eJournals Forum Modernes Theater 27/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Dieser Artikel geht der Frage nach, wie Theatermacher zu unterschiedlichen Zeiten in je eigener Weise einen Begriff von ‚Musikalität‘ als wegweisend für ihr Theaterverständnis thematisiert haben. Musikalität wird hierbei als eine Art Dispositiv verstanden, das als Metapher, Modell oder Methode instrumentalisiert wird, um zu einer je eigenen dramatischen, darstellerischen oder inszenatorischen Qualität zu gelangen. Theaterschaffende wie JohannWolfgang von Goethe, Adolphe Appia, Wsewolod Meyerhold, Samuel Beckett, Joseph Chaikin, Heiner Goebbels oder Karin Beier haben dabei insbesondere auf drei Metaphern aus dem Diskurs um die Musikalität des Theaters rekurriert: der Regisseur als Dirigent, der Schauspieler als Instrument und die Aufführung als Partitur. Anhand ausgewählter Inszenierungen, Texte und Probenmethoden werden die je eigenen Herangehensweisen dieser Künstler untersucht und verglichen.
2012
271-2 Balme

Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten

2012
David Roesner
Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen David Roesner (München) Dieser Artikel geht der Frage nach, wie Theatermacher zu unterschiedlichen Zeiten in je eigener Weise einen Begriff von ‚Musikalität‘ als wegweisend für ihr Theaterverständnis thematisiert haben. Musikalität wird hierbei als eine Art Dispositiv verstanden, das als Metapher, Modell oder Methode instrumentalisiert wird, um zu einer je eigenen dramatischen, darstellerischen oder inszenatorischen Qualität zu gelangen. Theaterschaffende wie Johann Wolfgang von Goethe, Adolphe Appia, Wsewolod Meyerhold, Samuel Beckett, Joseph Chaikin, Heiner Goebbels oder Karin Beier haben dabei insbesondere auf drei Metaphern aus dem Diskurs um die Musikalität des Theaters rekurriert: der Regisseur als Dirigent, der Schauspieler als Instrument und die Aufführung als Partitur. Anhand ausgewählter Inszenierungen, Texte und Probenmethoden werden die je eigenen Herangehensweisen dieser Künstler untersucht und verglichen. Einleitung „Ich habe die Vermutung, daß allem und jedem Kunstsinn der Sinn für Musik beigestellt sein müsse“ 1 - diese und viele ähnliche Äußerungen findet man in Johann Wolfgang von Goethes Schriften. Er dokumentiert hierbei - als Theatertheoretiker und erfahrener Praktiker - ein Theaterverständnis, das einen Präzedenzfall für meine Untersuchung zur Frage der ‚Musikalität‘ des Theaters 2 aus poetologischer und praktischer Sicht liefert. 3 Bereits Goethe hatte nämlich eine überaus musikalische Auffassung vom Theater im Allgemeinen und von der Aufgabe des Schauspielers im Besonderen. In Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) heißt es über den Theaterleiter Serlo, den Goethe nicht selten als „Mundstück eigener Überzeugungen“ 4 gebraucht: Er liebte die Musik sehr und behauptete, daß ein Schauspieler ohne diese Liebe niemals zu einem deutlichen Begriff und Gefühl seiner eigenen Kunst gelangen könne. So wie man viel leichter und anständiger agiere, wenn die Gebärden durch eine Melodie begleitet und geleitet werden, so müsse der Schauspieler sich auch seine prosaische Rolle gleichsam im Sinne komponieren, daß er sie nicht etwa eintönig nach seiner individuellen Art und Weise hinsudele, sondern sie in gehöriger Abwechslung nach Takt und Maß behandle. 5 Es verwundert daher nicht, wenn wir über die Theaterarbeit Goethes, seine Einstudierung dramatischer Texte für das Weimarer Hoftheater - ich vermeide den Begriff der Regie, der als solcher noch nicht etabliert war - Folgendes von Pius Alexander Wolff berichtet bekommen: Die Weise, wie Goethe eine dramatische Dichtung auf die Bühne brachte, war ganz die eines Kapellmeisters, und er liebte es, bei allen Regeln, die er festsetzte, die Musik zum Vorbilde zu nehmen, und gleichnißweise von ihr bei allen seinen Anordnungen zu sprechen. Der Vortrag wurde von ihm auf den Proben ganz in der Art geleitet, wie eine Oper eingeübt wird. Die Tempis, die Fortes und Pianos, das Crescendo und Diminuendo usw. wurden von ihm bestimmt und mit der sorgfältigsten Strenge bewacht. 6 Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 52-66. Gunter Narr Verlag Tübingen Exemplarisch finden sich hier einige Metaphern, Modelle und Methoden der Musik, die sich für die Entwicklung des Theaterverständnisses der folgenden 200 Jahre als überaus folgenreich herausstellen sollten und dabei - und das ist die Hauptthese, die ich in diesem Beitrag verfolgen will - wesentliche Reformen und Innovationen des Theaters vorangetrieben haben. Dabei stellt sich natürlich die Frage, welches Musikverständnis der jeweilige Theatermacher 7 zu Grunde liegt und für welches Theaterideal es instrumentalisiert wird? Angelehnt an ein vielzitiertes Wort von Walter Pater - „All art constantly aspires towards the condition of music“ 8 - wäre also zu fragen: An welcher Art von Musik orientieren sich die Theatermacher jeweils und welche unterschiedlichen Ziele verfolgen sie? Ich werde diese hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit am Beispiel von drei Metaphern untersuchen, die besonders häufig im Diskurs um die Musikalität des Theaters fallen: der Regisseur als Dirigent, der Schauspieler als Instrument und die Aufführung als Partitur. Appia: Der Regisseur als Dirigent des inneren Wesens Adolphe Appia ist ein interessanter und geeigneter Einstieg für diese Untersuchung, da er zum einen in seiner Verehrung Wagners noch fest mit dem 19. Jahrhundert verbunden ist, zum anderen mit seinen überaus modernen Ideen zu den notwendigen Reformen von Schauspiel, Raum und Licht der Inszenierungsästhetik des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse verliehen hat. Zentral ist bei Appia die Idee, dass das Werk und die Intention des Dichters beziehungsweise des Dichter-Komponisten möglichst unverfälscht auf die Bühne gebracht werden müsse. Das Instrument der Wahl, um die ‚innere Essenz‘, wie er das in Anlehnung an Schopenhauer nennt, des Musikdramas auf die Bühne zu bringen, ist die musikalische Formung der Inszenierung: In sogenannten ‚rhythmischen Räumen‘ und unter musikalischem Einsatz von Licht als eigenständigem Ausdruckmittel soll auch die Leistung des Schauspielers durch klare musikalische Anweisungen über Rhythmus, Melodie und Geste gezügelt und veredelt werden. Appia drückt das so aus: Gerade die Musik bringt den Darsteller und die beweglichen und handhabbaren Inscenierungselemente einander näher, indem sie ersterem jede persönlich-willkürliche Lebensäußerung versagt, und letztere zu einem solchen Grade von Ausdrucksfähigkeit zwingt, daß sie nun in engste Beziehung zur menschlichen Gestalt zu treten vermögen. 9 In dieser Konstellation drängt sich die Idee des Regisseurs als Dirigenten förmlich auf: Bei Appia ist er zuvörderst eine Instanz der Kontrolle und seine Aufgabe vor allem eine musikalische. In der Musikgeschichte gibt es nun eine ganze Reihe von Dirigententypen 10 - vom sanften primus inter pares zum drakonischen Diktator -, auch war und ist natürlich die Idee und Struktur des Orchesters, des Arbeitsplatzes des Dirigenten, fortwährend Veränderungen unterworfen. Robin Maconi geht dabei soweit, das Orchester ein „compendium of civilizations“ 11 zu nennen. Er führt diesen Gedanken weiter aus: The symphony orchestra is a hybrid. Some instruments are old, some are relatively new. Some are for melody, some for noise; some are loud and some are soft; some are played with hands and some with breath; some are for singing and others for rhythm. There are instruments from the East and instruments from the West, some virtually unchanged from ancient times and other embracing the most up-to-date technology. 12 53 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen An orchestra is also a social microcosm. [. . .] We have been discussing an orchestra as an entity, a performing body. The achievement of unity under the conductor’s baton is the normally overriding impression conveyed of orchestral organization. Certainly up to the mid-eighteenth century, we are conscious of the orchestra being used as a grand ensemble and demonstrating the organizational skill necessary to co-ordinate large numbers of players and to integrate a number of different musical processes simultaneously. 13 Das Orchester hat also einen Übergang vollzogen - von einer vertikal organisierten Sozialhierarchie eines Ensembles, das in der Regel von einem Tasteninstrument aus geleitet wurde, hin zu einem komplexen, industriellen Model, bei dem Produktion und Zeitplanung in kleinere Einheiten und Arbeitsteiligkeiten aufgebrochen werden. 14 Diese kurze Kontextualisierung ist deshalb von Bedeutung, weil im Diskurs über die Musikalität des Theaters, wie ihn Theatermacher führen, alle Metaphern einer bestimmten historischen, kulturellen und individuellen Prägung entspringen. Die Verwendung des Begriffs des Dirigenten bei Appia korrespondiert daher mit einer Entwicklung dieser Rolle im 19. Jahrhundert, weg von einem Instrumentalisten, der ein Ensemble organisiert und koordiniert, hin zu einem hierarchisch und im wörtlichen wie übertragenen Sinne deutlich höher gestellten, genialischen Interpreten und Deuter von Musik. Im Unterschied zu Goethes Praxis besteht hier die Notwendigkeit für einen solchen ‚Inszenierungssouverän‘ nicht allein in der Führung von Schauspielern, sondern in der Koordination des komplexen Ausdrucksgefüges, das Appia mit der Metapher der ‚Partitur der Inszenierung‘ programmatisch benennt. Das Kunstwerk Wagnerscher Prägung, das ihm vorschwebt, macht es nötig, dass beim Regisseur alle Fäden zusammenlaufen und er mit Autorität den grundlegenden Vorbereitungen für die Inszenierung vorsteht wie ein „despotischer Exerciermeister“ 15 und „auf künstlichem Wege die Synthese der Darstellungselemente“ 16 herstellt. Dies bedeutet natürlich eine radikale Abkehr von der im 19. Jahrhundert noch verbreiteten Praxis einer lediglich die Proben organisierenden und dokumentierenden Regie. Bei aller Zentralität und Autorität der Regieposition, die Appia hier entwirft, ist dies nicht als Regietheater avant le lettre zu verstehen: Die totale Kontrolle, die Appia der Regie zuspricht, soll nicht einer Selbstvergrößerung des Regisseurs und seiner konzeptionellen Vision dienen, sondern einzig sicherstellen, dass die dramatische Vorlage als lebendiges Kunstwerk den Zuschauer im Innersten berühren und erwecken kann. Dabei würde sowohl ein sich selbst in den Mittelpunkt stellender Schauspieler - wie sie zu Appias Zeit die Bühnen vielfach bevölkerten - stören, als auch ein allzu ‚sichtbarer‘ Regisseur. Diesmal bemüht Appia eine kulinarische Metapher: „Die Zubereitung des Festmahls durch den Regisseur sollte vom Publikum nicht bemerkt werden, dem ausschließlich heiße und gut gekochte Speisen anzubieten sind.“ 17 Dies impliziert natürlich, um im Bild zu bleiben, auch unaufdringliche ‚Kellner‘, bzw. - um zu einem Topos der klassischen Musik zurückzukehren - ‚unsichtbare‘ Musiker, die möglichst wenig Interferenzen zwischen dem Komponisten und dem Hörer erzeugen. Dies war schon zu Appias Zeiten, in denen virtuose Selbstinszenierungen auf Konzert- und Theaterbühne gang und gäbe waren, nicht selbstverständlich. Meyerhold: Der Dirigent als Handwerker An der Frage zum Verhältnis von Regie, Schauspiel und Publikum setzt auch der 54 David Roesner russische Regisseur, Schauspieler und Theaterlehrer Wsewolod Meyerhold zwei Jahrzehnte später an. Auch ihm ist es darum zu tun, die Rollen von Schauspieler und Regisseur neu zu bestimmen, allerdings steht bei ihm nicht länger der Dramatiker an oberster Stelle - Meyerhold war bekannt dafür, beherzt in die Textvorlagen einzugreifen, diese neu zu strukturieren und zu arrangieren. Entgegen der Konvention, das Werk des Dramatikers und die Arbeit des Schauspielers durch die Tätigkeit des Regisseurs sichtbar werden zu lassen, was er als ‚Theater-Dreieck‘ bezeichnet, schwebt ihm ein ‚Theater der Geraden‘ (siehe Abb. 1) vor: Im ‚Theater der Geraden‘ lässt der Regisseur sein Schaffen, in das vorher das Schaffen des Autors eingeflossen ist [. . .], auf den Schauspieler übergehen. Nachdem der Schauspieler über den Regisseur das Schaffen des Autors in sich aufgenommen hat, stellt er sich dem Zuschauer [. . .] und öffnet ihm seine Seele. 18 In diesem Prozess einer zweifachen Inkorporation, Interpretation und Transformation wird die Metapher des Dirigenten problematisch, was Meyerhold wie folgt thematisiert: Im ‚Dreieck-Theater‘ enthüllt der Regisseur seinen Plan in allen Einzelheiten, bestimmt die Figuren, wie er sie sieht, legt alle Pausen fest und geht dann an die Proben, die so lange dauern, bis seine Konzeption aufs Genaueste und in allen Einzelheiten realisiert ist, bis er das Stück so hört und sieht, wie er es hörte und sah, als er allein daran arbeitete. Solch ein ‚Dreieck-Theater‘ ist mit einem Sinfonieorchester vergleichbar - der Regisseur ist hier der Dirigent. Aber das Theater selbst, dessen Architektur keinen Raum für ein Dirigentenpult des Regisseurs zulässt, deutet damit schon den Unterschied zwischen Dirigent und Regisseur an. 19 Der Schauspieler wird - zumindest in der Theorie Meyerholds - ein eigenständigerer, ko-kreativer Teil des Theaters. Seine Arbeit, so Meyerhold, müsse mehr leisten als dem Zuschauer das Konzept des Regisseurs zu vermitteln: „Ein Schauspieler kann sein Publikum nur inspirieren, wenn er sich in den Autor und Regisseur verwandelt.“ 20 Daran schließt sich bei Meyerhold ein Ausbildungskonzept an, das für Regisseure und Schauspieler gleichermaßen auf ein hohes Maß musikalischer Kompetenz zielt. Auf die Frage, welche Fähigkeiten einen Regisseur ausmachen, antwortet er: Die Schwierigkeit der Regiekunst ist, daß der Regisseur vor allem Musiker sein muss. Gerade er hat mit einem der schwierigsten Bereiche der Musikkunst zu tun, er erarbeitet die szenischen Bewegungen immer kontrapunktisch. [. . .] Würde man mich fragen: ‚welches Abb. 1: Theater-Dreieck und Theater der Geraden nach Meyerhold 55 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen Hauptfach in der Regie Fakultät einer zukünftigen Universität, welches Hauptfach müsste in das Programm dieser Fakultät aufgenommen werden? ‘ - so würde ich sagen: ‚Natürlich Musik.‘ Wenn ein Regisseur kein Musiker ist, dann ist er ja nicht im Stande, eine echte Aufführung zu erarbeiten. Eine echte Aufführung (ich meine nicht das Opern-Theater, die Theater des Musikdramas und der Musikkomödie -, ich meine sogar solches Sprechtheater, wo die ganze Aufführung ohne jegliche Musikbegleitung abläuft) kann nur ein Musiker in der Regie bauen. 21 „By employing principles of music“, argumentiert Dolja Dragasevic konsequenterweise, „Meyerhold professionalised theatre as an art form, as a discipline that needs to be studied and interpreted with its unique spatial and temporal rules“. 22 Es ist die Fähigkeit musikalischer Kognition 23 , die Meyerhold im Theaterprozess zentral zu etablieren sucht: von rhythmisch genau strukturierten biomechanischen Übungen bis zur Entwicklung einzelner Rollen oder Ensembles auf der Basis von musikalischen Repertoirestücken, die Charakter, Tempo und Struktur eines Auftritts vorgeben, bis sie in die Körper, Gesten, Bewegungen und Habitus der Schauspieler übergegangen sind. Für die Aufführung wurden diese Musikstücke in der Regel nicht mehr gebraucht. Eine solche „physical musicality“ 24 , wie Jonathan Pitches das nennt, soll in Meyerholds Trainings- und Inszenierungspraxis dem Schauspieler zweite Natur werden, verbunden mit physischer Geschicktheit, einem hohen Maß an dramaturgischem Reflexionsvermögen und der Fähigkeit zur Improvisation. Auf dem Weg dorthin soll der Schauspieler üben wie ein Instrumentalist: „An actor must study as a violinist does, for seven to nine years. You can’t make yourself into an actor in three to four years“. 25 Das musikalische Modell, so Béatrice Picon-Vallin, basiert sowohl in Bezug auf Regie und Schauspielen auf einem Ideal von technischem Verständnis, kontrolliertem und progressivem Training, einer einzigen Reihe an Gesetzmäßigkeiten und einem einzigen Vokabular. 26 Dies mag für den Alltag des Schauspielers eine allzu hehre und naive Idee sein; was Meyerhold jedoch über die musikalischen Metaphern eröffnet, ist ein vergleichsweise entmystifizierter Blick auf die Profession des Theaters (gerade, wenn wir es mit zeitgleichen Schriften von Vakhtangov oder Stanislawski vergleichen, die doch immer wieder zum Verschwarmeln neigen 27 ). Meyerhold betont das Handwerkliche und hatte eine Abneigung gegen „künstlerischen Schamanismus“ 28 , wie Michail Gnesin, einer seiner festen Schauspieler, berichtet. Mit Appia und einigen anderen Vertretern der historischen Avantgarde, wie z. B. Georg Fuchs, verbindet ihn die auf den ersten Blick paradox anmutende gedankliche und dann auch praktizierte Volte, das Theater retheatralisieren zu wollen, das Mittel der Wahl dazu aber in seiner Schwesterkunst, der Musik, zu suchen. Ein vergleichbarer Impuls - jedoch verbunden mit einem ganz anderen Musikverständnis - ging knapp ein halbes Jahrhundert später in den 60er und 70er Jahren von der englischsprachigen Theaterwelt aus, wo das Thema der Musikalität im Zuge neuer Reformbestrebungen auf beiden Seiten des Atlantiks wieder in Mode kommt - zwei kontrastive Beispiele seien dabei herausgegriffen: Samuel Beckett und Joseph Chaikin. Becketts Instrumente Auch bei Beckett werden aufgrund seiner akribischen Probenarbeit - seiner sprachlichen-rhythmischen Reduktion, den präzise gesetzten Pausen und der formalen Stren- 56 David Roesner ge - die Metaphern des Stücks als Partitur 30 und des Schauspielers als Instrument häufig bemüht. Beckett-Forscherin Mary Bryden konstatiert: „Whether read aloud or silently, Beckett's careful words resemble elements of a musical score, coordinated by and for the ear, to sound and resound.“ 31 Und der Theatermacher George Devine formuliert ganz ähnlich: One has to think of the text as something like a musical score wherein the ‚notes‘, the sights and sounds, the pauses, have their own interrelated rhythms, and out of their composition comes the dramatic impact. 32 Becketts Stück Play (UA: 1963) ist ein konkretes Beispiel hierfür: In Play, everyday banality is orchestrated like a musical score: characters respond to the light as to a conductor; stage directions about tempo, volume, and tone; and instructions for a repeat, da capo. 33 In Anthony Minghellas kongenialer Filmversion des Stücks wird der dirigierende Scheinwerfer, der in der Bühnenversion drei Sprechern in mannshohen Urnen das Wort erteilt (siehe Abb. 2), durch filmische Mittel ersetzt: Schnitte übernehmen hier den Rhythmus der Wortwechsel und gleichzeitig spielt Minghella mit anderen materiellen Gegebenheiten des Films (siehe Abb. 3 und 4): Rauschen, Unstimmigkeiten im Schnitt, Reißschwenks und Kadrierungskorrekturen, ‚schmutziges‘ Leerband, vermeintliche Projektionsfehler usw. - eine ganze Palette an ‚Rauheit‘ bzw. ‚Körnigkeit‘ des Films im Sinne Roland Barthes‘, die insgesamt zum Eindruck einer getrieben und gleichzeitig auf der Stelle tretenden Musikalität beiträgt. Schon bei Beckett ist diese Musikalität viel mehr als nur eine Metapher: Sie konstituiert vielmehr eine ganz konkrete Probenpraxis. Beckett brachte nicht selten ein Metronom mit auf die Probenbühne, um das Tempo für Sprache oder Bewegung präzise kontrollieren zu können und gab den Darstellern am Klavier bestimmte Töne vor, an denen sich ihre Sprachmelodie orientieren sollte. 34 Er verwendet die in der Musik etablierte italienische Terminologie für seine Regieanweisungen 35 und hatte, wie sich die Schauspielerin seiner Wahl Billie Whitelaw erinnert, eine Präferenz zu inszenieren, indem er ihre Sätze dirigierte. 36 Sie vergleicht daher den Effekt, eine Figur Becketts zu spielen, immer wieder damit, ein Musikinstrument zu werden. Kevin Branigan erörtert dabei das Ziel dieser Konstellation: „The purpose of such an instrumental cha- Abb. 2, 3 und 4: Stills aus Anthony Minghellas Film Play nach Samuel Beckett (2001) 29 57 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen racter was to act as a resonating channel for the music without seeking to comment upon or interpret the text“. 37 Während die Instrumenten-Metapher historisch deutlich weiter zurückgeht, zum Beispiel auf den französischen Schauspieler des 19. Jahrhunderts Constant Coquelin (1841 - 1909) 38 , basiert sie dort auf der Vorstellung einer Dualität: Der Schauspieler sei eben Instrument und Instrumentalist zugleich. In Becketts Theater ist es, den Beschreibungen seiner Akteure zu Folge eher so, dass sie sich von Beckett „gespielt oder gesungen“ fühlen. 39 Dennoch sollte man differenzieren: Trotz aller Affinität dramatischer Texte zur Musik ist es immer noch so, dass im Drama kaum je das Maß an Präzision und Detaildichte in Bezug auf die geplante Ausführung vorzufinden ist, wie es den meisten musikalischen Partituren westlicher Kunstmusik - wie sie auch für Beckett Vorbild waren - selbstverständlich zu eigen ist. Der interpretative Spielraum ist beim Theatertext immer noch ungleich größer. Man darf aber gleichzeitig nicht unterschätzen, welche Signalwirkung die Auffassung des Theaterstücks und/ oder des Aufführungstextes als Partitur hat und hatte: Sie rückt die Simultaneität und Polyphonie theatraler Vorgänge ins Bewusstsein, zwingt zur Beschäftigung mit Form und Struktur, erinnert an die Möglichkeit rhythmisch präzisen Zusammenspiels, an die Lautlichkeit und klangliche Expressivität von Sprache und die Chancen einer Darstellungsästhetik, die eher von außen nach innen arbeitet. Der Schauspieler sucht hier also nicht im emotionalen Gedächtnis nach Auslösern für analoge Gefühle, aus denen heraus dann Tonfall, Geste, Bewegung resultieren, sondern übt wie ein Musiker eine präzise Form ein und füllt diese dann soweit an, dass sie beim Zuschauer entsprechende emotionale, somatische, geistige oder sonstige Resonanzen auszulösen vermag. Bei Beckett führte der Weg dabei über ein an seinen Vorbildern Beethoven, Schubert, Haydn, Brahms, Zwölftönigkeit und Serialität geschultes Ohr für formale Strenge, als auch über eine Tendenz zur Minimalisierung bis hin zur völligen Stille, die nicht zuletzt im Kontext von John Cage und später auch in konkreter Zusammenarbeit mit Morton Feldman entstand. 40 Joseph Chaikin: Theater im Jazz Habitus Der Kontrast zum US-amerikanischen Regisseur, Schauspieler und Schauspiellehrer Joseph Chaikin, der etwa 20 Jahre nach Becketts Warten auf Godot und Endspiel sein Open Theater in New York zu einigem Ruhm führte, könnte kaum größer sein, auch wenn er ein großer Bewunderer Becketts war und eine der ersten Produktionen des Open Theaters sich eben Becketts Endspiel widmete (1969). Chaikins musikalisches Modell war ein anderes: der Jazz. Nicht zufällig bezeichnete er seine Probenarbeit als ‚jamming‘ und versuchte durch eine pulsierende, synkopische Rhythmizität und musikalisch inspirierte Improvisationstechniken eine Art von Ensemblespiel zu initiieren, das ein Höchstmaß an Präsenz in einem emergenten Prozess freisetzen konnte. Seine Jazzmusikalität zielte auf ein Theaterverständnis, das stark auf kollektiver Kreativität 41 und Prozesshaftigkeit beruhte. Um so mehr mag es verblüffen, dass in seinem Katalog gruppendynamischer Übungen ausgerechnet die Idee des Dirigenten wieder auftaucht - dieses vermeintlichen Erzvertreters von Autorität und Interpretationshoheit. Auf den ersten Blick scheint das unvereinbar und doch sagt Chaikin-Schauspieler Robert Pasolli: „The single most important ensemble device of the Open Theater is the ‚conductor‘“. 42 Die Chaikin Expertin Eileen Blumenthal erläutert: 58 David Roesner The most subtle, and interesting, of Chaikin’s attempts to unite the ensemble in one dynamic were his ‚conductor‘ exercises. Performers were to tune directly into someone else’s energy without imitating the form of the other’s action. [. . .] One performer initiated a gesture and/ or sound with a distinct rhythm and tone; the others then tried to meet it with different gestures and/ or sounds of their own that have the same pulse and feeling as the original. Sometimes the conductor worked with sounds alone and the others only with movement, or vice versa. 43 Es ist ganz deutlich, dass dieser Begriff von „Dirigieren“ wenig zu tun hat mit einer europäischen Tradition, in der wir bei einem Dirigenten an Toscanini, Furtwängler oder Karajan denken. Der Dirigent (der hier übrigens immer mit Anführungsstrichen geschrieben wird) ist keine Instanz von Autorität und besitzt kein interpretatorisches Monopol über den musikalischen oder dramatischen Text; er hat keine Regiefunktion, sondern eine Ensemblefunktion. Alle Schauspieler übernehmen diese Rolle im Wechsel als Stimulus. Während sich klassische Dirigenten innerhalb eines relativ fest kodierten Systems von Anweisungen und gestischen Symbolen bewegen, die auf Klarheit und Unmissverständlichkeit zielen, verwenden Chaikins ‚conductors‘ den ganzen Körper, um rhythmische Impulse zu senden, denen die anderen Mitspieler mit je eigenen Bewegungs- und Lautassoziation begegnen, keine Anweisungen ausführen, sondern lediglich versuchen, Puls und Gefühl 44 des ‚conductors‘ aufzunehmen und zu transformieren. Entscheidend ist dabei auch, dass jeder mal Dirigent ist und es sogar eine Übung gibt, die „conductorless conductor“ 45 heißt, bei der eben niemand Bestimmtem diese Rolle zufällt, sondern die ganze Gruppe versucht, einen kontinuierlichen Fluss an musikalisch-gestischen Impulsen auszusenden und auf sie zu reagieren. Es ist sicher nicht ganz zufällig, dass die Begriffe ‚Dirigent‘ und ‚conductor‘ unterschiedlichen Etymologien entstammen: So kann man ‚dirigere‘ mit lenken, bestimmen, richten, steuern übersetzen, während ‚conducere‘ eher zusammenführen, zusammenziehen bedeutet und im Englischen interessanterweise auch im Sinne elektrischer Leitfähigkeit verwendet wird und somit eine Durchlässigkeit für Energie beschreibt; ebenfalls eine Idee und Metapher, die im Schauspielunterricht und auf der Theaterprobe immer noch ein oft zitiertes Ziel ist. Erklärte Absicht und Hauptinteresse von Chaikins Musikalität sind daher „to heighten the sense that living people are sharing immediate fleeting moments - to emphasize presence“ 46 . Er definiert diesen gleichermaßen ubiquitären wie häufig wolkig verwendeten Begriff des Darstellungs- Diskurses 47 , ‚Präsenz‘, als eine Qualität, „that makes you feel as though you’re standing right next to the actor, no matter where you’re sitting in the theatre“. 48 Es ist also eine Eigenschaft, die sich über den Effekt definiert, den sie hat, und die so ephemer ist, wie das Theater selbst. Er grenzt seine Präsenzvorstellung dabei auch von einem teleologischen Ideal, von einem erreichbaren und kommerzialisierbaren Ziel ab: The industrial mainstream of society is always a pressure to make us ‚achievers‘, to make of us ‚goods‘. Many of our appetites are developed by the industrial society, and most of our models are not picked by us. We are trained and conditioned to be ‚present‘ only in relation to the goal. 49 Jazzmusikalität als musikalische Praxis und lebensweltlicher Habitus, denen das Credo eingeschrieben ist, im Hier und Jetzt zu sein und der Flüchtigkeit des kairotischen Moments gewahr zu werden, dient Chaikin dabei als Model und Vehikel einer anderen, einer selbstgenügsamen Präsenz. 59 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen Heiner Goebbels: Dem Dirigenten misstrauen Noch ein letzter Sprung in die jüngste Vergangenheit bzw. Gegenwart sei unternommen: ‚Theater als Labor‘, ‚Postdramatik‘, ‚Intermedialität‘, ‚Verfransung der Künste‘ sind die Schlagworte; die Idee der Partitur des Theaters ist nach wie vor in regem Umlauf, allein, die Metapher des Dirigenten scheint einer allgemeinen Autoritätsskepsis weitgehend zum Opfer gefallen zu sein, auch wenn vielen Regisseurinnen und Regisseuren wieder bescheinigt wird, musikalisch zu inszenieren. Es ist daher durchaus programmatisch, dass zum Beispiel in Heiner Goebbels’ szenischem Konzert von 1998 Eislermaterial - eine Hommage an den Komponisten und politischen Kopf Hanns Eisler - das Bühnenzentrum, das der Dirigent als Protagonist eines solchen Konzerts einnehmen müsste, frei bleibt. Goebbels lehnt diese Zentrierung, dieses Einschwören der Zuschauer auf eine Perspektive, auf einen Fixpunkt und auf eine Interpretation ab und beschwört dies vielfach in seiner Ästhetik der Abwesenheit 50 . Markiert wird dies in Eislermaterial durch eine kleine Eisler-Figur, die als Platzhalter im Bühnenzentrum aufgestellt ist (siehe Abb. 5 und 6), aber aufgrund ihrer geringen Größe und mangelnden Lebendigkeit die Abwesenheit des Dirigenten natürlich nur noch stärker akzentuiert. Die Musiker sind darüber hinaus über eine relativ große Distanz und entgegen ihrer Stimmgruppenzugehörigkeit positioniert (siehe Abb. 5), was selbst für das erfahrene Ensemble Modern bedeutet, dass ihnen durch die bewusst erschwerte musikalische Kommunikation eine gesteigerte Aufmerksamkeit und Präsenz abgefordert wird. In dieser und in vielen anderen seiner Arbeiten kehrt Goebbels zudem die alte Metapher vom Schauspieler als Instrument doppelt um: Zum einen werden bei ihm Instrumentalisten zu Schauspielern (oder zumindest zu Performern, denn die Idee einer Als-ob-Ästhetik, die wir mit dem Begriff des Schauspielens vielleicht immer noch verbinden, greift bei ihm nicht). Sie sprechen Text, agieren szenisch, tragen Kostüme und treten so in einen liminalen Zustand zwischen Musiker und Darsteller ein: Wir können sie nicht mehr ‚nur‘ als reine Tonerzeuger lesen, deren theatrale Präsenz wir qua Konvention ignorieren dürfen (wie das zumindest als Idee immer noch für Musiker im klassischen Konzert gilt 51 ), und sie sind noch nicht die Verkörperungsathleten, die in eine Rolle schlüpfen und mit dieser verschmelzen, wie es immer noch das hartnäckige Ideal der psychologischen Schauspielkunst ist. Abb. 5 und 6: Das leere Bühnenzentrum in Goebbels’ Eislermaterial mit kleiner Eisler-Figur (Screenshots der Fernsehaufzeichnung des HR). 60 David Roesner Zum anderen inszeniert Goebbels auch nicht selten Instrumente selbst als eigenständige Mitspieler, die sich im polyphonen Geflecht seiner musiktheatralen Experimente behaupten, wie eine japanische Koto in Schwarz auf Weiß (1996), die unter einem System aus Karabinern und Schnüren liegend von einem Kulissenscharnierstift gespielt wird (siehe Abb. 7). In Eraritjaritjaka (2004), einer - wie Wolfgang Rathert das nennt - szenischen Verrätselung vielfältiger Musik- und Textbezüge aus Canetti-Zitaten und Streichquartetten des 20. Jahrhunderts, 52 gibt es eine Passage, die Goebbels’ Misstrauen dem Dirigenten gegenüber (und damit auch: dem Regisseur Peymannscher oder Steinscher Prägung, deren egomanischen Umgang mit dem Theater er immer wieder kritisiert) explizit auf den Punkt bringt: Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten. [. . .] Der Dirigent hält sich für den ersten Diener an der Musik. [. . .] Der Dirigent steht. Die Aufrichtung des Menschen als alte Erinnerung ist in vielen Darstellungen der Macht noch von Bedeutung. Er steht allein. Um ihn herum sitzt sein Orchester, hinter ihm sitzen die Zuhörer, es ist auffallend, daß er allein steht. Er steht erhöht und ist von vorn und im Rücken sichtbar. Vorne wirken seine Bewegungen aufs Orchester, nach rückwärts auf die Zuhörer. Die eigentlichen Anordnungen gibt er mit der Hand allein oder mit Hand und Stab. Diese oder jene Stimme weckt er plötzlich zum Leben durch eine ganz kleine Bewegung, und was immer er will, verstummt. So hat er Macht über Leben und Tod der Stimmen. 53 Er verwandelt Canettis beißende Kritik am Dirigenten als Alphatier in eine theatrale Satire und einen Kampf des Einzelnen gegen die Gesellschaft, die hier in Form der bürgerlichen Institution des Streichquartetts auftritt, an dieser Stelle aber ausnahmsweise schweigt. Der Dirigent ist seines Klangkörpers beraubt; er ist ein Alphatier ohne Rudel. Abb. 7: Japanische Koto in Heiner Goebbels’ Schwarz auf Weiß (Frankfurt 1996) (Screenshot der ARTE Übertragung der Filmversion des Stücks). 61 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen Karin Beier: Das Unbehagen der Demokratie in der Kultur Auch bei Karin Beiers Projekt Demokratie in Abendstunden (Köln 2011), dessen Ausgangssituation lose auf Fellinis Film Die Orchesterprobe (Prova d’orchestra, 1978) basiert, sind Dirigent und Orchester Teil der Bühnenfiktion. Zusammen mit dem Musiker Jörg Gollasch webt Beier hier ein intertextuelles Netz aus Protesttexten, Manifesten von Joseph Beuys, John Cage, Rainald Goetz und landet im zweiten Teil bei Elfriede Jelineks Kein Licht: ein wortspielerisch-philosophischer Versuch über Fukushima, ein „Geisterszenario nach dem Super-GAU“ 54 . Szenisch bewegt sich der Abend zwischen Stand-up Comedy, Konzertkabarett, instrumentalem Theater im Sinne Mauricio Kagels und einem kakophonen Happening mit fliegenden Notenblättern und sehr viel Farbe (siehe Abb. 8). Realisiert wird das Ganze von einem gemischten Ensemble aus Schauspielern und Orchestermusikern, zu deren vertraglichen Verpflichtungen es gehörte, den Schauspielern während der Probenzeit Instrumentalunterricht zu geben: Schauspielen und Musizieren, visuelles und akustisches Material, Musik und Lärm, Text und Klang werden hier auf einer großen Palette immer wieder neu gemischt, laufen ineinander und ergeben ein farbenreiches Tableau über die Ästhetik des Protests und das Unbehagen der Demokratie in der Kultur. Wolfgang Pregler als manipulativer Dirigent vertritt und verkörpert dabei ein kontroverses Kunst- und Musikverständnis - zum Publikum gewandt spricht er: Ich weiß gar nicht, was Sie haben. Ein Taktstock ist doch kein negatives Instrument, sondern ein technisches Hilfsmittel, das die Sache erleichtert. Wenn sie Orchestermusiker fragen, was ihnen lieber ist, sagen sie immer: der Stock, der Stock. Es gibt keine Demokratie zwischen Dirigent und Orchester. Wenn etwas nicht klappt, ist es immer allein meine Schuld. 55 Kann Kunst nur in autokratischen Strukturen entstehen oder gibt es, wie es beispielsweise das oben erwähnte Ensemble Modern als selbstverantwortliche GmbH exemplifiziert, auch die Chance künstlerische Qualität gerade in modellhaften sozialen Mikrokosmen zu erreichen? Karin Beiers Inszenierung bietet keine abschließende Wertung oder Beantwortung dieser Frage an. Abb. 8: Karin Beiers Demokratie in Abendstunden (2011). Der Bühnenraum zwischen Orchesterprobensaal und Happening (Screenshot des Videomitschnitts des Schauspiel Köln) Kagels zentrale Idee seines sogenannten ‚instrumentalen Theaters‘, Bewegung, Gesten und Momente theatraler Figuration in die Konzertsituation mit hinein zu komponieren, findet bei Beier ein aktuelles Pendant: Der Begriff des Komponierens und Instrumentierens erweitert sich auf das Bühnengeschehen insgesamt, und verbindet, wie auch bei Kagel, musiktheatrale Form mit Satire und Sozialkritik. 56 Schauspieler und Musiker sind aber nicht nur Instrumente zur Ausführung eines präexistenten Werks, sondern konstituieren dieses erst durch ihre je eigenen, höchst individuellen ‚Instrumentaleigenschaften‘. Dies mündet, so erklärte mir Jörg Gollasch, in eine modulare Dramaturgie, die sich aus einzelnen Bausteinen zusammensetzt, wel- 62 David Roesner che wiederum auf den musikalisch-szenischen Angeboten der Performer basieren. Diese Bausteine werden ihrerseits eher aus musikalischen denn narrativen oder diskursiven Beweggründen zusammengesetzt, miteinander verschnitten, überlagert und rhythmisch verzahnt. Dabei spielt diese Inszenierung - sowohl in ihrer Entstehung als auch ihrer Thematik und Ästhetik - permanent mit den Hierarchien und Rollenzuschreibungen des Theater- und Konzertbetriebs und unterläuft damit die vermeintlich so klare Ausgangssituation des Orchesters als einem bestimmten Soziotop. Nicht untypisch für etliche Theaterformen der Gegenwart finden wir Musikalität also nicht mehr als normative Größe, die das Theater qua ihrer formalen Strenge, emotionalen Direktheit, abstrakter Logik oder energetischer Spiellust revitalisieren soll, sondern als ein eklektisches Netz von Bezügen und Verfransungen (um nochmals Adornos an sich kritisch gemeinten Begriff ins Positive zu verkehren), die der Suche, was Theater und Musik heute eigentlich sind und was sie noch vermögen, dienlich sein sollen, ohne jedoch auf klare Antworten zu zielen. Musikalität ist hier keine Methode oder Metapher mehr, sondern eine fragende, experimentierende Praxis, die es sich lohnt weiter zu untersuchen und zu analysieren. Anmerkungen 1 Johann Wolfgang von Goethe zit. in Hedwig Walwei-Wiegelmann (Hrsg.), Goethes Gedanken über Musik. Eine Sammlung aus seinen Werken, Briefen, Gesprächen und Tagebüchern, Frankfurt/ Main 1985, S. 65. 2 Ich verwende den Begriff der Musikalität im Folgenden im Sinne eines Dispositivs. Angelehnt an Michel Foucaults Definitionen, meint Musikalität also einen Komplex aus Diskursen, sozialen, kreativen, kognitiven, perzeptiven und institutionellen Vektoren und Rahmungen. Musikalität ist damit nicht im alltagssprachlichen Sinne eine individuelle Begabung, sondern eine Qualität der Wahrnehmung, des Tuns und des Denkens, die sich die materiellen, prozessualen und performativen Spielarten von unterschiedlichen Formen von Musik anverwandelt und auf Prozesse des Schreibens, Probens, Spielens, Ausstattens, Beleuchtens und Inszenierens von Theater überträgt. Siehe auch: Jeffrey Bussolini, „What is a Dispositive? “, Foucault Studies 10 (2010), S. 85 - 107; David Roesner, „Musikalität als ästhetisches Dispositiv: Analogien und Transfers“, in: Roberto Nigro, Elke Bippus und Jörg Huber (Hrsg.), Ästhetik x Dispositiv. Die Erprobung von Erfahrungsfeldern, Zürich, Wien und New York 2012, S. 195 - 206 und David Roesner, Musicality in Theatre - Music as Model, Method and Metaphor in Theatre- Making, Farnham 2014. 3 Ausführlicher nachzulesen unter David Roesner, Musicality in Theatre, London und New York 2014. 4 Hellmut Ammerlahn, Imagination und Wahrheit: Goethes Künstler-Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre”. Struktur, Symbolik, Poetologie, Würzburg 2003, S. 152. 5 Johann Wolfgang von Goethe zit. in Walwei- Wiegelmann 1985, S. 65. 6 Pius Alexander Wolff in seinen Aufzeichnungen Über den Vortrag im Trauerspiel, zit. in Dieter Borchmeyer, „‚Saat von Göthe gesäet . . .‘. Die ‚Regeln für Schauspieler‘ - ein theatergeschichtliches Gerücht“, in: Wolfgang F. Bender (Hrsg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren, Stuttgart 1992, S. 261 - 287; hier: S. 275. 7 In diesem und ähnlichen Fällen meine ich die weibliche Form genauso, verzichte aber zugunsten besserer Lesbarkeit auf die Nennung beider. 8 Walter Pater, The Renaissance. Studies in Art and Poetry, Oxford und New York 1986 (1873), S. 87. 9 Adolphe Appia, Die Musik und die Inscenierung, München 1899, S. 35. 63 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen 10 Anekdotisch und unterhaltend vergleicht Itay Talgam unterschiedliche Führungsstile anhand bekannter Dirigentenpersönlichkeiten in seinem TED talk von 2009: http: / / www.ted.com/ talks/ itay_talgam_lead_like_ the_great_conductors.html [30. 07. 2015]. 11 Robin Maconi, The Concept of Music, Oxford 1990, S. 57. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 59 - 60. 14 Siehe ebd. 15 Appia 1899, S. 42. 16 Ebd. 17 Adolphe Appia, „Theatrical Experiences and Personal Investigations (1921)”, in: Richard C. Beacham (Hrsg.), Texts on Theatre, London/ New York 1993, S. 22 - 28 und S. 161 - 166, S. 161. 18 „The actor freely reveals his soul to the spectator after having incorporated the work of the director, just as the director had incorporated the work of the author“. Vsevolod Meyerhold, aus „On the Theatre“. Translated by Nora Beeson, The Tulane Drama Review, 4/ 4 (1960), S. 134 - 148, S. 142 19 Meyerhold zit. in: Jens Roselt, Regie-Theorien, Berlin 2014, S. 304. 20 Meyerhold 1960, S. 134 - 148, S. 143, meine Übersetzung. 21 Vsevolod Meyerhold, Vsevolod Meyerhold: Theaterarbeit 1917 - 1930, hrsg. von Rosemarie Tietze (München, 1974), S. 175 - 177. 22 Dolja Dragasevic, Meyerhold, Director of Opera. Cultural Change and Artistic Genres, PhD Doctoral Dissertation, Goldsmith College 2005, S. 347. 23 Ich würde außerdem argumentieren, dass einige der Sensibilitäten und Fähigkeiten, die Meyerhold im werdenden Schauspieler auszubilden sucht, insbesondere ein Bewusstsein für und eine Kontrolle über zeitlich-rhythmische Prozesse, durchaus dem vergleichbar sind, was Musikwissenschaftlerin Mary Louise Serafine als Elemente musikalischer Kognition beschreibt. Gerade die Biomechanik als zentrales Element des Trainings bei Meyerhold besteht aus stilisierten, ausgeprägt rhythmischen Bewegungssequenzen, die oft zu musikalischer Begleitung geübt werden, die zur Präzision beitragen soll und bei der Verinnerlichung der musikalischen Proportionen in Länge und Dynamik hilft. Siehe dazu: Kelli Melson, The Practice and Pedagogy of Vsevolod Meyerhold’s Living Legacy of Actor Training: Theatrical Biomechanics, PhD, Exeter 2009. Das trainiert musikkognitive Aspekte im Bereich der „Sukzession zeitlicher Prozesse“ und beinhaltet die Fähigkeiten zu „idiomatic construction“, „motivic chaining“, „patterning“ and „phrasing“ (Mary Louise Serafine, Music as Cognition. The Development of Thought in Sound, New York 1988, S. 74 - 77). Musikalisch-rhythmische Kognition wird so für den Schauspieler ein integraler Teil des Kreierens, Beherrschens und Wiederholbarmachens von Bewegung und Figur im Zuge des Inszenierungs- und Probenprozesses. 24 Jonathan Pitches, Vsevolod Meyerhold, London 2003, S. 97. 25 Meyerhold in: Aleksandr Konstantinovich Gladkov, V. Ė Meĭerkhold und Alma H. Law, Meyerhold speaks, Meyerhold rehearses, Amsterdam 1997, S. 108. 26 „The musical model, regarding both directing and acting, is based on an ideal technical understanding, controlled and progressive training, a single set of laws and a single vocabulary.“ Béatrice Picon-Vallin, „Meyerhold’s Laboratories“, in: Mirella Schino (Hrsg.), Alchemists of the Stage. Theatre Laboratories in Europe, Holstebro, Malta und Wroclaw 2009, S. 119 - 139, S. 135. 27 Vakhtangov schreibt zum Beispiel: „The essence of creativity lies in ‚the richness of an actor's soul and his ability to reveal this richness‘ before the audience“ (zit. in Andrei Malaev-Babel, The Vakhtangov Sourcebook, London 2011, S. 21). 28 Gnesin in Gladkov 1997, S. 65. 29 Siehe Anthony Minghella, Play, 2001, https: / / vimeo.com/ 28766126 [01. 08. 2015]. 30 Siehe auch Sophia Totzevas Kapitel „Der dramatische Text als Partitur“, in: Sophia Totzeva, Das theatrale Potential des dramatischen Textes: Ein Beitrag zur Theorie von Drama und Dramenübersetzung, Tübingen 1995, S. 64 - 67. 64 David Roesner 31 Mary Bryden (Hrsg.), Samuel Beckett and Music, Oxford 1998, S. 2. 32 Devine in Catherine Laws, „The Music of Beckett’s Theatre“, in: Danièle De Ruyter- Tognotti et. al. (Hrsg.), Three Dialogues Revisited (Samuel Beckett Today), Amsterdam 2008, S. 121 - 133, S. 121. 33 C. J. Ackerley und S. E. Gontarski, The Grove Companion to Samuel Beckett, New York 2004, S. 393. 34 Danijela Kulezic-Wilson, „From Musicalisation of Theatre to Musicality of Film: Beckett’s Play on Stage and on Screen“, in: Lynne Kendrick und David Roesner (Hrsg.), Theatre Noise. The Sound of Performance, Newcastle upon Tyne 2011, S. 33 - 43, S. 37 35 Ruby Cohn in Laws, ‚The Music of Beckett’s Theatre‘, S. 121. 36 Whitelaw in ebd., S. 121. Siehe auch W. D. Asmus, „Practical aspects of theatre, radio and television. Rehearsal notes for the German premiere of Beckett’s That Time and Footfalls at the Schiller-Theater Werkstatt, Berlin (1. 9. 76)“, Journal of Beckett Studies, 2 (1977) [Online], http: / / www.english.fsu.edu/ jobs/ num02/ Num2WalterAsmus.htm [28. 02. 2012]. Asmus beschreibt hier detailliert Becketts Probenprozess für die deutsche Inszenierung von Footfalls (1977). 37 Kevin Branigan, Radio Beckett. Musicality in the Radio Plays of Samuel Beckett, Oxford 2008, S. 217, meine Hervorhebung. 38 Siehe Robert Gordon, The Purpose of Playing: Modern Acting Theories in Perspective, Ann Arbor 2006, S. 102. 39 Sie fühlen sich ‚being played or sung by Beckett‘. Bryden, Samuel Beckett, S. 44. 40 Feldman schriebt 1977 die „Oper“ Neither, basierend auf Becketts Vorlage: Die Zusammenarbeit entstand unter anderem aus einer gemeinsamen Antipathie der Kunstform Oper gegenüber. In Words and Music von 1987 nach Becketts Hörspiel von 1962 ist es dann bezeichnenderweise ein sechsmal wiederholter „rap of baton on stand“ (Schlag mit dem Dirigierstab auf das Notenpult), der eine wesentliche strukturelle Unterteilung bewirkt. 41 Siehe auch R. Keith Sawyer, Group Creativity. Music, Theater, Collaboration, Mahwah (NJ) und London 2003; Stephan Porombka, Wolfgang Schneider und Volker Wortmann (Hrsg.), Kollektive Kreativität. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis. Tübingen, 2006; Hajo Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters: Chorkörper - Probengemeinschaften - theatrale Kreativität, Bielefeld 2009. 42 Robert Pasolli, A Book on the Open Theatre, New York 1970, S. 26, meine Hervorhebung. 43 Eileen Blumenthal, Joseph Chaikin: Exploring at the Boundaries of Theater, Cambridge und New York 1984, S. 74, Hervorhebung im Original. 44 Ebd., S. 74. 45 Pasolli 1970, S. 28. 46 Blumenthal 1984, S. 71. Es ist interessant festzustellen, dass es im Falle Chaikins nicht darum geht, eine besonders ‚glaubwürdige‘ oder realitätsnahe Darstellung zu erzielen, wie dies im zeitgleich sehr einflussreichen ‚method acting‘ der Fall ist. Ziel ist also nicht zuförderst die Representation einer (fiktionalen) Figur, sondern das, was Blumenthal ‚presentational performing‘ (ebd., S. 79, meine Hervorhebung) nennt: „Chaikin has experimented with several quasitheatrical forms that acknowledge the reporter along with the report. Storytelling, singing, and interviews all involve someone addressing others here and now but testifying about something that may be from another time or even another mode“ (ebd., S. 79). Die Musik, so Blumenthal, „has provided Chaikin with a general model and tool for drawing theater into more subtle and abstract types of address“ (ebd., S. 97). 47 Für ein breiteres Spektrum an Präsenzkonzepten im Bereich von Theater und Performance siehe u. a. Gabriella Giannachi, Nick Kaye und Michael Shanks (Hrsg.), Archaeologies of Presence, London 2012, darin insbesondere die Kapitel von Rebecca Schneider und Phillip Zarrilli. 48 Joseph Chaikin, The Presence of the Actor, New York 1972, S. 20. 49 Ebd., S. 65. 65 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen 50 Heiner Goebbels, Ästhetik der Abwesenheit, Berlin 2012. 51 Siehe Christopher Small, Musicking: The Meanings of Performing and Listening. Hanover 1998. 52 Siehe Wolfgang Rathert, „Musikalisches Vexierbild oder Meisterwerk? Reflexionen zu Heiner Goebbels’ Eraritjaritjaka“, in: Jürgen Schläder (Hrsg.), Das Experiment der Grenze, Berlin 2009, S. 189 - 206. 53 Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 453 - 454. 54 Siehe http: / / www.br.de/ radio/ bayern2/ sendungen/ hoerspiel-und-medienkunst/ hoerspiel-jelinek-keinlicht100.html [04. 02. 2015]. 55 Zit. nach dem Aufführungsmitschnitt des Schauspiel Köln, 2011. 56 Ich habe Jörg Gollasch im May 2012 in Köln interviewt, wobei er von einem dezidierten Interesse Karin Beiers und ihm selbst an Mauricio Kagels und John Cages Philosophien und Praktiken sprach. 66 David Roesner