eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 47/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2018
471 Gnutzmann Küster Schramm

Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz:

2018
Ivo Steiniger
© 2018 Narr Francke Attempto Verlag 47 (2018) • Heft 1 I VO S TEININGER * Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz: Der fremdsprachliche Literaturunterricht als persönlichkeitsbildender Lernort Abstract. An entire chapter of the Common European Framework of Reference (CEF) is devoted to the general competences of the individual as a language learner. However, general competences in the CEF are presented without any apparent reference to the scales of the communicative activities that, undoubtedly, represent the most prominent and popular parts of the CEF among users. For the field of teaching literature, also marginalised in the scales and descriptors of the CEF, the general competences and especially the so-called “’existential’ competence” are of interest. Assuming this perspective, it is the main aim of the paper to indicate to what extent the use of authentic literary texts in the EFL classroom fosters the development of the general competences of learners. Using learner interviews as a starting point, potentials of aesthetic education and personalgrowth while working with literary texts in the foreign language are under scrutiny. Conclusions derived from this analysis are then used to formulate conditions under which literary learning and personal-growth of learners can be combined successfully. 1. Einführung Literarische Texte spielen im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) so gut wie keine Rolle. Es werden zwar „kreative und ästhetische Aktivitäten“ (E UROPARAT 2001: 61) aufgelistet, eine differenzierende Auseinandersetzung mit literarischen Leseleistungen bleibt allerdings aus (vgl. S TEININGER 2014: 33-39). Genauso fehlt eine Integration literarischer Texte in die Skalen zu den kommunikativen Aktivitäten. Erwähnung finden sie lediglich in der Skala zum allgemeinen Leseverstehen, und dann ausschließlich auf der höchsten Niveaustufe C2 (vgl. ebd.: 74f.). An dieser Marginalisierung ändert auch der als Lippenbekenntnis zu wertende Verweis auf literarische Lehr- und Lerninhalte wenig: „Literarische Studien dienen nicht nur rein ästhetischen, sondern vielen anderen erzieherischen Zwecken - intellektuell, moralisch und emotional, linguistisch und kulturell. Es bleibt zu hoffen, dass Lehrende, die auf allen Stufen mit literarischen Texten arbeiten, in diesem Referenzrahmen möglichst viele für sie wichtige Abschnitte finden, die ihnen helfen, ihre Ziele und Methoden transparent zu machen.“ (ebd.: 62) * Korrespondenzadresse: Dr. Ivo S TEININGER , Vertretungsprofessor, Universität Paderborn, Institut für Anglistik, Didaktik der englischen Sprache, Warburgerstr. 100, 33098 P ADERBORN E-Mail: Ivo.Steininger@upb.de Arbeitsbereiche: Fremdsprachliche Literaturdidaktik, Sprachbewusstheit, fachdidaktische Kompetenzen Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 57 47 (2018) • Heft 1 „Ziele und Methoden transparent zu machen“ (ebd.) kann aus literaturdidaktischer Perspektive mit dem Wenigen, was man im Referenzrahmen zu literarischen Lese- und Verstehensprozessen findet, schlichtweg nicht gelingen. 1 Eher ist das Gegenteil der Fall: Mit Hilfe von literaturdidaktischen Zielsetzungen kann transparent gemacht werden, was dem GeR zwar konzeptuell zu Grunde liegt, aber innerhalb der Skalen zu den sprachlichen Aktivitäten keine Repräsentation erfährt; nämlich, dass „alle menschlichen Kompetenzen zur Kommunikationsfähigkeit“ beitragen (E UROPARAT 2001: 103). Eine zentrale Rolle nehmen dabei die allgemeinen Kompetenzen ein. Diese umfassen vier Wissensarten, bestehend aus deklarativem Wissen (savoir), Fertigkeiten und prozeduralem Wissen (savoir-faire) sowie persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen (savoir-être) und Lernfähigkeit (savoir-apprendre). Obwohl diese Wissensbestände und dazugehörigen Fähigkeiten und Fertigkeiten dargelegt werden, „gibt es für sie im GER keine Deskriptoren, sodass sie nicht über Skalen fassbar werden“ (H ARSCH 2006: 30). Gerade in Anbetracht der gesellschaftspolitischen Zielsetzung des GeR (vgl. E UROPARAT 2001: 8-14) ist verwunderlich, dass die allgemeinen Kompetenzen lediglich in den Kompetenzbeschreibungen der Sprachverwendenden zum Tragen kommen, spielte doch B YRAMS (1997) ICC-Konzept in den Vorarbeiten des Europarats zum GeR in den Jahren 1996 und 2000 eine tragende Rolle (vgl. B URWITZ -M ELZER 2003: 66-72). Tatsächlich bleiben in den Referenzniveaus und den Skalen zu den kommunikativen Aktivitäten „das interkulturelle Lernen und die plurikulturelle Kompetenz - das Fremdverstehen - ausgeblendet“ (C HRIST 2003: 65). Zu finden sind diese zentralen fremdsprachendidaktischen Aspekte (vgl. B REDELLA 2007, 2010) ausschließlich in den allgemeinen Kompetenzen. Gerade die persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen (savoir-être) sind eine zentrale Domäne der fremdsprachlichen Literaturdidaktik. Unterteilt werden sie im GeR in Einstellungen, Motivation, Wertvorstellungen, Überzeugungen, kognitiver Stil und Persönlichkeitsfaktoren (vgl. E UROPARAT 2001: 106) und werden als „Summe der individuellen Eigenschaften, der Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen verstanden“ (ebd.: 23). Durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten können eben diese persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht 1 Dies ändert sich mit dem 2017 veröffentlichen CEFR Companion Volume with new Descriptors (Provisional Edition) zum GeR (Council of Europe 2017) - allerdings nicht ohne ‚Wermutstropfen‘: Zwar ist die Berücksichtigung literarischer Texte nun in einer Skala zu „reading as a leisure activity“ (ebd.: 64f.) als Ergänzung zu den rezeptiven Aktivitäten zu finden, auch Filme werden berücksichtigt (cf. ebd.: 65f.). Handlungs- und Kommunikationsanlässe mit literarischen Texten werden aber bemerkenswerterweise im Ergänzungsband unter „mediation activities“ (ebd.: 99-128) ausgeführt. Zu finden sind zwei Skalen zu „expressing a personal response to creative texts (including literature)“ (ebd.: 113) sowie „analysis and criticism of creative texts (including literature)“ (ebd.: 114). Eingang finden damit Aspekte des literarischen Rezeptionsprozesses sowie der analytischen und interpretativen Auseinandersetzung mit literarischen Texten. Bezogen auf die Zielsetzungen der fremdsprachlichen Literaturdidaktik aber, diese Prozesse zielsprachlich zu verhandeln, ist die Einordnung als „mediation activity“ m.E. verwunderlich. Da in der vorläufigen Auflage des Ergänzungsbandes die Verbindung zwischen den kommunikativen Aktivitäten und den persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen nicht weiter herausgestellt wird, wird für die weitere Argumentation die Fassung des GeR von 2001 verwendet; nicht zuletzt aufgrund dessen Verbreitung, Bekanntheit und Einflusses auf die deutschen bildungspolitischen Dokumente. 58 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 gefördert werden. Sie sind auch zentrale Bestandteile des von Michael B YRAM formulierten ICC-Modells (vgl. 1997: 34ff.). 2. Bezugssystem Mensch: Vom Anspruch auf literarische Texte im Fremdsprachenunterricht Die Tatsache, dass literarische Texte im Fremdsprachenunterricht im Zuge der outcome-Orientierung im Bildungswesen sowohl im GeR als auch in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache für den Mittleren und den Hauptschulabschluss (KMK 2004, 2005) marginalisiert wurden, stellt nicht nur aus literaturdidaktischer Sicht ein Problem dar. Ausgehend von einem fachlichen wie überfachlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag als Befähigung zum selbstständigen Denken und Handeln, stellen literarische Texte Inhalte für den Unterricht bereit, die das ‚Selbst‘ betreffen. Sie präsentieren also Menschliches, sind dabei auf das Denken der Lesenden angewiesen und leiten im Unterricht Handlungen ein, die fremdsprachlich kommunikativ angelegt sind. Literarische Texte haben demzufolge nicht nur einen ästhetisch-kulturellen Wert, sondern auch einen anthropologischen: Sie handeln von Menschen, sind von Menschen gemacht und an Menschen gerichtet. Um dieses Argument weiter zu verfolgen, sei ein zusätzlicher Gedankengang eingebracht - jener der Narrativität. Die klassische Unterteilung literarischer Gattungen erweiternd, können literarische Texte in Anlehnung an die Texttypologie Seymour C HATMANS (1990: 115) als erzählende Texte gefasst werden. Entweder sind literarische Texte als Erzählungen diegetisch angelegt, wie dies bei Romanen, Kurzgeschichten und Epen als lyrischen Vertretern der Fall ist, oder aber sie sind mimetisch realisiert, wie man es in Dramen, Filmen, Comics oder Graphic Novels finden kann (vgl. ebd.). Diese in der strukturalistischen Erzähltheorie fußende Gliederung, in der das Kriterium für Narrativität vor allem in der dargestellten Veränderung begründet liegt (vgl. S CHMID 2008: 2), kann als Ausgangspunkt dafür genutzt werden, die Begriffe der Narration und Erzählung zu erweitern. Narrativität bzw. erzählende Charakteristika als Konstante literarischer Texte anzuerkennen, zieht literaturdidaktische Zielsetzungen nach sich, die insbesondere auf deren Bedeutung für die Konstruktion von Identität zielen (vgl. S TEININ - GER / B ASSELER 2011: 106f.). Davon ausgehend, dass Erzählen ein menschliches „Muster der Formgebung“ (N EUMANN 2005: 160) darstellt, dass der Mensch ein „story-telling animal“ (M AC I NTYRE 1984: 201) ist, kann die Auseinandersetzung mit Narrativität, mit literarischen Texten per se als Auseinandersetzung mit einer kulturellen Universalie (vgl. B ARTHES 1988: passim) gewertet werden. Durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Unterricht erhält Entsprechung, was in den bildungspolitischen Dokumenten zum Fremdsprachenlernen als persönlichkeitsbildende Komponente angeführt wird (vgl. KMK 2004, 2005, 2012; E UROPARAT 2001). Durch die Beschäftigung mit narrativen Strukturen rückt zudem die Formung menschlicher Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 59 47 (2018) • Heft 1 Erfahrungsbilder durch die Aktualisierung individueller und sozialer Dimensionen des Erzählens in den Blick (vgl. H ARTUNG / S TEININGER / F UCHS 2011: 11ff.): Sowohl für die individuelle als auch die gesellschaftliche Identitätsbildung spielen Erzählungen eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. N EUMANN / N ÜNNING / P ETTERSON 2008). Die Auseinandersetzung mit Erzählungen, mit Erzähltem, mit Narrationen und Narrativität im Fremdsprachenunterricht ist von dieser Warte aus betrachtet eine Auseinandersetzung mit anthropologischen Konstanten. Damit geht die pädagogisch-didaktische Zielsetzung einher, den Lernenden Teilaspekte und Prozesse verstehend zugänglich zu machen und somit deren rezeptive wie produktive Fähigkeiten im Umgang mit Narrationen zu fördern: „Narrative knowing is a fundamental mode of understanding by which people make sense of their own and others‘ actions and life events“ (P OLKINGHORNE 1996: 77). Literarische Texte können als Bindeglied zwischen den eigenen Erfahrungen, Handlungen, Lebensläufen und denen anderer dienen. Durch die Rezeption wird es den Lesenden möglich, den durch literarische Texte eröffneten potentiellen Erfahrungsraum zu erkunden und mit dem eigenen in Bezug zu setzen. Dass dadurch Bildungsprozesse initiiert werden, zeigt sich im unten stehenden Interviewausschnitt. 2 Die ca. 15-jährigen Lernenden wurden nach der Auseinandersetzung mit einer Kurzgeschichte im Englischunterricht danach gefragt, welches Lernpotential in Geschichten steckt: I 3 (zieht Luft ein) Ähm also, Fi-Figuren in der Geschichte, die Handlungen durchleben, ja, meint ihr dass - davon kann man was lernen, wenn man die sich anguckt, wenn man die betrachtet? S 1 Hm, ich denke, man kann immer, wenn man sich irgendwie in andere Personen reinversetzt und dann auch diese Sichtweise vielleicht ein bisschen übernimmt, immer was draus lernen. I Mhm. S 13 Also wegen der Ä-Kultur würd ich sagen, bleibt natürlich ne Geschichte mehr bei hängen, aber ansonsten, über menschliches Verhalten würd ich jetzt gar nichts sagen, nö. I Mhm. S 13 Kann man sich auch so ausdenken. 9: 33 Es ist schwer, weil in ganz vielen Geschichten unterschiedlich gehandelt 2 Der Ausschnitt entstammt den Datensätzen der Studie Modellierung literarischer Kompetenz. Eine qualitative Studie im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I (S TEININGER 2014; insbesondere 120-202). Im Anschluss an mit der Lehrkraft gemeinsam geplante und videographierte Unterrichtseinheiten mit literarischen Texten wurden ausgewählte Lernende gebeten, an einem retrospektiven Interview teilzunehmen. In den Interviews standen Verstehensprozess und insbesondere die Einsichtnahmen der Lernenden in ihre Verstehensprozesse beim Lesen im Vordergrund. Um eine Metaebene einleiten zu können, wurden die Interviews auf Deutsch geführt (zu den Besonderheiten des Datensatzes siehe S TEI - NINGER 2014: 105f.; 185-195). 3 I = Interviewer - S = Schülerin 60 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 S 15 wird. Man me-sieht zwar auch, die haben jetzt sagen wir mal so gehandelt, und mal so. Aber ich für mich hab jetzt nie gesagt, boah, so wie die jetzt gehandelt hat, so würde ich auch handeln. Das ist - hatte ich eigentlich noch nie so wirklich. I Und das Gegenteil? S 15 Dass ich sage, ich würd nie so handeln? I Ja. S 15 Ja, wenn ich jetzt ne Geschichte lese, zum Beispiel, wo dann, keine Ahnung, ein Freund verraten wird, in so ner Situa-würd ich sagen, oh, das hätte ich jetzt vielleicht net gemacht, oder ich hätt’s anders gemacht. Ja, aber, ähm, das ist jetzt vielleicht nur, wenn man so drüber liest, weil-das war-das stand schon vorher fest, das wurde, eh, net durch die Geschichte erst klar, dass ich das nie tun würde. I Mhm. S 15 Das ist-sind so Prinzipien, die man eigentlich schon vorher hat. S 3 Ja, ich denk mal bei ner Kurzgeschichte ist das immer auch relativ schwierig, also ich find, wenn man nen - Roman liest, oder halt n längeres Buch, ähm, findet man eigentlich fast immer ne Person, mit der man sich identifizieren kann. I Ja. S 15 Das stimmt. S 3 Und so was halt in Geschichte zu finden, find ich - eigentlich mit am Wichtigsten. Weil - man wird dann eigentlich durch ne andere Person in die Situation reinversetzt, in die man selbst eigentlich nie kommen könnte. 9: 35 I Mhm. S 3 Und so kann man halt doch was lernen, denke ich. Tabelle 1: Interviewausschnitt G10 I (9: 32 - 9: 35) Insgesamt äußern sich vier Lernende zu der Frage zum Lernpotential von Erzählungen. S 1 führt explizit einen zentralen literaturdidaktischen Begründungszusammenhang an, indem die Schülerin auf die in Erzählungen enthaltenen Perspektiven zu sprechen kommt. Von ihr als ‚reinversetzen‘ bezeichnet, klingt neben der Perspektivenübernahme auch das Empathievermögen der Schülerin als Leserin an. Interessant ist die diskursive Entwicklung darauf innerhalb der Sequenz. S 13 erwähnt das Textthema 4 als kulturelles Bezugssystem und führt an, dass die kulturellen Themen- 4 Bei dem im Unterricht behandelten Text handelt es sich um die Kurzgeschichte Ta-Na-E-Ka der unter Pseudonym arbeitenden Autorin Mary W ITHEBIRD (1994). Erzählt wird vom Initiationsritus der Kaw-Indianer in den 1940er Jahren. Mary und ihr Cousin Roger müssen mehrere Tage in der Wildnis überleben. Mary befolgt die Regeln nicht, sondern verbringt die Tage in einem Diner. Im Zentrum der Erzählung steht die Verhandlung der Frage, ob Marys Form des Ritus’ von ihrem Großvater als Häuptling des Stammes als ‚moderne‘ Variante akzeptiert wird. Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 61 47 (2018) • Heft 1 bereiche durch die erzählerische Präsentation und Vermittlung - im Vergleich zu einer nicht-literarischen - leichter zugänglich und nachhaltiger seien. Die Aussage von S 13 ist im Kontext der Fragestellung so zu interpretieren, dass die Relevanz der erzählten Handlungen und Erfahrungen weniger verallgemeinernd im ‚menschlichen Verhalten‘ als in den Handlungen im literarisch konstruierten kulturellen Bezugssystem zu finden ist. Dass die erzählerisch vermittelte Erfahrung immer auf das eigene Bezugssystem der Lesenden trifft, dass präsentierte Erfahrungen in Relation zum eigenen Erfahrungshorizont gesetzt werden, wird jedoch von S 15 betont. Von und an literarisch vermittelten Erfahrungen zu lernen, bedeutet demnach auch, dass das eigene Wertesystem sowie ethische Handlungsrichtlinien am Erzählten überdacht werden. Genutzt werden kann die erzählte Erfahrung dafür, neue Blickwinkel auf Situationen zu entdecken (wie in der Aussage von S 1 ), Handlungen in unbekannten Bezugssystemen kennenzulernen (S 13 ) oder den literarisch präsentierten Handlungen durch eigene Wirklichkeitserfahrung bzw. durch Abgleich mit den individuellen Wertvorstellungen zu widerstehen - wobei im Zusammenhang mit der Aussage von S 15 auch die angedeutete Selbstvergewisserung als Bildungsprozess gewertet werden kann. Erweiterung finden diese Aspekte in der Äußerung von S 3 . Die Schülerin gibt zu bedenken, dass in längeren erzählenden Texten mit einem größeren Repertoire an (runden und komplexen) Charakteren die Identifikation leichter falle - worauf auch S 15 zustimmend reagiert. S 3 wertet in der darauf folgenden Anmerkung diese Möglichkeit der literarischen Identifikation als sekundären Erfahrungsraum. In ihrer Aussage scheint auf, dass Lesende durch die erzählerische Vermittlung und durch die Übernahme literarischer Perspektiven Erfahrungen machen können, die ihnen ansonsten nicht zugänglich wären. Dass sie daraus etwas lernen könne, hebt die Schülerin abschließend hervor. Mit der Interviewsequenz kann nur angedeutet werden, wie Schülerinnen und Schüler zu einem mit literarischen Texten arbeitenden Fremdsprachenunterricht stehen. Im Verlauf der Argumentation soll dieser Standpunkt der Lernenden erneut aufgegriffen und mit den in den folgenden Abschnitten untersuchten Bezugssystemen abgeglichen werden. Als Überleitung zum Bereich der ästhetischen Bildung im Fremdsprachenunterricht sei hier angemerkt, dass das von den Lernenden in der Interviewsequenz Angesprochene auf ästhetische Erfahrungen zu beziehen ist. 3. Bezugssystem Ästhetik: Vom Resonanzraum literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht Im Verständnis des philosophischen Pragmatismus’ lässt sich die „ästhetische Erfahrung als eine besondere Phase herausheben“, eine Phase, die es ermöglicht „Freude an der Vollendung, am Ergebnis eines Unternehmens fassen und den dienstbaren Dingen sowie den Teilakten etwas von Lust und Befriedigung mitteilen zu können, die das gelingende Vollbringen durchströmen“ (M EAD 1999: 345). Für John D EWEY 62 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 (1980: 68) ist die ästhetische Erfahrung eine aus der Distanz gemachte, wobei der „Betrachter Schöpfer seiner eigenen Erfahrung sein“ müsse. Für die fremdsprachliche Literaturdidaktik ist dieser Zusammenhang aus zweierlei Gründen von Interesse. Zum einen kann damit Ästhetik im Sinne der Wissenschaft des sinnlich Wahrnehmbaren auf die Lebenswelt auch jener bezogen werden, die nicht kunstschaffend tätig sind. Mit D EWEY (ebd.: 59) ist dieser Zusammenhang so zu verstehen, „daß die Ästhetik nicht von außen in die Erfahrung eindringt, weder über eitlen Luxus noch über eine transzendentale Idealität, sondern daß sie die geläuterte und verdichtete Entwicklung von Eigenschaften ist, die Bestandteil jeder normalen ganzheitlichen Erfahrung sind“. Damit ist die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht eine Gelegenheit für die Lernenden, auf zielsprachige und zielkulturelle Produkte zu treffen, die über diese verdichteten Eigenschaften verfügen (vgl. hierzu B REDELLA 2002: 164-175). Auf diesem Wege kann die Erfahrung mit literarischen Texten ihr Lernpotenzial entfalten. Für den Literaturunterricht bedeutet dies, die lesende und verstehende Auseinandersetzung mit literarischen Texten holistisch anzulegen. Damit ist gemeint, dass die von M EAD formulierten Teilakte im Unterricht zu einem Ganzen gefasst werden, indem die Lesenden rezeptiv wie produktiv im Unterricht gefordert werden. Dabei sollte den Lernenden durch die handlungsorientierte Kommunikation erfahrbar gemacht werden, dass sie aufgrund ihrer Schöpfungsakte dazu beitragen, Erfahrung im Sinne ästhetischer Erfahrung entstehen zu lassen; denn ihre Mitwirkung ist integraler Bestandteil für „das gelingende Vollbringen“ (M EAD 1999: 345). Die unten stehende Interviewsequenz ist dem Datensatz derselben Gruppe entnommen, die auch schon im ersten Ausschnitt zu Wort kam. Die Lernenden reagieren auf die Frage, woran man die Glaubwürdigkeit der unterrichtlich behandelten Erzählung festmachen könne. Dabei sprechen sie Themenbereiche an, welche die Natur der ästhetischen Erfahrung im Hinblick auf Anknüpfungspunkte zu alltäglicher Erfahrung herausstellen. S 22 Es ist bestimmt nicht so passiert, aber es könnte passieren. S 15 Ja es könnte. I Mhm. S 22 Es wäre schon realistisch. S 15 Ja es könnte 9: 28 S 22 Dass sowas mal passiert, aber ich denke jetzt nicht, dass es jetzt irgendwie wirklich passiert ist, dass es dann die Geschichte einfach so noch mal aufgeschrieben ist, wie es einer gemacht hat. I Ja. S 3 Und ich mein, dass man das halt glaubt - gut, das ist halt die Kunst vom Geschichteschreiben, also, wenn man ein Buch schreibt, sollte man das schon können, dass man’s hinkriegt, dass die Leute einem glauben. I Mhm…wie erzählt sie denn, die Mary? Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 63 47 (2018) • Heft 1 S 3 Ja, aus ihrer Sicht halt. I Mhm. S 3 So, dass es halt für den Leser einfacher ist, sich in sie reinzuversetzen, und das dann halt - mitzuerleben. S 13 Sie bringt auch Gefühle rein, am Anfang, dass sie Angst vorm Ta-Na-E-Ka. I Ja. S 13 Und das würde ich - sagen, macht nicht jeder darein. Also, wenn das jetzt - na klar, fiktiv ist es, aber wenn’s jetzt nicht passiert wäre, dann - und das sich einer erfunden hätte, würde nicht sagen, dass der unbedingt so viele Gefühle da rein bringt. I Mhm. S 22 Ja, würd’s auch - wär’s außenstehend geschrieben, so ohne Mary in der Ich-Form, dann wär’s auch nicht so interessant gewesen - 9: 29 I Wär’s nicht so interessant? S 22 Ja, und durch die ganzen Gefühle und so konnte man sich viel besser reinversetzten und so. I Mhm. S 22 Das macht ja keinen Sinn, wenn man dann schreibt, das Mädchen ging in das Restaurant, und - ja, und blieb da: I Mhm. S 22 Das - da denkst du, (betont) ok, ja, dann macht’s das halt. I Mach das. Lachen S 15 Und auch diese Frage, wenn, also kurz bevor sie zurückkehrt, ja, werden sie es merken, was ja, hoffentlich nicht, das - das das kriegt man nicht so aus einer anderen Perspektive hin. Die Perspektive war richtig gewählt in der Geschichte. Tabelle 2: Interviewausschnitt G10 I (9: 27-9: 30) S 22 reagiert als erste auf die Frage und kommt auf die Fiktionalität der Erzählung zu sprechen, die sie als glaubwürdig charakterisiert, indem sie einen Rahmen zum möglichen Erfahrungsgehalt mit Lebensweltbezug aufspannt. S 22 antwortet darauf bestätigend und es kommt mit der Äußerung von S 3 ein Aspekt zur Sprache, der sich auf literarische Produktion bezieht. In Umberto E COS Aufsatz Die ästhetische Botschaft (1999) wird dieser Zusammenhang aus semiotischer Perspektive als Bezug von Erwartungssystem und Code erstellt: Die ästhetische Botschaft (hier: der Erzählung) muss „etwas geschehen lassen, was uns überrascht, etwas, was über unsere Erwartungen hinausgeht“ (ebd.: 405). Und gleichzeitig, „damit dieses Ereignis akzeptiert wird und wir uns mit ihm identifizieren können, muß es, während es unglaublich erscheint, gewissen Bedingungen der Glaubwürdigkeit gehorchen; es muss eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben“ (ebd.). 64 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 Auf die Frage nach der Erzählperspektive spricht S 3 von der Möglichkeit für Lesende, die in der Erzählung präsentierte Erfahrung entlang der durch die Ich- Erzählung eröffneten Innensichten nachvollziehen zu können. S 13 greift dies auf. Die Schülerin führt als weitere Beispiele die durch die Innensicht vermittelten Gefühle an und formuliert mit „wenn’s jetzt nicht passiert wäre“ eine Reaktion auf die Erzählung, die zwar nicht aus ihrer eigenen Realitätserfahrung stammt, die aber dennoch mit ihrem Erwartungssystem zu resonieren scheint. S 15 führt daraufhin an, dass er die Erzählperspektive für die richtige halte, da sie ihm im Zusammenhang mit den anderen im Text entwickelten Perspektiven und den in den Handlungen der Charaktere durchscheinenden Motiven und Beweggründe als einsichtsvoll erscheint. Damit die ästhetische Botschaft Wirkung entfalten kann, muss sie auf eine ästhetische Haltung der Lernenden treffen. Diese zu aktivieren, vorzubereiten und durch unterrichtliche Schritte einzuleiten, ist m.E. die zentrale literaturdidaktische Aufgabe. Die ästhetische Haltung bzw. die ästhetische Einstellung wird von Nelson G OODMAN wie folgt charakterisiert (1999: 569): „Sie [die ästhetische Erfahrung; IS] erfordert feine Unterscheidungen und das Erkennen subtiler Beziehungen, eine Identifizierung von Symbolsystemen, von Zeichen innerhalb dieser Systeme und eine Identifizierung dessen, was diese Zeichen denotieren und exemplifizieren; sie erfordert Interpretation von Werken und Rekonstruktion der Welt von den Werken her und der Werke von der Welt her. Viele unserer Erfahrungen und viele unserer Fähigkeiten kommen hier ins Spiel und werden durch diese Begegnung verändert. Die ästhetische ‚Einstellung‘ ist ruhelos, wißbegierig, prüfend - sie ist weniger Einstellung als vielmehr Handlung: Schöpfung und Neuschöpfung“. Gerade der Aspekt der Schöpfung und Neuschöpfung, die es dann auf das literarische Werk und die eigene Wirklichkeitserfahrung zu beziehen gilt, steht in einem engen Zusammenhang zu den Handlungs-, Produktions- und Kommunikationsanlässen im fremdsprachlichen Unterricht. In der unten stehenden Sequenz sprechen die Lernenden diese Aspekte an und kommen auch auf jene Bereiche zu sprechen, welche die „Freude an der Vollendung, am Ergebnis eines Unternehmens fassen“ (M EAD 1999: 345). 9: 03 I Ähm, jetzt wo ihr gesagt habt (räuspert sich) in dem Restaurant wurd‘ nicht viel erzählt, das war ja eine Schreibaufgabe, gell, dass man weiter die - Erlebnisse der Mary schreiben sollte...War das gut? Fandet ihr-konntet ihr da selber noch einen Aspekt in die Geschichte einbringen? S 3 Ja, also die Geschichte ist ziemlich dankbar für die Englischlehrer, weil viele Schreibaufgaben, weil halt relativ wenig drin stand, konnten wir halt relativ viel creative writing machen. […] S 15 Aber, es war - man konnt schöne Sachen schreiben, vor allem weil alles offen war. Auch das Thema an sich, dieses Überleben im Wald und dieses ganze Ritual, das ließ viele Möglichkeiten offen. 9: 04 Ich fand‘s auch interessant. Also, so weiterschreiben finde ich immer ziemlich Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 65 47 (2018) • Heft 1 S 22 spannend, so. Das gefällt mir immer richtig gut eigentlich, und dann ja, kann man sich gut austoben. I Kannst du sagen, warum dir das gut gefällt? S 22 Hm - weil es einfach interessant ist, wenn man das Ende noch nicht weiß und dann selbst erst mal ein Ende schreibt, und dann erst - richtig das erfährt, was passiert ist. Dann am Schluss, wenn man dann die Geschichte fertig liest. S 3 Ja, wobei ich bei der Geschichte jetzt halt auch fand, von dem - wir haben ja dann immer weiter geschrieben und dann wurden die Ergebnisse ja in der Klasse präsentiert - I Ja. S 3 Die fand ich immer ziemlich gut, und dann war ich - wo wir dann - die Geschichte gekriegt haben, wie es wirklich weitergeht, fand ich es immer ein bisschen enttäuschend. I Ja (unverständlich) S 3 Weil die Ideen insgesamt viel besser waren als, als - wie die Geschichte wirklich geschrieben war. Tabelle 3: Interviewausschnitt G10 I (9: 03-9: 05) Auf die Frage, wie die Lernenden die Schreibaufgabe zu den im Text enthaltenen Leerstellen im Unterricht erlebt haben und retrospektiv einordnen, reagiert S 3 als erstes. In der Äußerung der Schülerin scheint ihre Erfahrung mit Unterricht durch, bezeichnet sie doch die Leerstellen als „ziemlich dankbar für die Englischlehrer“, da man sie als Schreibanlässe nutzen könne. S 15 äußert sich dazu und geht in seiner Aussage als Begründung für das Gelingen der Schreibaufgabe auf die Offenheit und die thematischen Anknüpfungspunkte im literarischen Text ein. Darauf reagiert S 22 , indem sie in ihrer Aussage den Ausgangstext mit der eigenen Schreibhandlung bzw. die fortgeführte Narration mit den im literarischen Text enthaltenen Strukturen in Verbindung setzt. Sie stellt dabei heraus, dass die eigene Produktionsleistung das Rezeptionsverständnis beeinflusse und das Interesse intensiviere. Die Schülerin S 3 nimmt dies zum Anlass, auf die in der Klasse präsentierten Lernertexte zu sprechen zu kommen. Sie hebt hervor, dass ihr viele der Texte gefallen haben und dass sie gerade die eigene Schöpfung im Verhältnis zur Rezeption als Reibungspunkt erfahren habe, da ihr etliche der präsentierten Narrationen besser gefallen hätten als der Ausgangstext. Von der Schülerin implizit angesprochen, kommt hier die Haltung eines an den Schöpfungs- und Rekonstruktionsleistungen der Lernenden interessierten Unterrichts zur Sprache. Die Lernertexte wurden gewürdigt und von der Klasse bzw. vom Kurs als Interpretationsgemeinschaft in die sinnstiftenden Zusammenhänge einbezogen, aufgegriffen und mit dem Bezugstext abgeglichen. Solche ästhetische Erfahrungen sind im Unterricht darauf angewiesen, dass es den Lernenden ermöglicht wird, dem Text im Sinne einer angemessenen sprachlichen und literarischen Auseinandersetzung (vgl. C ASPARI / S TEININGER 2016) auf Augenhöhe zu begegnen. Auf diese Weise wird ihnen zugetraut, die eigenen Produktionsleistungen 66 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 in einen literar-ästhetischen Kontext zu stellen und dazu Stellung zu nehmen. Erfahren können Lernende dadurch die Wirkmechanismen und -richtungen der ästhetischen Erfahrung, die einen grundlegenden Bestandteil ästhetischer Bildungsprozesse darstellen. 4. Bezugssystem Kommunikation: Fremdsprachlicher Literatur- unterricht als kommunikativer Lernort Aus dem bereits Ausgeführten kann der Eindruck entstehen, dass Schülerinnen und Schüler die Auseinandersetzung mit Literatur im Unterricht grundsätzlich als positiv erachten. Dass es allerdings auch kritische Aspekte gibt, die insbesondere mit der unterrichtlichen Gestaltung, mit der Lenkung durch die Lehrkraft sowie mit dem Verständnis von Lesen und Verstehen in Verbindung stehen, soll an dieser Stelle ebenfalls thematisiert werden. Die folgende Sequenz stammt aus demselben Forschungsprojekt und ist dem Interview mit einer weiteren gymnasialen Lerngruppe entnommen (vgl. S TEININGER 2014: 225-242). In ihm reagieren die Lernenden auf die Frage, wie sie Lesen in der Schule erfahren haben und inwieweit sich die Unterrichtseinheit mit literarischen Texten im Englischunterricht, auf die sich das Interview retrospektiv bezieht, von den anderen im Unterricht gesammelten Erfahrungen mit literarischen Texten unterscheidet. S 15 Ja, ich find auch immer, weil die so ein bisschen aufgezwungen werden, also, weil man die ja halt lesen (betont) muss, und dann - hat man immer weniger Lust, die zu lesen. Ich weiß auch nicht, (lacht) bei mir ist das immer so. I Ja. S 12 unverständlich, S 17 redet schon S 17 Ich find, dass man-dass man jede Kleinigkeit irgendwie so zerschneiden muss, die dann - S 15 Ja. S 17 Im Grunde schon klar ist. S 25 Ja. S 17 Also, das macht irgendwie die ganze Geschichte - so, dass man die dann irgendwie so zerlegt, und dann hat man diese. S 12 Wie beim Essen. S 17 (unverständlich) vor sich. Unverständlich 10: 05 S 17 Dann hat man so kleine Teile und dann ist die Story total auseinander. I Findet ihr, das haben wir hier besser gemacht? Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 67 47 (2018) • Heft 1 S 17 Ja. S 12, S 15, S 25 nicken S 9 Eigentlich schon. S 25 Da konnte sich jeder aber auch erst mal, äh - eigens drauf konzentrieren, und musste nicht äh, sich nach dem richten, was der Lehrer sagt, im Prinzip. I Mhm. S 12 Ja, wir konnten unsere eigene Meinung und eigenes Bild dazu bilden, aber, normalerweise, wenn wir das jetzt die ganze Zeit durchgekaut hätten, hätten wir ja ein Bild aufgeschwatzt bekommen. S 25 Ja. Tabelle 4: Interviewausschnitt G10 II (10: 04-10: 05) Deutlich herausgestellt wird gleich in der ersten Äußerung der Schülerin S 15 , dass Lesen in der Schule keine freiwillige Veranstaltung ist. Der Schüler S 17 greift dies auf und kommt auf die ‚zerlegende‘ Arbeitsweise im Unterricht zu sprechen. Kritisch merkt er an, dass eine Überbetonung des close reading im Unterricht dazu führen könne, dass das integrierende Ganze aus dem Blick verloren geht. Auf die Frage, ob das in der beobachteten Einheit besser umgesetzt worden sei, reagieren die Lernenden zustimmend. In den Äußerungen des Schülers S 25 und der Schülerin S 12 scheint durch, dass die im Unterricht vordergründigen Handlungs- und Kommunikationsanlässe, die Hypothesenbildung zum weiteren Verlauf der Geschichte, die Koordination von Perspektiven, das Füllen von Leerstellen, das imaginierende Hinzufügen von Vor- und Nachgeschichte sowie das Einnehmen von Innensichten dazu geführt habe, eine eigene Lesart der Geschichte zu etablieren. Und die Formulierung „nicht sich nach dem richten, was der Lehrer sagt“, und eben kein „Bild aufgeschwatzt bekommen“ zu haben, deutet gerade darauf, dass die Lernenden sich als Lesende im Unterricht ernst genommen sehen. Verbunden ist dies mit der Konstruktivitätshypothese (vgl. K ARCHER 1996: 118) vom Lesen, die nicht darauf abzielt, einem Text „‘vorgedachte‘ Informationen des Autors“ (ebd.) zu entnehmen bzw. Lesarten der Lehrkraft zu rekonstruieren, sondern das Textverständnis der Lesenden im Unterricht durch inhaltliche Auseinandersetzung (im Unterricht gemeinsam) entstehen zu lassen. Als zentral erachten die hier zitierten Lernenden dabei die Möglichkeit, eigene Lesarten auszuprobieren, sie mit denen anderer abzugleichen und Sinnstiftung im gemeinschaftlichen Austausch herzustellen. Darauf kann dann die für den Fremdsprachenunterricht so wertvolle Kommunikationsabsicht der Lernenden aufbauen, denn es entsteht etwas, zu dem man sich äußern möchte, zu dem man etwas zu sagen (bzw. zu schreiben) hat, über das es sich zu kommunizieren lohnt. 68 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 5. Fazit: Der fremdsprachliche Literaturunterricht als persönlich- keitsbildender Lernort Abschließend sei an die Definition der persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen im GeR erinnert: Die kommunikative Tätigkeit der Sprachverwendenden/ Lernenden wird nicht nur durch ihr Wissen, ihr Verständnis und ihre Fertigkeiten beeinflusst, sondern auch durch individuelle, ihre jeweilige Persönlichkeit charakterisierende Faktoren wie Einstellungen, Motivationen, Werte, Überzeugungen, kognitive Stile und Persönlichkeitstypen, die zu ihrer Identität beitragen (E UROPARAT 2001: 106). Dass Lernende im Fremdsprachenunterricht ihre Persönlichkeit mitbringen und im Laufe ihrer Entwicklung die eigene Identität entwerfen und formen, ist zunächst einmal eine eher banale Feststellung. Unerwähnt bleibt in der zitierten Passage allerdings, wie diese Zielbereiche im Fremdsprachenunterricht zur Entfaltung gebracht werden können. Wie im Laufe der Argumentation herausgearbeitet wurde, ermöglicht die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht den Lernenden, Einstellungen, Werte und Überzeugungen in schriftlicher wie mündlicher Textproduktion zu artikulieren. Damit diese Aspekte im Unterricht Wirkung entfalten können, ist die fremdsprachliche Literaturdidaktik m.E. in der Pflicht zu hinterfragen, inwieweit „die Persönlichkeitsentwicklung ein explizites Erziehungs- und Bildungsziel sein“ kann (ebd.: 107). Mit Blick auf die anderen den persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen zugeordneten Teilbereichen sollen an dieser Stelle drei Gelingensbedingungen formuliert werden, denen der fremdsprachliche Literaturunterricht verschrieben sein sollte, damit literar-ästhetische Bildungs- und Erziehungsziele der Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung der Lernenden zuarbeiten. Gelingensbedingung 1: Forschende Grundhaltung der Lehrenden Nicht ohne Grund wurden im Beitrag Ausschnitte von Schülerinterviews als Ausgangspunkt für die Diskussion der Bezugssysteme gewählt. Die fremdsprachliche Literaturdidaktik ist gut beraten, die Stimmen der Lernenden forschend zugänglich zu machen. Nur dadurch können die Perspektiven derer elizitiert und untersucht werden, die von zentralem Interesse sind; nur dadurch wandelt sich die Rolle der Lernenden von unterrichteten Objekten zu sich bildenden Subjekten. Insbesondere die metareflexive Situation stellt dabei einen Gewinn dar. Und zwar deshalb, weil danach gefragt werden kann, welche Einstellungen zum lesenden Fremdsprachenunterricht vorliegen, was Lernende motiviert (instrumentell/ integrativ; vgl. E UROPARAT 2001: 106), welche Rolle das „menschliche Kommunikationsbedürfnis“ (ebd.) im Austausch über Lesarten spielt, welche Wertvorstellungen und Überzeugungen (vgl. ebd.) in den Texten zu finden sind und wie diese im Erfahrungsraum der Lernenden resonieren. Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 69 47 (2018) • Heft 1 Gelingensbedingung 2: Angemessenheit als Kriterium der Textauswahl Gelingt es, für den Unterricht angemessene literarische Texte auszuwählen, dann können Komponenten angesprochen werden, die zu den bereits erwähnten auch dem kognitiven Stil (vgl. ebd.) der Lernenden Rechnung tragen. Angemessenheit lässt sich auf sprachliche, formale und ästhetische Aspekte beziehen (vgl. C ASPARI / S TEININGER 2016) und meint „die Passung zwischen einem Text und einer bestimmten Lerngruppe bzw. bestimmten Leserinnen und Lesern“ (ebd.: 43). Herzustellen ist dies durch eine in Bezug auf das Sprachniveau sorgfältige Auswahl der Texte, die auch inhaltlich bzw. thematisch angemessene Punkte der Auseinandersetzung eröffnen sollen - und zwar abgestimmt auf die jeweilige Lerngruppe, auf die jeweiligen Leserinnen und Leser mit ihren sprachlichen und literarischen Vorerfahrungen. Ist dies der Fall, dann können vermeintlich einfache Texte dafür genutzt werden, thematisch komplexe Gegenstandbereiche sprachlich adressatengerecht zu behandeln. Gelingensbedingung 3: Lenkungsfunktion Text und Unterricht Grundlegend für eine die Lernenden bereichernde Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht ist die Art und Weise, wie im Unterricht die Interaktion zwischen Lesenden und Text sowie zwischen Lesenden und Lesenden eingeleitet wird, wobei die Lehrkraft in diesem Zusammenhang auch als Leserin bzw. Leser verstanden werden sollte. Ausgehend von den die Lenkungsfunktion des Textes bestimmenden thematischen und strukturellen Elementen, gilt es eine Textbegegnung anzubahnen, die es den Lernenden ermöglicht, dem Text und den Lesarten aller Beteiligten auf Augenhöhe zu begegnen. Es geht darum, den Lernenden die Bedeutung der eigenen Konstruktionsleistungen für das lesende Verstehen bewusst zu machen. Dafür sollten die Lernenden im Unterricht durch die Handlungs- und Kommunikationsanlässe angeregt werden, ihre Leseeindrücke zu kommunizieren, Perspektiven zu koordinieren und Dargestelltes zu hinterfragen. Dazu gehört auch, Ausgelassenes produktiv hinzuzufügen und im Wechselspiel des literarischen und des aus der eigenen Erfahrung stammenden Bezugssystems Neues zu entdecken sowie Bekanntes zu relativieren. So können die Lernenden kulturelle Lernerfahrungen sammeln, die sich auf den kritischen Umgang mit jedweder Art von Text übertragen lassen. Wenn alle drei Bedingungen erfüllt werden, dann stehen die Chancen gut, dass der fremdsprachliche Literaturunterricht tatsächlich zum persönlichkeitsbildenden Lernort wird. Literatur B ARTHES , Roland (1988): Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. B REDELLA , Lothar (2002): Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen: Narr. B REDELLA , Lothar (2007): „Die welterzeugende und die welterschließende Kraft literarischer Texte. Gegen einen verengten Begriff von literarischer Kompetenz und Bildung“. In: 70 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 B REDELLA , Lothar / H ALLET , Wolfgang. (Hrsg.): Literaturunterricht, Kompetenzen und Bildung. Trier: WVT, 65-86. B REDELLA , Lothar (2010): Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen: Narr. B URWITZ -M ELZER , Eva (2003): Allmähliche Annäherungen. Fiktionale Texte im interkulturellen Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr. 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