eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 47/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2018
471 Gnutzmann Küster Schramm

Überfachliches Lernen durch Ungewissheit?

2018
Andreas Bonnet
Elisabeth Bracker da Ponte
47 (2018) • Heft 1 © 2018 Narr Francke Attempto Verlag A NDREAS B ONNET , E LISABETH B RACKER DA P ONTE * Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? Social skills und Reflexivität im kooperativen Englischunterricht Abstract. Present day society is marked by complexity and uncertainty in the political, economic, educational arena to name just a few (e.g. B ECK 1986; W IMMER 2014), posing growing challenges to its members. In order to cope with these challenges social skills and reflexivity are becoming increasingly important. This article focuses on how English language classrooms can contribute to these generic competences. Relevant literature in the field of EFL learning and teaching suggests that certain aspects of cooperative learning may contribute to these skills. The article presents the main findings of three empirical studies which analyzed students’ interaction in cooperative settings. All three projects display generic skills in different ways. In this article, these findings are compiled systematically for the first time. It focuses on the questions of how social and individual skills and reflexivity interplay in the students’ group interactions and what role these skills play in the process of coping with uncertainty. 1. Einleitung Sprach man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schon vom Ende der Geschichte und befand sich Europa seit dem Vertrag von Maastricht auf einem scheinbar unumkehrbaren Weg zu immer stärkerer Integration, zu Frieden und Wohlstand, so entspricht dies spätestens seit Finanz- und Flüchtlingskrise nicht mehr der Wahrnehmung breiter Teile der europäischen Bevölkerung. Diese Ereignisse haben Konflikte und Problemlagen nach Europa getragen, vor denen sich die EU zuvor abschotten zu können glaubte. Nicht zuletzt als Reaktion darauf ist der Populismus in Europa wieder erstarkt und droht, durch z.B. EU und KSZE etablierten Multilateralismus und kooperative Friedensarchitektur durch Nationalismus und Sündenbocktheorie zu ersetzen. Dies bestätigt Voraussagen von bereits in den 1980er Jahren vorgenommenen Gesellschaftsanalysen, aus denen wir wesentliche Aspekte im Folgenden exempla- * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Andreas B ONNET , Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Von-Melle-Park 8, 20146 H AMBURG E-Mail: Andreas.Bonnet@uni-hamburg.de Arbeitsbereiche: Didaktik der englischen Sprache und Literatur Dr. Elisabeth B RACKER DA P ONTE , Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Von- Melle-Park 8, 20146 H AMBURG E-Mail: Elisabeth.Bracker@uni-hamburg.de Arbeitsbereiche: Didaktik der englischen Sprache und Literatur 26 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 risch nennen werden. Nicht nur der Glaubwürdigkeitsverlust der „großen Erzählungen“ (L YOTARD 1986), sondern auch der rasante technologische Wandel und die nicht abzusehenden Risiken des Klimawandels (vgl. B ECK 1986) sowie zunehmende (transkontinentale) Migration führen zu einer wachsenden Komplexität der gesellschaftlichen und politischen Diskurse und Perspektiven. Wir befinden uns in der sog. „zweiten Moderne“ (ebd.), in der Entscheidungen nicht mehr auf sicher geglaubtem Wissen beruhen, gewachsene soziale Strukturen sich zunehmend auflösen und vertraute Institutionen wie der Nationalstaat oder die Erwerbsarbeit ihre Konturen verlieren (vgl. B ÖHLE / W EIHRICH 2009: 9). Diese Komplexität stellt die Einzelnen vor große Herausforderungen. Wir befinden uns gegenwärtig in kulturellen, gesellschaftlichen und globalen Transformationsprozessen, „durch die die Grundkoordinaten unseres In-der-Welt-Seins erschüttert, traditionelle Bindungen und Gewissheiten aufgelöst und selbst die Versuche, die Situation zu begreifen, auf eine harte Probe gestellt werden“ (W IMMER 2014: 49). Wir schließen uns dieser Sichtweise an, welche die Auflösung von Gewissheit und damit die Zunahme von Ungewissheit - oder in der Sprache der Soziologie: das Kontingenzproblem - als zentrale Herausforderungen benennt. Ausgehend von dieser Gegenwartsanalyse müsste man hoffen, dass der produktive Umgang mit Ungewissheit im Sinne der Anerkennung von Hybridität als unhintergehbare Bedingung jeglicher Identitätskonstruktion zu individuellen und kollektiven Aushandlungsprozessen in diskursiven dritten Räumen führt (vgl. z.B. B HABHA 1994). Stattdessen scheint aber die faktisch vorhandene Komplexität eher den breiten Wunsch nach Schließung von Ungewissheit und damit Vereinfachung auszulösen. Dies hat in den letzten Jahren insbesondere in Nordamerika und Europa zu einer erheblichen Zunahme populistischer Stimmen und Parteien geführt, die für viele der schwierigen Fragen vorgeblich einfache Erklärungen liefern, in ihrer Grundhaltung allerdings antipluralistisch und antidemokratisch sind (vgl. M ÜLLER 2016: 19). Von dieser Zustandsbeschreibung gehen wir aus und fragen mit Michael W IMMER : Was sind die Aufgaben jedweder Pädagogik, die in der krisenhaften Entwicklung der Neuzeit mit einem zunehmend unbestimmten Zukunftsbezug konfrontiert ist (vgl. W IMMER 2014: 45)? Und wir fragen in deren Konkretisierung: Was muss der Fremdsprachenunterricht in diesem Kontext beitragen und wie kann er das leisten? Im Vorgriff auf die zu diskutierenden empirischen Ergebnissen scheinen uns social skills und Reflexivität gleichermaßen gefordert. 2. Überfachliches Lernen zwischen skill-Orientierung und Reflexivität Auf gesellschaftlicher Ebene ist soziale Teilhabe vermutlich die stärkste Antwort auf die oben skizzierte Problemlage. Sie ist als allgemeines Menschenrecht und nachfolgend in vielen Verfassungen verankertes Grundrecht der menschenwürdigen Partizipation in einem die materiellen und kulturellen Rechte des Individuums schüt- Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 27 47 (2018) • Heft 1 zenden Gemeinwesen verbrieft. Zum einen wird darunter die Möglichkeit zur Zugehörigkeit zur Gesellschaft verstanden, die über eine rein materielle und rechtliche Gleichstellung hinausgehen muss (vgl. A LICKE / L INZ -D INCHEL 2012). Zum anderen ist damit der Begriff der Partizipation eng verknüpft, der als aktive Mitgestaltung der Gesellschaft durch das Einbringen eigener Ideen in einen demokratischen Diskurs verstanden wird (vgl. N ULLMEIER 2010: 32). Dementsprechend kommt dem Schul- und Bildungswesen die Aufgabe zu, als Übungsstätte für demokratisches Handeln zu fungieren, in der „die Normen der Gleichbehandlung und der gleichberechtigten Partizipation als legitime Erwartungen sozialisiert“ werden (F END 2008: 79). Diese Zielvorgabe gilt auch für den Fachunterricht, und sie findet sich folgerichtig in institutionellen Vorgaben. So fragt z.B. der GeR, wie „Sprachenlernen ihre [der Sprachlernenden; Anm. AB/ EB D P] persönliche und kulturelle Entwicklung als verantwortungsbewusste Bürger in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft am besten fördern kann“ (E UROPARAT 2001: Einleitung Kapitel 4). Darauf verweist auch das Konzept der Lernerautonomie. Deren Ziel bestimmt B ENSON (2001: 14) mit Bezug auf das CRAPEL-Projekt des Europarats als „the need to develop the individual’s freedom by developing those abilities which will enable him to act more responsibly in running the affairs of the society in which he lives“. In einem ersten Schritt verstehen wir somit überfachliches Lernen als Entwicklung einer Form von Lernerautonomie, die zu sozialer Teilhabe befähigt. Lernerautonomie aber hat - und dies weiterhin mit B ENSON (2001: 19) gesprochen - zwei „Gesichter“. Sie kann als Frage nach den für individualisiertes Lernen beim Individuum notwendigen sozialen und selbstbezogenen Fertigkeiten und Strategien aufgefasst werden. Sie muss aber auch, und dies wird von wachsender Ökonomisierung des Bildungssystems zunehmend unterdrückt (vgl. ebd.: 20), als reale Ermächtigung der Lernenden verstanden werden, ihr Lernen und späterhin ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die erste Sichtweise werden wir im Folgenden als skill-Orientierung bezeichnen. Sie entspricht vom Ansatz her dem aktuell dominanten psychologisch orientierten Kompetenzdiskurs mit seiner Trias aus kognitiven, selbstbezogenen und sozialbezogenen Kompetenzen (vgl. K LIEME / H ARTIG 2007: 20) und bezieht sich besonders auf die beiden letztgenannten Fähigkeiten der Trias. Die zweite Sichtweise schließt unmittelbar an die einführende Gesellschaftsanalyse an und argumentiert, dass schulische Bildung nicht als schlichte Weitergabe existierender kultureller (Wissens-)Bestände verstanden werden kann. Stattdessen muss sie als intergenerationelle Interaktion (vgl. P EUKERT 1998) aufgefasst werden, in der erwachsene und nachwachsende Generationen Lösungen für bestehende Probleme entwickeln. Normativ müsse dies in einer Haltung „praktischer Solidarität“ (ebd.) geschehen, in der die erwachsene Generation nicht mit einer Defizitperspektive handelt, sondern zunächst davon ausgeht, dass die von der nachwachsenden Generation entwickelten Ideen funktional sind. Dazu müsse der institutionelle Rahmen, in dem sich derartige Inszenierungen vollziehen, reflexiv eingeholt werden, indem Lehrer/ -innen und 28 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 Schüler/ -innen gemeinsam soziale Regeln und Bewertungsformen aushandeln. Dies deckt sich mit der Zielbeschreibung für Lernerautonomie, nämlich „the development of a capacity for reflection and analysis, central to the development of learner autonomy“ (L ITTLE 1996, zitiert nach B ENSON 2001: 14). 3. Wege zu überfachlichem Lernen Damit ist das Zielspektrum überfachlicher Lernziele des Englischunterrichts zwischen skill-Orientierung und der Entwicklung von Reflexivität benannt. Wie kann Englischunterricht zu diesen überfachlichen Lernzielen beitragen? Inhaltlich ließe sich argumentieren, dass Reflexion über Sprache, der Umgang mit Literatur oder auch die Auseinandersetzung mit kulturellen Gehalten Beiträge zu den oben genannten überfachlichen Lernzielen liefern. Da dies andernorts bereits geschehen ist (z.B. F AIRCLOUGH 2014, D ECKE -C ORNILL 2007), möchten wir an dieser Stelle einen bislang wenig beleuchteten Aspekt betrachten und die unterrichtliche Interaktion selbst thematisieren, insbesondere den Aspekt der Kooperativität. Dies deckt sich mit dem oben verfolgten Ansatz von Lernerautonomie, denn B ENSON (2001) hält mit Bezug zu L ITTLE (1996) fest, dass kooperatives Arbeiten den Lernenden ermögliche, die eigene Reflexivität durch Internalisierung der von Kooperationspartner/ -innen gegebenen Rückmeldungen zu entwickeln. In der Literatur finden sich zahlreiche Hinweise darauf, in welchen Bereichen Kooperatives Lernen (KL) förderlich für diese Fähigkeiten ist. Wir werden nacheinander referieren, welchen Beitrag KL zum Erwerb von skills und Reflexivität leistet und welche Rolle Ungewissheit dabei spielt. Beim Erreichen sozialer Ziele sind insbesondere die Arbeiten von J OHNSON / J OHNSON (1994, 2003, 2015) von Bedeutung. Deren eigene, sozialpsychologisch ausgerichtete und mit dem Konstrukt der sozialen Interdependenz (vgl. auch W ÜRFFEL 2007) gerahmte Untersuchungen sowie von ihnen durchgeführte Metaanalysen bringen folgende auf soziale Interaktion und soziale Kompetenzen bezogene Effekte zu Tage. Metaanalytisch belegt ist, dass Schüler/ -innen durch KL ein erhöhtes Vertrauen innerhalb der Interaktionssituation erlangen (vgl. J OHNSON / J OHNSON 1994: 53f.) und dass sich soziale Unterstützung erhöht (hierzu wie auch zum Folgenden vgl. ebd.: 62-69). Mit zahlreichen Einzelstudien belegt ist, dass KL soziale Kompetenz generell und insbesondere die Fähigkeit der Perspektivübernahme signifikant erhöht. Zwei weitere Studien stellen eine Förderung der sozialen Entwicklung fest. Auf dieser Basis ließe sich schlussfolgern, dass KL zum Erreichen überfachlicher Lernziele beiträgt - mittelbar, indem es Lernende emotional und durch gegenseitige Unterstützung öffnet und ihnen so hilft, in intensive Interaktion zu treten. Darin kann die für das Zustandekommen von Lernerautonomie zentrale Internalisierung von Feedback erfolgen. Unmittelbar trägt KL dazu bei, indem soziale Kompetenzen, insbesondere die Fähigkeit der Perspektivübernahme gefördert werden. Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 29 47 (2018) • Heft 1 Im Bereich der auf das Selbst gerichteten Ziele ist das Zustandekommen eines positiven allgemeinen und fachbezogenen Selbstkonzepts metaanalytisch belegt (vgl. ebd.: 67). Mehrere Studien zeigen, dass sich durch KL die positive Einstellung zum Fach und die Lernmotivation erhöhen (vgl. ebd.: 58). Dies sind wesentliche Aspekte von Lernerautonomie, denn aus ihnen konstituiert sich die in der pädagogischen Psychologie für autonomes Lernen vorausgesetzte Fähigkeit zur Selbstregulation (vgl. z.B. S CHÜTTE / W IRTH / L EUTNER 2010). Diese Fähigkeit wird auch insgesamt weiterentwickelt, da sich Lehrer/ -innen - so W ÜRFFEL (2007: 3) mit Bezug auf S CHWERDTFEGER (2001) - die Möglichkeit biete, „stärker auf die individuellen Bedürfnisse der Lernenden einzugehen, d.h. konsequent eine Binnendifferenzierung vorzunehmen und die Selbststeuerungskompetenz der Lernenden zu fördern“. In Bezug auf Ungewissheit scheint KL in zwei Richtungen zu wirken. Zum einen dürfte jegliche Öffnung des Unterrichts zu einer Erhöhung von Ungewissheit führen. So konstatieren H ELSPER et al. (2003: 147): „[...] die Ersetzung der Lehrerzentrierung durch eigengesteuerte Schüler-Schüler-Kooperation mindert nicht die Ungewissheit, sondern fügt eine zusätzliche Komplexitätsebene hinzu, die auch als Ungewissheitssteigerung verstanden werden kann“. Darüber hinaus wirkt tatsächlich realisierte Kooperativität unterstützend, so dass KL als Lerngelegenheit für den produktiven Umgang mit Ungewissheit betrachtet werden kann. Ungewissheitstoleranz ist aber nicht nur Ergebnis, sondern auch Voraussetzung von KL, denn von ihr hängt der Kompetenzerwerb in kooperativen Lernumgebungen ab (H UBER et al. 1992). Ähnliches gilt für die Lehrpersonen. Da sie mit dem Technologiedefizit von Unterricht konfrontiert sind, entscheidet ihre Ungewissheitstoleranz mit darüber, wie offen sie ihren Unterricht anlegen (vgl. z.B. D ALBERT / R ADANT 2010). Aus diesen Überlegungen ergeben sich die Fragen, inwieweit kooperative Lernumgebungen im Englischunterricht zum Erwerb von als skills verstandenen überfachlichen Kompetenzen führen, inwieweit sie zu Reflexivität beitragen und welche Rolle dabei die Ungewissheit der kooperativen Settings spielt. Diese Fragen werden wir nun empirisch betrachten. 4. Empirische Betrachtung: Überfachliche Lerngelegenheiten durch Kooperatives Lernen im Englischunterricht Wir haben in den letzten Jahren mehrere Projekte durchgeführt, in denen wir die peer-to-peer-Interaktion beforscht haben. Trotz ihrer fachdidaktischen Schwerpunkte ist in allen Projekten die überfachliche Seite prominent hervorgetreten. Für den vorliegenden Aufsatz haben wir diese überfachlichen Ergebnisse erstmals verknüpft. Die Klammer bilden die oben herausgearbeiteten drei Elemente überfachlichen Lernens (social skills, Reflexivität, Umgang mit Ungewissheit), die wir nachfolgend anhand von empirischen Daten aus drei unterschiedlichen Forschungsprojekten betrachten. Um die drei Projekte knapp in ihren wesentlichen Parametern beschreiben zu können, verwenden wir die Unterscheidung zwischen Aufgaben- 30 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 struktur (academic task structure, ATS) und Partizipationsstruktur (social participation structure, SPS), so wie sie von E RICKSON (1982) vorgeschlagen wurde und in der Mathematikdidaktik (K RUMMHEUER 1997) und der Englischdidaktik (z.B. B ONNET 2004, 2012, B RACKER 2012) zur Anwendung gekommen ist. Für jedes der drei Projekte werden wir angeben, wie stark ATS und SPS vorstrukturiert waren, da sich zeigen wird, dass diese Vorstrukturierung ein wesentliches Kriterium dafür ist, welche Prozesse in den Lernumgebungen ablaufen. Aus Platzgründen stellen wir lediglich zwei Projekte ausführlich und eines summarisch vor. 4.1 Projekt 1: Kooperatives Lernen im Englischunterricht Wir steigen in den empirischen Teil mit einer Untersuchung ein, die vier Englischlehrer/ -innen dabei begleitete, wie sie in den Schuljahren 5 bis 7 KL in ihren Englischunterricht integrierten. Die Rolle der wissenschaftlichen Begleitung bestand darin, die Professionalisierungsprozesse der Lehrer/ -innen mit Interviews (vgl. B ONNET / H ERICKS 2014) und den Unterricht per Videographie zu rekonstruieren, so dass die tatsächlich zustande gekommene Kooperativität systematisch bestimmt werden konnte. Die ATS nahm in ihrer Komplexität bis zur Klasse 7 stetig zu, war aber durch das Formulieren von Teilaufgaben immer klar vorstrukturiert. Die SPS war im ersten Jahr ebenfalls stark vorstrukturiert, da v.a. Mikromethoden wie z.B. Gruppenpuzzle oder Placemat zum Einsatz kamen. Im zweiten Jahr wurde die SPS offener, da komplexere Makromethoden - darunter auch ein Projekt - zum Einsatz kamen, in denen die Lernenden sich stärker selbst organisieren mussten. Die Videographien von Gruppenarbeiten verdeutlichen, dass sich die sozialen und selbstbezogenen Kompetenzen der Schüler/ -innen im Laufe der Jahre merklich verändern. Im ersten Projektjahr finden sich noch zahlreiche wenig produktive Interaktionen. Als Grund dafür lässt sich plausibel ein Mangel an sozialen Fähigkeiten der Schüler/ -innen annehmen. Ein typischer und immer wieder auftretender Konfliktgrund in den kooperativen Kleingruppen ist das sog. Trittbrettfahren. Nicht selten sind es einzelne Schüler/ -innen, die den überwiegenden Teil der Arbeit machen, während sich der Rest der Kleingruppe ausklinkt. Regelmäßig wird dies auch thematisiert, so wie in dieser Gruppe in Klasse 5: Cf: soll ich übersetzen (.) ihr habt Spaß ihr lacht Bf: wir lachen ( ) Df: ihr quatscht Af: und du bist die Arbeiterin die ihre Arbeit macht Df: ((stöhnt, fasst sich an den Kopf)) (Eng5SB: 658-662) Die Gruppe bewegt sich nahezu über die gesamte für die Aufgabe zur Verfügung stehende Zeit in folgendem Konflikt: In erster Linie Df und in zweiter Linie auch Cf machen die Arbeit, Af und Bf hingegen beschäftigen sich anderweitig oder behindern sogar das Vorankommen. Die Lehrerin interveniert zwei Mal in der Gruppe, Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 31 47 (2018) • Heft 1 und erst die dritte Intervention zeigt Wirkung: „This is also a test for girls working in groups and if it doesn’t work then we can’t do that again“ (Eng5SB: 650-651). Auf den ersten Blick ist damit zu Beginn des Projekts deutlich, dass ein gewichtiger Anteil der Lernprozesse im sozialen Bereich liegt. Während die Lehrerin hier situativ droht, finden an anderer Stelle auch systematische Reflexionen über produktives Agieren in Gruppen statt. Derartige Sequenzen sind in den Gruppenphasen des letzten Jahres hingegen die Ausnahme. Dort finden sich in der Mehrzahl komplexe und produktive Aushandlungsprozesse. Die dort sichtbaren sozialen und selbstbezogenen skills bestehen darin, dass die Schüler/ -innen sehr stringent und ritualisiert ihre Arbeit organisieren (z.B. verteilen Gruppen immer wieder mit dem Fingerspiel „Schere-Stein-Papier“ ihre Gruppenrollen), ihre Interaktion strukturieren (z.B. gemeinsam einen nächsten Arbeitsschritt beraten), sich gegenseitig relevante Wissensbestände weitergeben (z.B. im Wörterbuch recherchierte Wortbedeutungen austauschen), ihre Interessen artikulieren (z.B. darauf hinweisen, dass man mit einer bestimmten Arbeitsverteilung nicht zufrieden ist) und produktiv mit Konflikten umgehen (z.B. Missfallen äußern und Kompromisse finden). Man kann insgesamt feststellen, dass die Schüler/ -innen über die drei Projektjahre deutlich an sozialen und selbstbezogenen Kompetenzen gewinnen. Die Entwicklung der sozialen und selbstbezogenen skills der Lernenden in diesem Projekt lenkt den Blick darauf, dass derartige Fähigkeiten einerseits ein mögliches Produkt von KL im Englischunterricht, andererseits aber auch auf niedrigerer Stufe dessen notwendige Voraussetzung darstellen. 4.2 Projekt 2: Chemie im bilingualen Unterricht Weitere relevante soziale Fähigkeiten wurden im zweiten Projekt (B ONNET 2004) rekonstruiert. In einer experimentellen Lernumgebung mit gesteigerter Ungewissheit ließen sich insgesamt vier überfachliche skills aus dem Datenmaterial herausdestillieren, die sich als unmittelbar relevant für die erfolgreiche Arbeit in den Gruppen erwiesen haben: Etablierung einer partizipatorischen SPS, produktive Konfliktlösung, elaborierte inhaltliche Argumentation und Reflexion des Arbeitsprozesses. Der Vergleich der beiden Studien legt nahe, dass Ungewissheit als Eigenschaft der Lernumgebung einen wesentlichen Einfluss auf die zu erwartenden Lern- und Bildungsprozesse der Lernenden hat. Daher wenden wir uns abschließend einem Setting zu, in dem Ungewissheit im Vergleich zu den bisher referierten Untersuchungen nochmals gesteigert wird. 4.3 Projekt 3: Literatur im Englischunterricht In dem Projekt zu literarischer Anschlusskommunikation im Kontext von Irritation durch Verfremdung an sechs Hamburger Schulen (B RACKER 2015) wurden sowohl die inhaltliche als auch die interaktionale Struktur geöffnet: Schüler/ -innen der GyO 32 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 wurden gebeten, den zuvor individuell rezipierten deutungsoffenen Text „Girl“ von Jamaica K INCAID (1978) in Kleingruppen miteinander zu diskutieren. Sie erhielten lediglich den Impuls „Please talk about the text“. Im Vergleich zu den oben vorgestellten Projekten findet sich hier nochmals eine gesteigerte Offenheit der ATS und der SPS. Die ATS musste von den Schüler/ -innen selbst konstruiert werden. Die SPS wurde ebenfalls offengehalten, indem die Zusammensetzung der Gruppen per Losverfahren erfolgte und es keine Vorstrukturierung der Interaktion gab. Wie im Projekt im bilingualen Chemieunterricht wirken in dem offenen Setting selbstbezogene und soziale skills als Einflussfaktoren auf den inhaltlichen Ertrag der Gespräche. Allerdings zeigt sich in diesem Projekt, dass die gesteigerte Ungewissheit des Settings die zentrale Herausforderung ist, zu der sich die Gruppen je unterschiedlich verhalten. Diese Ungewissheit zeigt sich v.a. zu Beginn der Gespräche: Die Schüler/ -innen tragen erste Deutungsvorschläge des gelesenen Textes vor, die meist formelhaft sind und zu einer Komplexitätsreduktion auf der inhaltlichen Ebene führen. Lesarten werden zögerlich zur Disposition gestellt. Die Schüler/ -innen sind sich nicht sicher, wie sie ihr Vorgehen organisieren sollen und an wen sie ihr Sprechen überhaupt richten. Af: okay (.) so (.) ehm (.) so far as I have understand (.) understood the text it’s about somebody talking to a girl (.) who is so bent on becoming a slut Bf: yeah (.) I agree with you; I think the text is about how to be a good woman (.) yeah. (HG 272: 5-8) Einige Gruppen finden auch im weiteren Verlauf der Diskussion in keine organisierte Interaktion. Bei ihnen führt die Ungewissheit zu sprunghaften Themenwechseln und vorschnellen Schließungen, die einer fundierten Aufgabenbearbeitung abträglich sind. Es lässt sich insgesamt eine ‚Verlorenheit‘ innerhalb der Situation rekonstruieren. Andere Gruppen nutzen die Ungewissheit des Settings zur Sabotage der fachlichen Aufgabenbearbeitung. Sie greifen den literarischen Text zwar auf, verwenden ihn jedoch als assoziatives ‚Sprungbrett’, um durch ironische Provokation bis hin zum Tabubruch den Rahmen der Aufgabe und damit auch den schulischen Rahmen herauszufordern bzw. in kritische Distanz zu ihm zu treten. Wieder anderen Gruppen gelingt es im Diskussionsverlauf, die Offenheit auf der Ebene der SPS zu organisieren und sie damit produktiv für sich zu gestalten. In diesen Gruppen kommt es zu inhaltlichen Auseinandersetzungen mit dem Text. Sie akzeptieren das schulische Regelwerk, indem unterrichtliche Gesprächsregeln in den Gruppen entweder implizit reproduziert oder explizit festgelegt werden. So beginnt die Schülerin einer Gruppe die Diskussion wie folgt: Af: We can go like this: Everyone can say one sentence about the text and then we’re going to say what it is for the group. (LHG 285: 3). Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 33 47 (2018) • Heft 1 Die Schüler/ -innen strukturieren die komplexe Situation, indem sie die SPS und ATS bestimmen und die Aufgabe für sich bearbeitbar machen. Es ist ihnen so möglich, in einen partizipatorischen Aushandlungsprozess zu treten, der zum Teil zu produktiven Sinnkonstruktionen führt: Bf: like before she does something she can’t decide she cannot see the situation and then decide what to do. she has to do follow these patterns and just ja like we were trained to do in the abitur. - Am: like a robot. (LHG 285: 232-234) Den Schüler/ -innen gelingt es nach einem intensiven Aushandlungsprozess, den wir an dieser Stelle nicht wiedergeben können, die literarische Figur sinnstiftend auszugestalten und deren Situation reflexiv auf die eigene zurückzuführen. Im Prozess vom erfolgreichen Organisieren des interaktionalen Vorgehens bis zur Bedeutungsaushandlung wirken in den Gruppen soziale und selbstbezogene skills. Im Rahmen des Projekts zeigt sich, dass die Ungewissheit des Settings verschiedene Umgangsweisen eröffnet. Einerseits führt sie zu einer ‚Verlorenheit‘ in der Situation, in der sinnstiftende Bedeutungsaushandlung nicht möglich ist. Andererseits bietet sie Gelegenheit zur Sabotage der fachlichen Auseinandersetzung. Nicht zuletzt eröffnet sie die Möglichkeit einer konstruktiven Bearbeitung. Wie die Schüler/ -innen mit der Ungewissheit umgehen, hängt zentral davon ab, ob soziale und selbstbezogene skills zum Tragen kommen. 4.4 Diskussion Damit ergibt sich im Fallvergleich der drei Untersuchungen in pseudo-längsschnittlicher Perspektive folgendes Ergebnis: Es ist einerseits klar zu erkennen, dass der in den Klassen 5-7 durchgeführte kooperative Englischunterricht zu einem deutlichen Zuwachs an sozialen und selbstbezogenen Kompetenzen geführt hat. In der Terminologie B ENSONS (2001: 20) wäre dies ein soziales und selbstbezogenes Lernen im Bereich von skills und Strategien. In den beiden anschließend resümierten Untersuchungen hat sich gezeigt, dass derartige Kompetenzen notwendig sind, um das Lern- und Bildungspotenzial kooperativer Lernumgebungen mit gesteigerter Ungewissheit ausschöpfen zu können. Im Vergleich der drei Untersuchungen zeigt sich außerdem, dass die Ungewissheit kooperativer Inszenierungen in Zusammenhang mit ihrem Bildungspotenzial steht: In dem am meisten strukturierten Setting in Klasse 5-7 sind keine Reflexionen auf den organisational-institutionellen Rahmen zu finden. Im inhaltlich und interaktional deutlich ungewisseren Setting in Klasse 10 thematisieren die Schüler/ -innen hingegen diesen Rahmen, um ihr Verhalten und ihre Vorschläge zu begründen. Sie erzeugen somit implizite Reflexionen (vgl. B OHNSACK 2014: 44). In den peer-to-peer-Interaktionen zu Literatur, dem Setting mit der größten Ungewissheit durch maximale Offenheit, kommen auch die am weitesten führenden Reflexionen zustande: Die Schüler/ -innen erlangen Bewusstheit in Bezug auf den sie 34 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 umgebenden Rahmen und positionieren sich implizit und explizit zu ihm. Für uns erscheint es plausibel, diese kritische Distanznahme als Akt der Emanzipation zu verstehen, mit dem die Schüler/ -innen sich zu ihrem Schüler/ -innensein verhalten und damit ihr Selbst- und Weltverhältnis in der organisational-institutionellen Struktur Schule reflektieren. Durch diese gesteigerte Bewusstheit wird es ihnen möglich, verantwortungsbewusster in der Gesellschaft zu handeln, in der sie leben (vgl. B ENSON 2001: 11). In der Definition nach B ENSON haben sie damit den auf Reflexivität gerichteten Anteil von Lernerautonomie erlangt. Ist gesteigerte Ungewissheit, die für die Schüler/ innen ja auch die Gefahr der ‚Verlorenheit‘ birgt, nun aber notwendig, um den Rahmen selbst reflexiv zugänglich zu machen, oder ist dies auch dadurch möglich, dass der Rahmen, z.B. das eigene Handeln als Schüler/ -innen, explizit in einer interaktional geschlossenen Inszenierungsform thematisiert wird? 4.5 Ergänzung: Die Lehrerperspektive Wir blicken dazu noch einmal auf die erste Untersuchung, dieses Mal mit besonderem Fokus auf die Teilstudie zur Professionalisierung (vgl. B ONNET / H ERICKS 2014). Aus Sicht der Lehrerin Silke Borg sind große Zweifel geboten, ob eine explizite Behandlung des Rahmens und damit die Herbeiführung eines Bildungsprozesses durch explizite Thematisierung auf inhaltlicher Ebene möglich ist. Sie äußert sich im Interview frustriert darüber, dass schon deutlich weniger reflexive von ihr beabsichtigte Lernprozesse nicht stattfinden, weil die Schüler/ -innen die intendierte Reflexionshöhe und Komplexität unterlaufen. Schon im Eingangsinterview benennt sie als Problem, „dass die Schüler sehr darauf geschult sind, gefüttert zu werden mit Informationen und sehr genau gesagt bekommen wollen, was sie zu tun haben“ (SB1, 688-690). Obwohl sie im Laufe der zwei Projektjahre sehr angetan davon ist, dass die Schüler/ -innen selbständiger werden (z.B. in der Wörterbucharbeit und in der eigenen Arbeitsorganisation), verändert sich eine Tatsache nicht. So sagt sie im Abschlussinterview: Die sind noch sehr stark ähm projektorientiert, produktorientiert. So wir machen jetzt ein Projekt und dieses Projekt wird dann kooperativ aussehen und da muss ein Produkt sein, was ich irgendwie messen kann. (SB4, 443-446) Die Lehrerin schreibt hiermit den Schüler/ -innen eine umfassende und auf Bewertung fokussierte Produktorientierung zu, welche die von ihr eröffneten Räume für eigene Kreativität, produktive Umwege und Komplexität schließt. Sie beklagt damit, dass Schüler/ -innen in einem Orientierungsrahmen der Benotung bleiben, deshalb keine den Vorstellungen der Lehrerin entsprechende inhaltliche Komplexität bewerkstelligen und aus ihrer Sicht auch nicht individuell bedeutsame Produkte erzeugen. Dies ist jene Haltung, die B REIDENSTEIN (2006) in seinen Unterrichtsethnographien als konstitutiv für den „Schülerjob“ rekonstruiert. Mit ihrem nächsten Satz macht die Lehrerin allerdings klar, dass nicht nur die Schüler/ -innen, sondern Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 35 47 (2018) • Heft 1 auch die Lehrer/ -innen gemeint sind, denn sie äußert: „Wir haben ja ständig diese Messbarkeitsphobie“ (SB4, 446). Detaillierte Analyse und sequenzieller Vergleich (vgl. B ONNET / H ERICKS 2014) ergeben, dass sie die kooperative Praxis in ihrer Klasse in einem Orientierungsrahmen permanenter Bewertung erlebt. Im weiteren Interview reflektiert sie implizit, dass sie selbst diesen Rahmen (re-)produziert. Genauso deutlich wie diese Verantwortlichkeit der Lehrerin für die Habitualisierung des Rahmens ist aber auch, dass sie selbst diesen Rahmen als kritikwürdig, ja: nimmt man den Begriff der Messbarkeitsphobie ernst, sogar als krankhaft erlebt. Dennoch haben ihre Schüler/ -innen und sie diesen Rahmen in den drei Jahren des Projekts letztlich nicht verlassen. Silke Borg zieht nach Ende des Projekts das Fazit, dass sie KL zukünftig nur insoweit durchführen wird, als es in diesem Rahmen der Bewertung von allen durch alle möglich ist. Sehr pointiert: Mikromethoden mit Bewertung durch die Lehrerin ja, Makromethoden und Selbst- oder peer-Bewertung nein. 5. Zukünftige Chancen überfachlichen Lernens Empirisch hat sich gezeigt, dass KL im Englischunterricht mit dem überfachlichen Ziel sozialer Teilhabe eine Herausforderung sowohl für die Schüler/ -innen als auch die Lehrer/ -innen darstellt. Die empirischen Befunde weisen darauf hin, dass diese Herausforderung vor allem im Umgang mit Ungewissheit liegt, welche kooperativen Settings in unterschiedlicher Ausprägung eigen ist. Für die produktive Bewältigung von Ungewissheit scheinen wiederum soziale und selbstbezogene skills sowie Reflexivität zentral. Besonders interessant ist, dass sich empirisch zwei Formen von sozialem und selbstbezogenem Kompetenzerwerb unterscheiden lassen. Einerseits haben wir es mit sozialem und selbstbezogenem Lernen im engeren Sinne zu tun, wenn Schüler/ -innen ohne den sie umgebenden Rahmen zu reflektieren Fertigkeiten und Strategien entwickeln, mit denen sie peer-to-peer-Interaktion produktiver gestalten können. Diese Fähigkeiten lassen sich in kooperativen Lernformen erwerben, deren Ungewissheit zunächst sehr niedrig ist und dann über mehrere Lernjahre langsam gesteigert wird. Diese Fähigkeiten erweisen sich andererseits als Voraussetzung dafür, mit gesteigerter Ungewissheit produktiv umzugehen. Diese gesteigerte Ungewissheit wiederum scheint die Voraussetzung dafür, dass der institutionell-organisationale Rahmen selbst ins Blickfeld gerät und die Schüler/ -innen damit Reflexivität entwickeln können. In der Diktion der transformatorischen Bildungstheorie könnte man zwischen einerseits sozialem und selbstbezogenem Lernen und andererseits sozialer und selbstbezogener Bildung unterscheiden. Ersteres lässt sich zunächst mit der schulisch verankerten umfassenden Bewertungspraxis vereinbaren. Kooperative Settings mit eingeschränkter Ungewissheit entziehen sich nicht zwingend der je habitualisierten Bewertungspraxis. Im Sinne einer klaren Produktorientierung lassen sich 36 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 Mikromethoden, die entlang der Basiselemente kooperativen Lernens inszeniert werden, in den Fremdsprachenunterricht integrieren, ohne dass Lehrer/ -innen und Schüler/ -innen dabei den habitualisierten Rahmen verlassen müssen. Die in diesem Rahmen erwerbbaren sozialen Fertigkeiten sind hilfreich, vermutlich sogar notwendig, um später unter den Bedingungen gesteigerter Ungewissheit handlungsfähig zu werden. Offen hingegen bleibt die Frage nach der Ermöglichung von sozialen bzw. selbstbezogenen Bildungsprozessen unter der Voraussetzung gesteigerter Ungewissheit im Unterricht. Die Herausforderung derartiger Inszenierungen liegt darin, dass sie den Rahmen der Bewertungslogik überschreiten bzw. sich ihm widersetzen und sich jenem didaktischen Denken entziehen, das auf Planung, Vergewisserung und Schließung ausgerichtet ist (vgl. H ELSPER et al. 2003: 11). Ermöglichen Lehrer/ -innen derart offen und ungewiss inszenierte Settings, wird der organisationalinstitutionelle Rahmen selbst reflexiv infrage und damit zur Disposition gestellt. Da die Akteure per Subjektivation (B UTLER 2001) aus diesem Rahmen auch ihre bisherige Subjektposition als Lehrer/ -innen bzw. Schüler/ -innen gewinnen, ist dieser Schritt der Emanzipation ein potenziell Angst erzeugender Aufbruch ins Ungewisse. Umfassende Lernerautonomie, mit ihr schulische Teilhabe und die Befähigung zu gesellschaftlicher Partizipation sind aber ohne diese Infragestellung nicht möglich. Wenn der institutionelle Rahmen, in dem überfachliches Lernen und Bildung geschehen sollen, genau dies nur eingeschränkt ermöglicht, dann ist Englischunterricht erst dann allgemeinbildend, wenn er diesen Rahmen zur Disposition stellt und - falls notwendig - zumindest situativ suspendiert. Dazu sehen wir drei Wege. Aus den theoretischen Gedanken im Anschluss an Peukert ergibt sich die erste Option, nämlich Englischunterricht als intergenerationelle Kommunikation durch umfassende (weil den institutionell-organisationalen Rahmen einbeziehende) Bedeutungsaushandlung zu gestalten. Methodische Möglichkeiten dazu haben wir andernorts bereits angedeutet (B ONNET / B REIDBACH 2007). Die zweite Option begreift die ablehnenden, ironisierenden oder assoziativen Äußerungen der Schüler/ -innen als ernst gemeinte Zurückweisung bzw. Subversion des gesetzten Rahmens. Darin liegt ein für die „Entwicklung einer autonomen, originären Identität“ (G RUEN 2012) notwendiger Ungehorsam (G RUEN 2014), der jenen Rahmen zerstört, welcher die Anknüpfung an die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, sensu Entwicklungsaufgaben, verhindert. Damit treten überfachliches Lernen und Bildung in ein dialektisches Verhältnis zum institutionellen Rahmen. Zugespitzt: Erst durch dessen Zerstörung wird das möglich, was dieser Rahmen eigentlich herbeiführen soll. Indem die Schüler/ -innen sich dieses Rahmens bemächtigen, gelangen sie auf Augenhöhe mit den Lehrer/ -innen, die bislang diesen Rahmen allein verantwortet haben. Dadurch entsteht Teilhabe, aus der sich laut J OHNSON / J OHNSON (2003: 138f.) „ownership“ und daraus wiederum „motivation“ entwickeln. Diesem Gedanken folgend entstünde Autonomie als Fähigkeit zur Teilhabe gerade dadurch, dass die Teilhabe an einem Unterricht, den man als nicht bedeutsam erlebt, aufgekündigt wird. Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 37 47 (2018) • Heft 1 Die dritte Option setzt ebenfalls an jenen Äußerungen der Lernenden an, welche die größte Nähe zu ihren lebensweltlichen Erfahrungen aufweisen. Man kann diese Äußerungen nicht nur als Zurückweisung des Rahmens lesen. Man kann sie auch als Versuch interpretieren, jenseits der didaktischen Intentionen der Lehrer/ -innen kognitiv, emotional und mit Bezug zu ihrer Lebenswelt an die verhandelten Inhalte anzuknüpfen, indem sie nicht den literarischen Text deuten, sondern selbst literarisch aktiv werden: Poetry slam statt Analyse. Anstatt gegenüber dem Text analytisch auf Distanz zu bleiben, treten die Schüler/ -innen in dessen Modus des Fiktionalen ein und produzieren selbst Literatur. Der Ausgang dieses Experiments ist wie bei jedem kreativen Prozess offen. Ob es dabei zu schema refreshment à la C OOK oder Karneval à la B ACHTIN (vgl. D ECKE -C ORNILL 2007: 248f.) oder wozu auch immer kommt, ist offen und muss offen sein. Folgende Anschlussfragen ergeben sich für uns: Ist das, was wir hier gefunden haben, nicht einfach die Grenze jeden pädagogischen Tuns, dessen Ziel es sein muss, sich selbst überflüssig zu machen (vgl. B LANKERTZ 1982)? Und wenn das so ist, bedeutet die Tatsache, dass die Schule dies nicht tut, dass sie eben gar nicht auf Befähigung zur Teilhabe aus ist, sondern vielleicht doch nur auf „lernbezogene Menschenhaltung“ (C ARUSO 2011)? Um dies herauszufinden, müssen die Überlegungen zu Ungewissheit und Englischunterricht theoretisch vertieft und dann empirisch gewendet werden. Dies muss für den Unterricht als Interaktionsgeschehen, für die Schülerperspektive und aus Lehrersicht erfolgen. Erste Ansätze dazu (vgl. z.B. B ONNET / H ERICKS 2014) legen nahe, dass das im Fremdsprachenunterricht sehr bedeutungsvolle Lehrbuch Strukturzwänge besonders zur Geltung bringt und dass Spracherwerbsprozesse von den Lehrer/ -innen als in besonderer Weise komplex und ungewiss wahrgenommen werden. Die Bedeutung von Ungewissheit für Bildungsprozesse und die Grenzen des Handelns von Lehrer/ -innen (und Schüler/ -innen) zwischen agency und Strukturdeterminiertheit muss weiter ausgelotet werden. 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