnte, sondern die Artikulation einer Medialität, die jeder urteilenden Distinktion voraus liegen muss. 12 Wir sind und bleiben Subjekte einer Sprache, deren Wort affirmiert. Wir schaffen Wissen parallel zu Erfahrung, Theorie neben Praxis. Dies muss indes kein Nachteil sein. Freundschaft wird durch Zweckfreiheit 71 Über das Wir zum Ich. Rückblick auf eine Praxis, Ausblick auf eine Theorie und Entpflichtung charakterisiert. Philosophie muss sich nicht gezwungenermaßen in ein Verhältnis zu Kunst setzen, es reicht, wenn sie ihr freundschaftlich zur Seite steht. Wesentlich ist der beidseitige Respekt. Theorie und Praxis, Wahrnehmung und Erfahrung, Reflexion und Artikulation lassen sich nicht in ein unmittelbares, ungebrochenes Verhältnis zueinander setzen, gerade das machte die Auseinandersetzung mit Subjektkonzeptionen klar. Und doch stand diese Erkenntnis implizit im Raum, da sie explizit thematisiert, unseren Diskurs auf gänzlich andere Wege geleitet hätte. Weg von fachlichen Spezifika zu einer generellen Wissenschaftstheorie. Indem wir unserem Denken jedoch diese eigene Faktizität zugestanden und auf dieser Basis weiterhin über Theater und Subjektivität sprachen, beließen wir diesen Antagonismus in seiner bereichernden Differenz. Handlungen, Wahrnehmungen und Reflexionen blieben nebeneinander (be)stehen, gerade wenn sie munter mitgeteilt wurden. Unserer wissenschaftlichen Arbeit im Labor kam hierbei zupass, dass diese primär auf realen Zusammenkünften basierte und sich die lebendige Diskussion realitätsnäher als der streng wissenschaftliche Diskurs erweist, 13 da diese die Aufmerksamkeit gleichsam auf Sprache wie auf das Fleisch lenkt, den Brüchen und Übergängen Platz einräumt und so das Subjekt als elastischen Corpus einbezieht. So kamen unsere Reflexionen in ihrer ganzen spielerischen Bandbreite zum Vorschein: Vereinnahmungen und Auslassungen, Sprache und Affekt sowie weitere audiovisuelle Modalitäten erweiterten folglich unseren theoretischen, sprachlichen Austausch und wurden letztlich zu einem polymodalen Palimpsest, das sich in niedergeschriebenen Worten nur ungenügend wiedergeben lässt. Denn es handelte sich um ein Experiment, und nicht um einen Essay, auch wenn diese Zeilen die Gestalt eines solchen annehmen: Nicht nur das Subjekt Ich, auch die Wissenschaft befand sich in Erprobung. In der Tat wäre hieraus wohl die Konsequenz zu ziehen, auch andere Formen denn schriftliche als Zeugnis für Theorie, für wissenschaftliche Arbeit im Allgemeinen zuzulassen. Doch der emanzipatorische und kritische Entwurf einer praktischen Ästhetik war nicht unbedingt das von uns gesteckte Ziel, 14 wir fühlten uns ganz wohl als Subjekte der Sprache, als TheoretikerInnen, die über eine Praxis reflektierten. Unsere Skepsis galt vielmehr der unhinterfragten Macht von Sprache, der Hypostasierung von Begriffen, Schemata und Klassifikationen, welche immer wieder dazu verleiten, eine Ordnung zu behaupten und als Machtinstrument gegenüber der Praxis auszuspielen. Denn dies führt letztlich zu einer Hierarchiebildung, die nicht dem freundschaftlichen Nebeneinander von Kunst und Theorie entspricht. Auch wir missbrauchten fallweise unser Ich als Authentizitätsgarant, postulierten über dieses eine Beweiskraft, eine Objektivität, die ihm weder singulär und individuell zukam, und die das beschriebene und erschriebene Ereignis erst recht verfehlen musste. Dies ist indes weniger als Manko denn als Notwendigkeit zu verstehen, sofern Theorie und Kunst als jeweils eigene Episteme respektiert werden: Die Aufgabe jeglicher Theorie muss darin gesehen werden, sich einer weniger objektiven denn heterogenen und mannigfaltigen Sprache zu bedienen, in welche vielseitige Resonanzen und Reflexionen einfließen. Sie darf sich nicht scheuen, Widersprüche und Öffnungen bestehen zu lassen und mitunter auch im scheinbaren Abseits zu argumentieren. Denn nur wenn Abhängigkeiten und Machtgefüge, die mit jeder Subjekttheorie unweigerlich einhergehen, hinterfragt und subvertiert werden, kann das freundschaftliche Verhältnis von Subjekten und Objekten, von Darstellung und Beschreibung, von Kunst und Philosophie ausgelotet werden. 72 Lorenz Aggermann Gerade hierfür stand das Theorielabor: Ein Ort, an dem nicht nur das Experiment seinen Platz hatte, sondern an dem vor allem Verhältnisse neu bemessen, beurteilt und immer wieder auf die Probe gestellt wurden. Wesentlich hierfür war die Anlage und das Setting dieses Labors, welches Ausdehnung (gut zwei Jahre) und Konzentration (in den jeweils zwei, drei Tage dauernden Treffen) gleichsam ermöglichte. Die Ambivalenz und Heterogenität ergab sich zwangsläufig aus den unterschiedlichen Charakteren der beteiligten Forschenden. Die einzelnen Standpunkte wurden nicht selten durch das Gegenüber dekonstruiert oder ironisiert, verdreht und gewendet, neu zur Debatte gestellt. Hierüber wurden jene Parameter gefunden und besprochen, auf deren Basis sich ein konziser Austausch und ein Fortspinnen der Rede bewerkstelligen ließ. Darüber erzielten wir jene Stringenz, die von einer Theorie gemeinhin erwartet wird. Nur durch gemeinsames und zugleich reflexives Denken ließ sich ein dynamischer und polylogischer Diskurs entfachen. In diesem entsprach unsere wissenschaftliche Arbeit geradewegs jenen Anforderungen, die von anderen an das postmoderne, hybride Subjekt gestellt werden. 15 Wir: Das bessere Ich? Bei dieser Frage setzte regelmäßig Widerspruch ein. So wie die Frage nach der Möglichkeit, subjektive Erfahrung zu theoretisieren den steten Ausgangspunkt unseres Austausches markiert hatte, so stand in derselben Regelmäßigkeit die Frage nach dem Gemeinsamen dieser Arbeit an ihrem Ende, wandten sich die verschiedenen Ichs gegen das Wir. Denn diese wollten nicht in einer Gemeinschaft aufgehen, wollten nicht zu einem mythisches Konstrukt und somit letztlich unmöglich werden, setzt diese Vorstellung doch die Beliebigkeit des einzelnen Subjekts voraus. Weder Ich noch Du, sondern irgendeiner. Undifferenzierte und ständig exponierte Singularitäten, ohne Identität, ohne Individualität, ohne Subjektivität. 16 Wir wollten stattdessen einander freundschaftlich verbunden bleiben. Geradewegs in diesem Gestus stehen auch die vier Artikel dieser Reihe nebeneinander. Was uns die Freundschaft von Philosophie und darstellender Kunst auch und gerade heute lehrt, ist in der Tat: nichtich, nicht-wir. Wessen Subjekte wir auch immer sind: „er hat gut Rollen schreiben - wir machen im Spiel noch ganz andere daraus.“ 17 Anmerkungen 1 Diese Zeilen blicken zurück auf jene von der GTW und der MVUB unterstützte Zusammenarbeit im „Theorielabor Theater und Subjektkonstitution“ an der Universität Bern, bei welcher gemeinsam die gegenwärtige Theatertheorie und -praxis reflektiert wurde und deren Zwischenergebnisse auf dem Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 2010 vorgestellt wurden. 2 Ein geteiltes Subjekt taucht in der Philosophie seit Fichte (vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre, Hamburg 1997 [1794], S. 110) immer wieder auf. Die Prämisse der Dualität des Subjekts (Ich/ Nicht-Ich) durchzieht den deutschen Idealismus, findet sich aber ebenso in der zeitgenössischen Philosophie als auch verwandten Disziplinen wie der psychoanalytischen Kulturtheorie wieder. 3 Gerade im Falle des Subjektes ist Corpus der einzig mögliche Begriff: In seiner Mehrdeutigkeit zwischen Schrift und Körper changierend, verweist er ebenso auf eine historische Dimension wie Disposition, sowie auf seine Masse und sein Gewicht. Vgl. Jean-Luc Nancy, Corpus, Übersetzung von Nils Hodyas und Timo Obergöker, Berlin und Zürich 2003, S. 47. 4 So in etwa ließe sich Marcus Steinwegs These, dass nur die Freundschaft von Kunst und Philosophie eine Möglichkeit gewährt, dem Subjekt nahezukommen, resümieren. Vgl. 73 Über das Wir zum Ich. Rückblick auf eine Praxis, Ausblick auf eine Theorie Marcus Steinweg, Politik des Subjekts, Berlin 2009, S. 25 - 30. 5 Die bekannten, ersten Worte aus dem Johannes-Evangelium. 6 Vgl. Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/ Main 2001, S. 91. 7 Das wären subjekttheoretische Implikationen von Marcel Mauss, „Die Techniken des Körpers“, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie. Bd. 2, Frankfurt/ Main 1997, S. 199 - 206; Vilém Flusser, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdungen, Frankfurt/ Main 1998 und Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995.. 8 Vgl. Robert Pfaller, Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008. 9 Vgl. Steinweg 2009, S. 57. 10 Vgl. Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, in: Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg und Westberlin 1977, S. 108 - 153. 11 Vgl. Butler 1995. 12 Vgl. Werner Hammacher, „Afformativ, Streik“, in: Christiaan L. Hart-Nibbrig (Hrsg.), Was heißt »Darstellen? , Frankfurt/ Main 1994, S. 340 - 371, S. 349. 13 Vgl. Paul Zumthor, „Mündlichkeit/ Oralität“, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart und Weimar 2002, S. 234 - 255, S. 234. 14 Vgl. Gesa Ziemer, Verletzbare Orte. Entwurf einer praktischen Ästhetik, Berlin und Zürich 2008, S. 162. 15 Vgl. Peter V. Zima, Theorie des Subjektes. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen 2000, S. 368; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Göttingen 2006, S. 34. 16 Vgl. Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003, S. 78. 17 Ludwig Tieck, „Der gestiefelte Kater. Ein Kindermärchen in drei Akten mit einem Zwischenspiel“, in: Ludwig Tieck, Werke in einem Band, hrsg. von Peter Plett, Hamburg 1967, S. 243 - 304, S. 286. 74 Lorenz Aggermann