eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 47/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2018
471 Gnutzmann Küster Schramm

Der Evolutionäre Humanismus – eine ethische Grundlage für kulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht

2018
Jochen Plikat
© 2018 Narr Francke Attempto Verlag 47 (2018) • Heft 1 J OCHEN P LIKAT * Der Evolutionäre Humanismus - eine ethische Grundlage für kulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht Abstract. Conflicts are often rooted in different worldviews. According to which ethical framework can they be dealt with? 20 years after the publication of Michael Byram’s highly influential work Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence and more than 15 years after the publication of the Common European Framework, this question still remains unanswered. It has, however, gained importance in a globalized world where violent conflicts no longer occur in distant places, but are being imported to Europe. If foreign language didactics keeps ignoring this reality, it will not be able to fulfill its aim to contribute to the education for a democratic citizenship. Moreover, it will fail to prepare students for situations where Intercultural Competence is mostly needed, namely for conflicts. This paper examines this basic problem of intercultural learning and proposes the concept of Evolutionary Humanism as an ethical framework for (inter-)cultural learning in the foreign language classroom. 1. Problemstellung „Papa jette une bombe et va en prison“ („Papa wirft eine Bombe und kommt ins Gefängnis“) - als die belgische Übersetzerin Catherine Lemaire im Mai 2017 ihrem irakischen Gast Raad bei den Hausaufgaben half und dabei in seinem Französisch- Lehrbuch diesen und ähnliche Sätze entdeckte, traute sie ihren Augen nicht. Ausgerechnet in Unterrichtsmaterialien, die in einem Integrationskurs für Geflüchtete eingesetzt wurden, war ein Satz zu den Nasallauten zu finden (“bombe”, “prison”), der die Väter der Lernenden pauschal als potentielle Bombenleger verunglimpfte. Das musste im besten Fall als äußerst geschmackloser Scherz, im schlimmsten Fall als offen rassistische Entgleisung gewertet werden (vgl. RTBF 2017). Lemaire machte ihrem Unmut zunächst auf ihrer Facebook-Seite Luft. Schnell wurden nationale und internationale Medien auf den Fall aufmerksam. Angesichts der dann folgenden allgemeinen Schelte (vulgo: shitstorm) gelobte die für die Materialien verantwortliche Einrichtung, diese zu überarbeiten. Die meisten Lehrkräfte dürften die Einschätzung teilen, dass der oben genannte Beispielsatz zu den französischen Nasallauten als unethisch zu werten ist. Dies wirft * Korrespondenzadresse: Dr. Jochen P LIKAT , Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: jochen.plikat@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Didaktik des kulturellen Lernens, digitale Medien, Kompetenzentwicklung im Bereich der Lexik. Der Evolutionäre Humanismus 41 47 (2018) • Heft 1 jedoch die Frage auf, nach welchen Kriterien im Fremdsprachenunterricht überhaupt zwischen ethisch und unethisch unterschieden werden kann. Schließlich wird in der Postmoderne jeder Art von Orientierung bietenden Metaerzählungen (grands récits, vgl. L YOTARD 1983) die Existenzberechtigung abgesprochen. Hierdurch wird nicht nur der Wahrheitsbegriff radikal in Frage gestellt, sondern es wird auch unmöglich, einen ethischen Standpunkt zu formulieren, der nicht durch eine beliebige Zahl anderer ethischer Standpunkte ersetzbar wäre. Die postmoderne Forderung nach einer radikalen Pluralität von Diskursen macht es unter anderem unmöglich, beispielsweise rassistische oder sexistische Diskurse zu verurteilen. Die wichtige Frage nach einem ethischen Standpunkt ist in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht auf mindestens drei Ebenen zu reflektieren. Die Überlegungen dieses Beitrags betreffen alle drei Reflexionsebenen: • Die erste Ebene ethischer Reflexion betrifft die institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen fremde Sprachen gelehrt und gelernt werden. In dieser Hinsicht kann etwa die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006, die von Deutschland 2009 ratifiziert wurde, als Versuch gesehen werden, in den Mitgliedsstaaten Lebensbedingungen anzustreben, unter welchen die Menschenwürde aller Menschen stärker beachtet wird. Die hierzulande unter dem Stichwort Inklusion bekannten Bildungsreformen der vergangenen Jahre gehen unmittelbar auf Art. 24 dieser Konvention zurück und sind somit tief in einer Ethik der allgemeinen Menschenrechte verwurzelt. • Die zweite Ebene ethischer Reflexion müsste die interpersonalen Beziehungen im Klassenraum in den Blick nehmen, vor allem den Umgang von Lehrkräften mit Lernenden, da sich erstere in einer Machtposition befinden. In diesem Bereich liegen bereits Ansätze für verbindliche Handlungsprinzipien vor. So formuliert etwa S OCKETT (1993) fünf Kardinaltugenden, welche ethisch vorbildliche Lehrkräfte aufweisen sollten: Ehrlichkeit, Mut, Fürsorge, Fairness und praktische Weisheit (honesty, courage, care, fairness, practical wisdom, vgl. S OCKETT 1993, M ANGUBHAI 2007: 179f.). Ferner wären der Umgang von Lehrkräften untereinander, der von Lernenden untereinander sowie der von Lernenden mit Lehrkräften zu thematisieren. • Auf der dritten Ebene müssten die im Fremdsprachenunterricht behandelten Materialien und Inhalte aus einer ethischen Perspektive reflektiert werden. Die KMK-Bildungsstandards geben dem Fremdsprachenunterricht im Bereich der interkulturellen Kompetenzen Ziele vor, welche unter anderem die Bedeutung von Werten und Normen unterstreichen. Diese Ziele weisen somit eine ethische Dimension auf. In den Standards für die Sekundarstufe I heißt es etwa: Interkulturelle Kompetenzen sind mehr als Wissen und mehr als eine Technik. Sie sind auch und vor allem Haltungen, die ihren Ausdruck gleichermaßen im Denken, Fühlen und Handeln und ihre Verankerung in entsprechenden Lebenserfahrungen und ethischen Prinzipien haben (KMK 2003: 16). 42 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 In ähnlicher Weise wird in den Bildungsstandards für das Abitur die Bedeutung von Werten und Normen für das interkulturelle Lernen unterstrichen (vgl. KMK 2012: 22). In dem Dokument wird hervorgehoben, dass die Lernenden nicht nur verschiedene Werte- und Normsysteme kennenlernen, sondern auch „verschiedene Perspektiven vergleichen und abwägen“ (ebd.: 71) sollen. Es liegt auf der Hand, dass hierfür auch die Behandlung und Reflexion nicht-trivialer Inhalte notwendig ist. Aber selbst alltagsbezogene und vordergründig unverfängliche Themen des Fremdsprachenunterrichts wie Familie oder Freundschaft können schnell Fragen mit Konfliktpotential aufwerfen, und zwar spätestens dann, wenn man sich an die Ränder gängiger Normvorstellungen begibt (Beispiel: Umgang mit Homosexualität). Die Reflexion gesellschaftlicher Normen und, auf einer höheren Stufe, die Reflexion der Reflexion haben das Potential, fremdsprachliches Lernen mit dem Ziel einer critical language awareness (vgl. F AIRCLOUGH 1992) anzubahnen. Der Fremdsprachenunterricht hat hier die Gelegenheit, einen wichtigen Beitrag zum schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrag zu leisten. Auch wenn dieser näher zu definieren ist, kann das Anliegen gleichwohl von keinem vermeintlich „neutralen“, kulturrelativistischen Standpunkt aus gelingen. Einen solchen Standpunkt legen wichtige Stimmen der philosophischen Postmoderne jedoch nahe (vgl. L YOTARD 1983). Auf den folgenden Seiten wird der so genannte Evolutionäre Humanismus als ethische Rahmung für den schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrag vorgeschlagen, insbesondere für den Fremdsprachenunterricht. Die Wahl fällt auf diesen Ansatz, weil er einerseits mit der Erklärung der Menschenrechte hoch kompatibel ist, andererseits jedoch auch dort Orientierung bietet, wo es zu Konflikten zwischen verschiedenen Artikeln dieser Erklärung kommen kann. Hierfür werden zunächst am Beispiel der savoirs von Michael B YRAM und des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (im Folgenden: GeR) zwei Probleme des aktuell dominierenden Modells interkultureller Kompetenz umrissen, nämlich dass ihm einerseits eine notwendige ethische Rahmung fehlt und dass es andererseits eine harmonistische Schieflage aufweist. Anschließend wird argumentiert, dass eine Diskussion dieser Probleme insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Religion(en) notwendig ist. Auf dieser Grundlage wird anhand des Euthyphron-Dialogs von P LATON die Position entwickelt, dass die Suche nach einer normativen Ethik auch die Auseinandersetzung mit vorhandenen religiösen Positionen erfordert, dass diese Ethik jedoch selbst nicht religiös begründet werden kann. Schließlich wird der Evolutionäre Humanismus als normative Setzung für die umrissenen drei Reflexionsebenen des Fremdsprachenunterrichts vorgeschlagen. Der Evolutionäre Humanismus 43 47 (2018) • Heft 1 2. Interkulturelle kommunikative Kompetenz - ein Konzept für harmonisch ablaufende Begegnungen? Das den Fremdsprachenunterricht in Europa bis heute dominierende Modell interkultureller Kompetenz ist die so genannte Intercultural Communicative Competence (ICC), die Michael B YRAM 1997 in einer Monographie mit demselben Titel vorstellte (vgl. zu diesem Abschnitt P LIKAT 2017: 177-191). B YRAM beschreibt ICC dort als Zusammenwirken von insgesamt fünf Schwerpunkten, die er als savoirs bezeichnet: savoirs (über soziokulturelles Orientierungswissen verfügen), savoir comprendre (Bezüge zwischen Dokumenten und Ereignissen der fremden und eigenen Kultur herstellen können), savoir être (eine Haltung einnehmen, die es erlaubt, sich auf Fremdes einzulassen), savoir apprendre/ faire (in interkulturellen Situationen handeln können, auch als Vermittler/ in) sowie savoir s'engager (Phänomene der eigenen und fremden Kultur unter Bezugnahme auf explizite oder implizite Wertvorstellungen kritisch beurteilen können) (vgl. B YRAM 1997: 34, 55-63, 73). Von den fünf genannten Schwerpunkten nimmt für B YRAM savoir s'engager eine zentrale Stellung ein. Er betont, dass der Fremdsprachenunterricht in diesem Bereich einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung leisten könne - ein Begriff, den er in deutscher Sprache zitiert und als „education for citizenship“ und „education for democracy“ verstanden wissen möchte (ebd.: 55). Als ethische Bezugsnorm für politische Bildung im Fremdsprachenunterricht empfiehlt B YRAM die Menschenrechte. Diese Empfehlung fällt allerdings eigentümlich zurückhaltend aus (vgl. ebd.: 44f.), obwohl es um eine Norm geht, die zumindest formal von den aktuell 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens und der Konfliktlösung anerkannt wird. An anderer Stelle in B YRAM s Überlegungen erscheinen selbst die Menschenrechte als austauschbar mit anderen Bezugsnormen, wie z.B. Sozialismus, Christentum oder Islam (vgl. ebd.: 64). Entscheidend für die Ausbildung von ICC sei lediglich, dass der intercultural speaker sich seiner kulturell bedingten Vorannahmen bewusst sei („aware of their own ideological perspectives and values“, ebd.). Dies könnte aber bedeuten, dass auch ein Mafioso, ein Stalinist oder ein fundamentalistischer Christ ein kompetenter intercultural speaker sein kann, solange er sich der eingeschränkten Gültigkeit seiner eigenen Position bewusst ist und allen anderen Menschen zugesteht, eine andere Position zu vertreten. Somit wird den verschiedensten Weltansichten der gleiche Geltungsanspruch eingeräumt, solange sie jeweils liberal ausgelegt und vertreten werden (vgl. P LIKAT 2017: 188). Dies wirft jedoch mindestens zwei erhebliche Probleme auf: Erstens müsste eine solche Setzung ausführlich begründet werden; zweitens zeichnen sich manche Weltansichten gerade dadurch aus, dass sie eine liberale Auslegung explizit ausschließen, bis hin zur Androhung grausamer Strafen für alle, die sich nicht an diese Vorgabe halten. Ein zweiter diskussionswürdiger Aspekt in B YRAMS Überlegungen ist die Tatsa- 44 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 che, dass er von zwar komplexen, jedoch grundsätzlich günstigen Bedingungen für interkulturelle Kommunikation ausgeht - ohne diese Einschätzung jedoch näher zu begründen: „This [...] is intended to be a comprehensive and rich description of what is required in the most complex and also the most favourable circumstances of intercultural communication (ebd.: 5).“ B ACH (2010) unterstreicht jedoch zu Recht, dass interkulturelle Kommunikation selbst unter ausgesprochen günstigen Bedingungen schnell scheitern kann. Byrams Sichtweise ist harmonistisch, denn sie lässt jene kulturellen Konflikte außer Acht,die unter ungünstigen Bedingungen auftreten. Dem könnte die unausgesprochene Hoffnung zugrunde liegen, dass es in interkulturellen Begegnungen gar nicht zu ernsthaften Konflikten kommen soll. B YRAM stünde mit dieser Hoffnung nicht alleine. So notiert F ORST (2003: 12) in seiner umfangreichen Studie zum Thema Toleranz lakonisch: „[...] Konflikte, die sich als nicht lösbar herausstellen, gehören offenbar ebenso zum menschlichen Zusammenleben wie der Wunsch, es möge sie nicht geben.“ Dieser Wunsch weist angesichts schwerer, auch extrem gewalttätiger kulturell bedingter Konflikte, die in Geschichte und Gegenwart zu beklagen sind, einen nur geringen Realitätsbezug auf. Er ist daher als Grundlage für einen interkulturellen Fremdsprachenunterricht, der (auch) einen nennenswerten Beitrag zur politischen Bildung leisten möchte, denkbar ungeeignet. Ähnlich wie B YRAM beziehen die Autorinnen und Autoren des GeR zunächst ebenfalls deutlich Stellung zugunsten der Demokratieerziehung im Fremdsprachenunterricht. So heißt es in Kapitel 1.2: Der zweite Gipfel [der Staatsoberhäupter] erklärte die Vorbereitung auf eine demokratische Staatsbürgerschaft zum vorrangigen Bildungsziel und verlieh dadurch einem weiteren Anliegen Nachdruck, das in neueren Projekten verfolgt wird, nämlich: Methoden des modernen Sprachunterrichts zu fördern, die die Unabhängigkeit des Denkens, des Urteilens und des Handelns zusammen mit sozialen Fähigkeiten und Verantwortungsbewusstsein stärken (E UROPARAT 2001: 16). Der gewünschte Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur Förderung interkultureller Kompetenzen wird in Kapitel 5.1 unter der Überschrift „Allgemeine Kompetenzen“ beschrieben. Diese sind eng an B YRAMS Modell für ICC angelehnt. Hier wäre nun unter anderem zu erwarten, dass näher auf den Schwerpunkt savoir s‘engager eingegangen würde, vielleicht sogar, dass die oben beschriebenen Defizite - eine fehlende ethische Rahmung und eine harmonistische Schieflage - behoben oder zumindest reflektiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. Zwar werden nahezu alle savoirs aus B YRAMS Modell genannt und ausführlich erklärt, aber einen Abschnitt zu savoir s'engager sucht man vergeblich. Vielmehr deuten die Autorinnen und Autoren an, dass beim interkulturellen Lernen ein kulturrelativistischer Standpunkt geboten sei (vgl. ebd.: 107). Wir haben es im GeR also mit dem bemerkenswerten Umstand zu tun, dass im selben Dokument die demokratische Staatsbürgerschaft zum vorrangigen Bildungsziel erklärt wird, dass jedoch anscheinend gleichzeitig kulturelles Lernen ohne eine ethische Rahmung gelingen soll. Dieser Widerspruch hat bei den Autorinnen und Der Evolutionäre Humanismus 45 47 (2018) • Heft 1 Autoren des Dokuments offensichtlich ein Unbehagen verursacht, das in einer Formulierung durchscheint: „Wie kann Kulturrelativismus mit ethischer und moralischer Integrität in Einklang gebracht werden? “ (ebd.) Immerhin wird diese Frage gestellt, wenn auch nicht in dem genannten Kapitel zu den Allgemeinen Kompetenzen, in dem man sie erwarten würde. Eine Antwort bleibt der GeR allerdings schuldig. Sowohl bei B YRAM als auch im GeR lässt sich somit eine auffallende Zurückhaltung feststellen, wenn es um das Bekenntnis zu einer ethisch-politischen Rahmung für die Förderung interkultureller Kompetenzen geht. Diese Zurückhaltung kann auf die - in der Tat sehr schwierige - Frage zurückgeführt werden, ob kulturenübergreifend gültige Kriterien für die ethische Bewertung kulturspezifischer Diskurse und Praktiken gefunden werden können. Ist jedoch der Kulturrelativismus, der bei B YRAM als Unterströmung zu erkennen ist und auf den im GeR explizit verwiesen wird, wirklich als Bezugsnorm für die wertende Beurteilung kultureller Phänomene geeignet? Es lassen sich mindestens drei gewichtige Einwände formulieren: • Der erste Einwand lautet, dass der Kulturrelativismus potentiell im Gegensatz zu den allgemeinen, auch gesetzlich vorgegebenen Bildungszielen deutscher Schulen steht. Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gelten hier als nicht verhandelbare Prinzipien des Zusammenlebens. Deutschland ist ihnen aus historischen Gründen in besonderem Maße verpflichtet. Da diese Prinzipien nicht vorausgesetzt werden können, sondern in jeder Generation neu erlernt und eingeübt werden müssen, obliegt diese Aufgabe in erster Linie den Bildungseinrichtungen (vgl. H ONNETH 2013). • Zweitens weist der Kulturrelativismus einen inhärenten Widerspruch auf. Dieser Widerspruch liegt darin, dass er einerseits normative Setzungen mit einem Kulturen übergreifenden Geltungsanspruch ausschließt, selbst aber auf einer eben solchen Setzung basiert (vgl. P LIKAT 2017: 87-91). Mit anderen Worten: Die Forderungen „Keine weltanschauliche Norm darf universelle Gültigkeit beanspruchen! “ und „Alle Kulturen sind gleich wertvoll und sollen sich gegenseitig respektieren und tolerieren! “ können nicht gleichzeitig erhoben werden, ohne dass man sich dabei in einen eklatanten logischen Widerspruch verstrickt. • Drittens liegt dem Kulturrelativmus ein Kulturverständnis zu Grunde, das auf H ERDER s Kugelmodell zurückgeführt werden kann. In diesem Verständnis werden Kulturen als nach außen abgrenzbare und nach innen homogene Einheiten aufgefasst. In aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen wird jedoch davon ausgegangen, dass Kulturen hybride, dynamische Phänomene sind, die sich wechselseitig durchdringen und beeinflussen (vgl. K ÜSTER 2005, W ELSCH 2010). Die Grundfrage, welche sich ein dem schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrag verpflichteter Fremdsprachenunterricht stellen muss, lautet somit, welche ethische 46 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 Rahmung jenseits des Kulturrelativismus gefunden werden kann. Diese Rahmung müsste unabhängig von den kulturellen Phänomenen, die im Unterricht verhandelt werden, Gültigkeit beanspruchen können. Zu diesem Problem gibt es mehrere Standpunkte, von denen mir hier drei als relevant erscheinen. Deren erster ist der bereits umrissene kulturrelativistische Standpunkt, bei dem die Möglichkeit transkulturell gültiger ethischer Normen kategorisch ausgeschlossen wird. Anfangs ein deskriptiver Ansatz der amerikanischen Anthropologie, erhielt er ab Mitte des 20. Jahrhunderts einen normativen Charakter und wurde später durch den Pluralitätsdiskurs der Postmoderne philosophisch unterfüttert. Der zweite Standpunkt ist ein universalistischer Standpunkt, der seinen wichtigsten Ausdruck in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefunden hat (vgl. UN G ENERAL A SSEMBLY 1948). Er steht für die Überzeugung, dass Menschen vor bestimmten Diskursen und Praktiken immer zu schützen sind, ganz unabhängig davon, wie ihr jeweiliger kultureller Hintergrund beschaffen ist. Man denke hier beispielsweise an Folter, Sklaverei, die Verstümmelung der Genitalien von Kindern etc. (vgl. S ANDKÜHLER 1996, M ENDE 2011). Von einem Menschenrechtsstandpunkt aus sind sie weltweit zu ächten und zu bekämpfen. Sowohl der kulturrelativistische als auch der menschenrechtsbasierte Standpunkt kommen ohne Bezugnahme auf göttliche Wesen aus. Ganz anders der dritte hier relevante Standpunkt, der als theonom bezeichnet wird (vgl. B AYERTZ 2014: 76-81). Hier wird davon ausgegangen, dass der Mensch unmöglich selbst zwischen Gut und Böse unterscheiden könne. Dafür benötige er vielmehr eine über-menschliche Instanz - Gott. In den großen Weltreligionen, insbesondere im Christentum, im Judentum und im Islam, werden ethische Normen daher jeweils aus einer als göttliche Offenbarung angenommenen heiligen Schrift abgeleitet und als direkte und verbindliche Anweisungen an die Menschen verstanden (vgl. ebd.: 76). Nicht die menschliche Vernunft, sondern einzig und allein die ewige Weisheit Gottes, Jahves bzw. Allahs komme als Quelle für die Unterscheidung zwischen ethisch und unethisch, zwischen gut und böse in Frage. Da zumindest Christentum und Islam davon ausgehen, dass idealerweise die gesamte Menschheit die Gebote des jeweils verehrten Gottes befolgen soll, sind die auf diesen Religionen fußenden Positionen auf ihre eigene Weise ebenfalls als universalistisch einzustufen. Der Ansatz erscheint zunächst verlockend: Wäre es nicht wunderbar, die so schwierige Suche nach allgemeinen Regeln für ein ethisch vorbildliches Leben beenden zu können, indem man sie den Offenbarungen eines allwissenden, allmächtigen und allgütigen Wesens entnimmt? Es ergeben sich allerdings mindestens zwei erhebliche Probleme: Erstens sind die so genannten heiligen Schriften der großen Buchreligionen in sich voller Widersprüche. So zeigt sich beispielsweise der Gott der Christen einerseits als liebend und nachsichtig, andererseits - entgegen einer weit verbreiteten Überzeugung nicht nur im Alten, sondern auch im Neuen Testament - als kleinlich, eitel, rachsüchtig und extrem grausam: Der Evolutionäre Humanismus 47 47 (2018) • Heft 1 Einen Gott, der Eroberungskriege inklusive der ausdrücklich angeordneten Hinschlachtung von Kindern, Frauen und Greisen befiehlt, der eine inhuman grausame Blutjustiz immer wieder eindringlich fordert [...] als höchstes absolutes Vorbild und Verhaltensmodell zu propagieren, scheint (mir) schwer zu rechtfertigen (B UGGLE 2004: 62; zu den ähnlich gelagerten Problemen des Koran vgl. W ARRAQ 2004: 185-187). Eine theonome Ethik müsste eine klare Antwort finden auf die Frage, welche Empfehlungen denn nun zu befolgen seien: die des liebenden oder die des zornigen Gottes. Wie auch immer die Antwort ausfällt, müsste zudem gleichzeitig aus der Schrift selbst heraus begründet werden, warum man nicht zum genau entgegengesetzten Ergebnis kommen sollte. Zweitens steht bei jeder theonomen Ethik die Frage im Raum, ob etwas gut ist, weil es Gott als gut bewertet, oder ob umgekehrt Gott es als gut bewertet, weil es inhärent gut ist. 1 Diese Frage wurde bereits vor über 2400 Jahren von Sokrates diskutiert. Der Verlauf der Diskussion ist von P LATON im Euthyphron-Dialog überliefert. Im nächsten Abschnitt wird zunächst die Zurückhaltung problematisiert, die in fremdsprachendidaktischen Beiträgen dem Thema Religion gegenüber allgemein zu beobachten ist. Anschließend wird der Euthyphron-Dialog vorgestellt, um zu zeigen, dass eine theonome Ethik keine Antwort auf die Frage nach einer Meta-Ethik für die Schule sein kann. 3. Das eigentümliche Schweigen um den Stellenwert von Religion(en) für kulturelles Lernen In der aktuellen fachdidaktischen Diskussion wird häufig ein auffallend großer Bogen um jenes Thema gemacht, das für (inter-)kulturelles Lernen und vor allem für dessen ethische Dimension nicht unberücksichtigt bleiben kann: die Bedeutung von Religionen. Dies ist umso überraschender, als außerhalb der Fachdidaktik ethische Positionen häufig in ganz erheblichem Maße religiös begründet und anschließend in Paragraphen gegossen werden - man denke etwa an die Haltung der katholischen Kirche zu den Themen Homosexualität oder Abtreibung, die aktuell in Polen oder in manchen lateinamerikanischen Staaten als Blaupause für Gesetzestexte dient (zur Homosexualität als „schlimme Abirrung“ vgl. D ER H EILIGE S TUHL 1997). In fremdsprachendidaktischen Beiträgen ist das Schweigen über das Thema Religion bisweilen so beredt, dass man unweigerlich an den sprichwörtlichen Elefanten im Raum denken muss, von dem alle so tun, als gebe es ihn nicht. In einem Beitrag für die Zeitschrift Les Langues Modernes zum Schwerpunkt Ethik im Fremdsprachenunterricht etwa berichtet die Gymnasiallehrerin Nathalie F ARENEAU über eine Unterrichtsreihe zum Thema Meinungsfreiheit (Liberté d'expression), die sie unter dem Eindruck der im Januar und November 2015 in Paris verübten radikalislami- 1 Im Euthyphron-Dialog wird auch mit den Begriffspaaren fromm vs. ruchlos, (von den Göttern) geliebt vs. von ihnen gehasst, Recht vs. Unrecht operiert. 48 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 schen Anschläge durchführte. Erstaunlicherweise werden diese jedoch nicht etwa als solche benannt. Vielmehr umschreibt die Autorin den Anlass für die Unterrichtsreihe knapp und euphemistisch mit „évènements dramatiques“ (F ARENEAU 2015: 65). Wer die Hintergründe nicht kennt, erfährt nicht, dass Paris an den besagten Tagen nicht etwa von einer Naturkatastrophe oder einer Epidemie heimgesucht wurde, sondern dass es die schwersten terroristischen Anschläge seit 1961 erleiden musste. Diese richteten sich im Januar 2015 gezielt gegen die Redaktion einer satirischen Zeitschrift und die Kunden eines jüdischen Supermarktes, im November desselben Jahres gegen Fußballfans sowie die Besucherinnen und Besucher verschiedener Bars und Cafés. Im gesamten Beitrag von F ARENEAU tauchen jedoch weder die Begriffe Religion/ religiös, Islam/ islamisch/ islamistisch, Mohammed, Prophet, Karikatur, Terrorismus, Charlie Hebdo, Bataclan noch andere auf, die zu erwarten wären. Der schwere weltanschauliche Konflikt, welcher in der Frage steckt, ob religiöse oder säkulare Normen höher zu werten sind - im Falle des Charlie Hebdo-Anschlags das Abbildungsverbot einer Religionsgemeinschaft oder die Freiheit von Karikaturisten, den Propheten ebendieser Religionsgemeinschaft zu zeichnen -, wird mit keiner Silbe erwähnt. Aktuelle fremdsprachendidaktische Leitdokumente halten sich beim Thema Religion(en) ebenfalls auffallend zurück, z.B. der GeR. Zwar tauchen hier die Begriffe religiös bzw. Religion insgesamt zehn Mal auf. Auch im GeR wird jedoch vollständig offengelassen, wie mit Konflikten zwischen religiösen und säkularen Wertesystemen umgegangen werden kann, ja, es scheint als könnten diese konfliktfrei koexistieren. Offensichtlich hat auch hier der Wunsch Pate gestanden, es mögen immer günstige Bedingungen herrschen oder es möge bestimmte Konflikte gar nicht geben. Das Verharmlosen, Leugnen oder vollständige Verschweigen des Zusammenhangs zwischen orthodoxem Islam und politischem Terror (im genannten Beispiel aus Les Langues Modernes sogar das Verschweigen der Gewaltakte selbst) ist nicht nur in der Fremdsprachendidaktik zu beobachten. Dabei sind es bezeichnenderweise häufig gemäßigte Muslime, die auf ihn aufmerksam machen. Mit deutlichen Worten etwa gab im August 2017 der Islamgelehrte Kyai Haji Yahya Cholil Staquf, Vertreter eines gemäßigten Islam und Generalsekretär der größten muslimischen Organisation Indonesiens, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Protokoll, dass er in den Diskussionsbeiträgen zum Terrorismus häufig einen erheblichen blinden Fleck wahrnimmt: Westliche Politiker sollten aufhören, zu behaupten, Extremismus und Terrorismus hätten nichts mit dem Islam zu tun. Es gibt einen ganz klaren Zusammenhang zwischen Fundamentalismus, Terror und Grundannahmen der islamischen Orthodoxie. So lange wir darüber keinen Konsens erzielen, werden wir keinen endgültigen Sieg über die fundamentalistische Gewalt des Islam erreichen (FAZ 2017). Auf vielen Ebenen ist somit zu beobachten, dass die Diskussion um den Umgang säkularer Gesellschaften mit den Ansprüchen religiöser Gruppierungen aktuell ver- Der Evolutionäre Humanismus 49 47 (2018) • Heft 1 mieden wird. Gleichzeitig liegt es auf der Hand, dass ethische Normen in einer pluralistischen und damit religiös heterogenen Gesellschaft nicht aus einer bestimmten Religion heraus begründet werden können. Dass dies jedoch selbst in einer religiös homogenen Gesellschaft problematisch wäre, lässt sich sehr anschaulich am antiken Euthyphron-Dialog nachvollziehen, um den es nun gehen soll. 4. Euthyphron und das Problem einer theonomen Ethik Bei jedem Versuch, eine theonome Ethik zu etablieren, ist das oben genannte Dilemma zu berücksichtigen, „das sich für jeden Versuch einer Rückführung der Moral auf eine göttliche Autorität ergibt“ (B AYERTZ 2014: 82). Bereits Sokrates formuliert es im Euthyphron-Dialog, dessen Verlauf hier in knapper Form rekonstruiert wird. In Platons Überlieferung beginnt der Dialog, als sich Sokrates und Euthyphron in der Halle des Basileus begegnen. Dem Ort entsprechend entzündet sich die Diskussion an zwei Rechtsfällen: Einerseits an der damals bereits anhängigen Klage gegen Sokrates, dem vorgeworfen wird, dass er „die Jugend verderbt“ (P LATON / S CHLEIERMACHER 1957: 179); andererseits diskutieren Sokrates und Euthyphron jedoch vor allem über die Klage, die letzterer gegen seinen eigenen Vater eingereicht hat - ein in Athen unerhörter Vorgang. Hintergrund ist, dass der Vater einen Tagelöhner in eine Grube werfen und verenden lassen hatte. Allerdings hatte der Tagelöhner zuvor seinerseits in trunkenem Zustand einen Sklaven erschlagen. Es geht nun um die Frage, ob Euthyphrons Klage gegen seinen Vater gerechtfertigt sei oder nicht. Euthyphron rechtfertigt seine Klage, indem er gegenüber Sokrates auf eine Art göttlichen Präzedenzfall verweist: Auch Zeus habe sich gegen seinen eigenen Vater gewandt, als dieser Unrecht getan habe, und daher sei es nur recht und billig, wenn er, Euthyphron, sich Zeus zum Vorbild nehme: „Nämlich die Menschen halten ja selbst den Zeus für den trefflichsten und gerechtesten aller Götter, und von diesem gestehen sie doch, daß er seinen eignen Vater gefesselt, weil der seine Söhne verschluckt ohne rechtlichen Grund“ (ebd.: 183). Sokrates möchte sich jedoch von dem konkreten Fall lösen und Euthyphron eine allgemeine Definition des „Guten“ entlocken - angeblich mit dem Ziel, sich dann auch selbst endlich gottgefällig verhalten zu können. Tatsächlich geht es ihm jedoch darum, eventuelle Widersprüche in Euthyphrons Argumentation nach und nach ans Licht zu bringen. Dabei geht er nach der von ihm geprägten „Hebammenkunst“ (Mäeutik) vor. Zunächst stellt Sokrates den olympischen Präzedenzfall in Frage: Es gebe doch gerade unter den Göttern Streit und sogar Krieg darüber, was gut und was böse sei - wie könne man sich also in dieser Frage auf die Götter berufen? „Dasselbige also, wie es scheint, wird von den Göttern gehaßt und auch geliebt, und dasselbe also wäre gottgehässig und gottgefällig? “ (ebd.: 185) Angesichts dieses Widerspruchs 50 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 zieht sich Euthyphron auf die Position zurück, dass zumindest das als gut angesehen werden müsse, was allen Göttern gefällig sei (vgl. ebd.: 187). Sokrates gibt sich jedoch auch mit dieser Definition noch nicht zufrieden, denn sie sage noch nichts über die Beschaffenheit des Guten oder Frommen selbst aus, und eben daran sei er brennend interessiert. Er leitet nun zur zentralen Frage des Dialogs über: „Bedenke dir nämlich nur dieses, ob wohl das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt wird, oder ob es, weil es geliebt wird, fromm ist? “ (ebd.: 188) Um diese Frage zu beantworten schlägt er vor, zwischen dem „Gottgefälligen“ und dem „Frommen“ bzw. „Guten“ zu unterscheiden - und das Fromme, insistiert Sokrates, „werde deshalb geliebt, weil es fromm ist, nicht aber, weil es geliebt wird, sei es fromm“ (ebd.: 189). Euthyphron stimmt der Aussage zu und erkennt somit an, dass das Fromme eine inhärente Qualität aufweise. Durch dieses Zugeständnis schnappt die von Sokrates gestellte argumentative Falle zu. Euthyphron hatte nämlich zu Beginn argumentiert, seine Klage gegen seinen Vater sei gerechtfertigt, weil sie offensichtlich gottgefällig sei: Zeus selbst habe genauso gehandelt. Nun räumt er allerdings ein, dass zwischen dem Frommen und dem Gottgefälligen unterschieden werden muss. In gespielter Verwunderung bedrängt Sokrates Euthyphron ein letztes Mal, ihm doch zu verraten, was das Fromme sei, denn Euthyphron müsse dies doch wissen: „Denn kenntest du nicht ganz bestimmt das Fromme und das Ruchlose: so hättest du auf keine Weise unternommen, um eines Tagelöhners willen einen betagten Vater des Totschlages zu verklagen [...]“ (ebd.: 195). So in die Enge gedrängt, beendet Euthyphron unter einem Vorwand die Diskussion und verlässt die Halle. Sokrates wirft im Euthyphron-Dialog die zentrale Frage ethischer Reflexion auf, nämlich ob Ethik religiös zu begründen ist oder ob ethische Normen vielmehr unabhängig von religiösen Vorstellungen formuliert werden sollten. […] Socrates has established something important, not just about piety, or goodness, but about morality itself, by suggesting that goodness, and hence morality, should have an objective existence independent of either gods or humans (M ALIK 2015: 23). Im polytheistischen Weltbild der griechischen und römischen Antike waren Konflikte zwischen den Göttern an der Tagesordnung - und mit ihnen war jede theonome Ethik von Anfang an in die geschilderten Probleme verstrickt. Diese Probleme wurden von den großen monotheistischen Religionen nicht gelöst, sondern lediglich verlagert. Sie lauten heute: • Wie kann man in einer globalisierten Welt wissen, welchem der vielen Angebote auf dem Marktplatz der Religionen, welchem der vielen Götter und damit auch welcher Ethik der Vorzug zu geben ist? • Wie kann man trotz zutiefst widersprüchlicher Anweisungen innerhalb mancher religiöser Denksysteme möglichst widerspruchsfreie ethische Prinzipien formulieren? • Wie können pluralistische Gesellschaften mit den unvermeidlichen Spannungen zwischen religiöser und säkularer Ethik umgehen? Der Evolutionäre Humanismus 51 47 (2018) • Heft 1 Der evolutionäre Humanismus bietet eine Antwort zumindest auf die dritte Frage an, da er ein klares Plädoyer zugunsten einer säkularen Ethik formuliert. Um ihn geht es im nächsten Abschnitt. 5. Evolutionärer Humanismus Der Evolutionäre Humanismus geht zurück auf den britischen Biologen, Humanisten und ersten Präsidenten der UNESCO, Julian H UXLEY . In Deutschland vertritt die Giordano-Bruno-Stiftung unter Vorsitz des Philosophen Michael S CHMIDT -S ALO - MON den Ansatz und entwickelt ihn weiter (vgl. H UXLEY 1964, S CHMIDT -S ALOMON 2006). Der Evolutionäre Humanismus entsteht historisch unter dem Schock des 2. Weltkriegs. Technologischer Fortschritt hatte zu bis dahin unvorstellbaren Zerstörungen und Millionen Toten geführt. Dafür, dass es so weit kam, war in den beiden großen ideologischen Lagern - Faschismus und Kommunismus - ein kollektiver Glaube an eine höhere Bestimmung und die Missachtung des Individuums entscheidend. Der Evolutionäre Humanismus stellt daher erneut den Menschen ins Zentrum seiner Überlegungen, nicht eine wie auch immer definierte Gruppe oder eine angebliche historische Notwendigkeit. Auch der in der abendländischen Philosophie tief verwurzelte Dualismus zwischen Leib und Seele, zwischen Natur und Mensch, wird aufgegeben (vgl. D AMASIO 2007). Menschen werden vielmehr als Wesen gesehen, die nicht von einem allmächtigen Schöpfergott geschaffen wurden, sondern sich in einer langen Evolution entwickelt haben (vgl. S CHMIDT -S ALOMON 2006: 15). Daher seien auch ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle und ihr Verhalten Ergebnisse der Evolution. Dies gelte für alle Menschen - unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Rasse oder ihrer Kultur. Daher sei es möglich, eine für alle Menschen gültige Minimalethik zu formulieren. Was die Menschen vor allem auf einer tiefen Ebene verbinde, sei ihre Fähigkeit zu leiden. Aus dieser Beobachtung wird eine universelle Ethik hergeleitet. Folgt man dem Evolutionären Humanismus, sind einzelne Wertvorstellungen oder auch Moralsysteme grundsätzlich unter dem Kriterium zu beurteilen, ob sie individuelles Leid vergrößern oder vermindern. Diskurse und Praktiken seien zwar als kulturelle Phänomene zu sehen, seien aber - anders als der Kulturrelativismus dies fordert - nicht mehr in jedem Fall zu respektieren oder gar zu bewundern. Vielmehr lassen sie sich aus ethischer Perspektive durchaus beurteilen: Wir müssen einsehen, dass Traditionen keinen Wert an sich besitzen, dass sie nicht unbedingt erhaltenswert sind, sondern einer Evolution unterliegen, die von uns selbst gesteuert werden kann und muss. Für evolutionäre Humanisten ist es selbstverständlich, dass alle Traditionen einem kritischen Eignungstest unterzogen werden müssen. Der entscheidende Maßstab für die Beurteilung muss dabei sein, ob und inwieweit eine Tradition zu einer Humanisierung der Verhältnisse beitragen kann bzw. inwieweit sie dieser im Wege steht (ebd.: 34). 52 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 So sorgen die in vielen Wertesystemen enthaltene Ablehnung von Homosexualität und darauf fußende gesetzliche Bestimmungen ohne Zweifel für erhebliches individuelles Leid und wären somit als inhuman zu bewerten. Die Kritik dieser Wertvorstellungen und die Abschaffung solcher Verbote würden individuelles Leid ohne Zweifel verringern und wären somit als Beitrag zu einer Humanisierung der Verhältnisse zu bewerten. Der Evolutionäre Humanismus versteht sich als dezidiert areligiös, ohne jedoch das Prinzip der Religionsfreiheit in Frage zu stellen (vgl. ebd.: 139). Abzulehnen seien lediglich jene religiös begründeten Diskurse und Praktiken, die zu individuellem Leid führen, beispielsweise die Unterdrückung von Frauen oder Andersgläubigen, die Verstümmelung der Genitalien von Mädchen etc. Wenn man die Verringerung von Leid ins Zentrum ethischer Überlegungen stellt, dann liegt es nahe, nicht an der Grenze unserer Spezies, also des homo sapiens, innezuhalten. Schließlich sind auch nicht-menschliche Lebewesen leidensfähig, allen voran die nächsten Verwandten des Menschen im Tierreich, die Primaten. Eben diesen Gedanken vollzieht auch der Evolutionäre Humanismus. Er erlaubt es somit, Leiden verursachende Praktiken zu hinterfragen, wie z.B. grausame Tierversuche für die Entwicklung von Kosmetika, die Massentierhaltung für unseren Fleischkonsum oder das Einsperren von Tieren mit komplexem Sozialverhalten in zoologische Gärten: „‚Füge nichtmenschlichen Lebewesen nur so viel Leid zu, wie dies für den Erhalt deiner Existenz unbedingt erforderlich ist! ‘, ließe sich die tierethische Maxime des evolutionären Humanismus in etwa umschreiben“ (ebd.: 124). In historischer Perspektive ist interessant, dass auch die Menschenrechte eine solche Entwicklung der allmählichen Ausweitung ihres Geltungsbereichs durchlaufen haben und somit evolutionär sind. So bezogen sich etwa die amerikanischen und französischen Erklärungen von 1776 bzw. 1789 zunächst explizit nur auf Männer bzw. männliche Staatsbürger. Schon 1791 nahm aber Olympe de Gouges das Dokument zum Vorbild, um die ersten Frauenrechte zu formulieren. Aus den „Droits de l’homme et du citoyen“ wurden die „Droits de la femme et de la citoyenne“ - ein Gründungsdokument des Feminismus. Evolutionär ist der Evolutionäre Humanismus somit in doppeltem Sinne: Einerseits, weil er die Herkunft des Menschen aus dem Tierreich betont. Andererseits ist er es auch, weil er die menschliche Erkenntnis als vorläufig und somit als einer Entwicklung unterworfen ansieht. Während eine postmoderne Beliebigkeit strikt abgelehnt wird, ist der Evolutionäre Humanismus in dieser Hinsicht anschlussfähig an postmoderne Diskurse, welche die Begrenztheit und Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis betonen. 6. Fazit und Ausblick Der Beitrag wirft ein Problem auf, dessen Bearbeitung bisher nicht nur in der fremdsprachendidaktischen Diskussion gemieden wird: das bisweilen angespannte Ver- Der Evolutionäre Humanismus 53 47 (2018) • Heft 1 hältnis zwischen einer säkularen Ethik, die sich als universell versteht, und religiös begründeten Wertvorstellungen. Lehrkräfte fremder Sprachen haben in besonderem Maße den Auftrag, Lernende auf den kritischen Umgang mit kulturellen Fremdheitserfahrungen vorzubereiten. Zu diesen gehören auch religiös begründete Wertvorstellungen und somit deren oft schwieriges Verhältnis zum liberalen Verfassungsstaat. Lehrkräfte sind daher in besonderem Maße darauf angewiesen, dass die hier aufgeworfenen Probleme diskutiert werden, damit eine tragfähige ethische Rahmung Eingang in administrative und curriculare Vorgaben für den Fremdsprachenunterricht findet und so eine kritische Bewertung eigener und fremder Diskurse möglich wird. Der Evolutionäre Humanismus stellt eine solche Rahmung mit Kultur(en) und Religion(en) übergreifendem Geltungsanspruch dar. Er wäre auf die drei zu Beginn genannten Reflexionsebenen des Fremdsprachenunterrichts gleichermaßen anwendbar. So würde er es etwa ermöglichen, rassistische Inhalte in Lehrbüchern zu kritisieren, da solche Inhalte für die betroffenen Menschen eine diskriminierende und leidvolle Erfahrung bedeuten. Dies geht aus deutlich aus den Worten von Raad hervor, des irakischen Gastes der eingangs zitierten belgischen Übersetzerin Lemaire. Quand on m'a traduit la phrase, j’ai été surpris. Et ces mots, je ne les ai pas appréciés parce qu’on a beaucoup souffert en Irak. Des bombes... des voitures piégées... tout le monde le sait. Je ne sais vraiment pas quoi dire et je suis vraiment très triste. 2 Literatur B ACH , Gerhard (2010): „Mediating ,Self‘ and ,Other‘ in Intercultural Learning“. In: C ASPARI , Daniela / K ÜSTER , Lutz (Hrsg.): Wege zu interkultureller Kompetenz. Frankfurt/ M.: Lang, 17- 28. B AYERTZ , Kurt ( 2 2014): Warum überhaupt moralisch sein? München: Beck. B UGGLE , Franz (2004): Denn sie wissen nicht, was sie glauben: Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. 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