eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 46/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2017
462 Gnutzmann Küster Schramm

Zur Einführung in den Themenschwerpunkt

2017
Heiner Böttger
4 Heiner Bö ttger 46 (2017) • Heft 2 46 Solche und andere Argumentationsstränge tauchen seit Jahren z klisch immer wieder auf und werden kurzfristig medial stark beachtet. Sie haben gerade durch ihre Nichtbeachtung belastbarer wissenschaftlicher Befunde das Potenzial, letztlich langfristig dem Grundschul-Fremdsprachenunterricht massiv zu schaden. Die Argumente beziehen sich immer wieder auch auf unterstellte mangelnde kindliche Potenziale, basieren auf den Polen Unter- und Überforderung. Kinder jedoch bringen in der Regel mit dem Eintritt in die erste Klassenstufe vor allem beträchtliche Potenziale für einen erfolgreichen Sprachlernprozess mit (s. B ÖTTGER in diesem Heft). Selbst die lange als argumentative Speerspitze der gegen frühes Fremdsprachenlernen gerichteten Diskussionen ins Feld geführte Behauptung, die Sprachentwicklung von Migrantenkindern würde unter frühem Englischunterricht leiden, muss stumpf bleiben: Sie besitzen im Gegenteil einen entscheidenden Vorteil. Werden zwei Sprachen, also Muttersprache und Deutsch, parallel gleichrangig gelernt, sind sie geradezu prädestiniert zum effizienten, raschen und weitgehend natürlichen Erwerb weiterer Sprachen, insbesondere eben auch im gerade beginnenden Englischunterricht (s. B ÖTTGER in diesem Heft). In den von Migrationseinflüssen geprägten städtischen Ballungsgebieten Europas begegnen die allermeisten Menschen heutzutage nahezu täglich - bewusst oder unbewusst - fremden Sprachen in Wort und Schrift. Dies trifft in besonderem Maße für Migranten zu, für die Deutsch eine Fremdsprache ist bzw. geblieben ist. Auch für monolingual aufwachsende deutschsprachige Kinder haben erste fremdsprachliche Begegnungen bereits gesellschaftliche Realität. Für sie hat diese erste Begegnung bereits lange vor dem institutionalisierten frühen Fremdsprachenunterricht in der Regel mit der englischen Sprache stattgefunden. Für die erste Fremdsprache in der Schule ist deshalb generell Englisch als Lingua franca gut gewählt: Englisch ist omnipräsent, nicht nur als Lehn-, Fremd- oder Modewörter und in der Sprache der Kinder- und Jugendkultur in Songs, Videos, etc. Englisch beherrscht beispielsweise die Fernseh- und Filmbranche sowie zentrale Lebensbereiche wie Kleidung, Lebensmittel und Spielwaren. Mehr als die Hälfte der technischen oder naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften der Welt sind in englischer Sprache abgefasst, über 80 Prozent der weltweit in Computern abgespeicherten Informationen und über 0 Prozent aller geschäftlichen Verträge in Europa sind in englischer Sprache formuliert. Englisch ist die Sprache der Luftfahrt, der Schifffahrt, der internationalen Touristik, der Weltkirche, der internationalen Kongresse und Gremien, vom Europarat bis zu den Vereinten Nationen. Der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule ist inhaltlich mit der englischen Sprache, der englischen Literatur und englischsprachigen Kulturen somit gut begründet und grundgelegt. Sie steht allerdings nur stellvertretend für eine Reihe von weiteren möglichen Fremdsprachen 1 , die sich als Nachbarschaftssprache sinnvoll anbieten. So wird beispielsweise Französisch im Saarland 1 Eine Übersicht hält z.B. die Studie „Bilinguale Grundschulen in Deutschland 201 “ des Vereins für frühe Mehrsprachigkeit an Kindertageseinrichtungen und Schulen FMKS e.V. bereit. www.goethe.de/ resources/ files/ pdf 2/ fmks bilinguale-grundschulen-studie201 .pdf (2 . .201 ) Z ur Einfü hrung in den Them enschw erp unk t 46 (2017) • Heft 2 46 als erste Fremdsprache an Grundschulen angeboten, wird in Rheinland-Pfalz Englisch und Französisch ab Klasse 1 in integrierter Form angeboten, und ist Niederländisch vereinzelt als frühe Begegnungssprache in niedersächsische Grundschulen integriert. Durch den ba erischen Schulversuch „Bilinguale Grundschule Französisch“ ab dem Schuljahr 201 / 18 2 wird zudem eine vorsichtige Tendenz dokumentiert, die fremdsprachliche Vielfalt in der Grundschule zu stärken. Das vorliegende Themenheft reflektiert durch die enthaltenen Beiträge (selbst)kritisch, ob sich der unbestritten große, engagierte und langjährige Einsatz und Aufwand aller Verantwortlichen für die Entwicklung des frühen Fremdsprachenlernens, hauptsächlich mit der Schulsprache Englisch, bislang gelohnt hat. Aus dieser Position heraus lässt sich dann am besten erschließen, wie es beispielsweise mit einem Grundschulfach Englisch bzw. Fremdsprache nach einer lange Zeit positiven Entwicklung weitergehen kann und soll - jedoch nicht bildungspolitisch, sondern wissenschaftlich betrachtet. Das Themenheft widmet sich der ganzen Bandbreite der Entwicklung des frühen Fremdsprachenlernens von Kindern im Grundschulalter, berücksichtigt indirekt aber auch das Vorschulalter sowie die Altersstufe der . bzw. . Jahrgangstufe. Es beschäftigt sich dabei mit der institutionellen Vermittlung insbesondere von Frühenglisch in der Vor- und Grundschule, und beinhaltet somit auch Bemerkungen zu den im Sinne eines Sprachenkontinuums besonders sensiblen Phasen an den Übergängen vom Kindergarten zur Grundschule und insbesondere von dieser in die weiterführenden Schulen. Alle Fremdsprachen, früh erlernt, schließt das Themenheft mit ein bzw. bedenkt sie indirekt mit, ebenso die parallelen Entwicklungen des frühen Fremdsprachenlernens privater, staatlich anerkannter oder genehmigter Institutionen. Englisch ist für all diese Sprachen in diesem Band beispielhaft und pars pro toto genannt. In alle Überlegungen werden neben den sprachlichen auch allgemeine, den Sprachlernprozess betreffende geistige und körperliche Entwicklungsprozesse der in den Blick genommenen Altersspanne miteinbezogen. Die Interdependenzen des Muttersprachenerwerbs bzw. des Aufwachsens in zwei Sprachen sowie das frühe Erlernen fremdsprachlicher Fertigkeiten werden ebenfalls thematisiert. Das Heft wird in drei aufeinander abgestimmten Abschnitten die Aufbau- und Konsolidierungsphase seit Einführung des frühen Fremdsprachenunterrichts bis heute beschreiben und anal sieren, den aktuellen Status uo insbesondere des institutionalisierten Englischunterrichts ausleuchten sowie Potenziale und Grenzen einer zukünftigen Entwicklung antizipieren. In einem Zugang zur Thematik fokussiert der Koordinator des Themenhefts H EINER B Ö TTGER (Eichstätt) Das frü he F rem dsp rachenlernen vor allem die sprachph siolo- 2 http: / / bildungspakt-ba ern.de/ bilinguale-grundschule-franzoesisch/ (2 . .2017) 6 Heiner Bö ttger 46 (2017) • Heft 2 46 gischen und sprachentwicklungsps chologischen Prädispositionen der Altersgruppe auf einer evidenzbasierten Grundlage. Neben s noptischen Abschnitten zu Voraussetzungen und Potenzialen werden polare Themenbereiche u.a. wie Ein- und Mehrsprachigkeit sowie Unter- und Überforderung thematisiert. Der Historischen Entstehung und Entw ick lung nimmt sich O TF RIED B Ö RNER (Hamburg) an. Singuläre wie temporäre Erscheinungen und Schulversuche erzählen entlang klar erkennbarer roter Entwicklungsfäden des frühen Fremdsprachenlernens die Geschichte einer Zeitreise, auf der wichtige begleitende Forschungsprojekte und -befunde Meilensteine eines Wandels in der auf Fremdsprachen bezogenen Bildungspolitik darstellen. Die Phase der Konsolidierung des Grundschul- Englischunterrichts reflektiert C HRISTA L OHMANN (Kiel). Von besonderem Interesse sind dabei einerseits der schwierige Prozess der flächendeckenden Einführung des frühen Fremdsprachenunterrichts und das damit einhergehende, klar erkennbare Bemühen um Gemeinsamkeiten, sowie andererseits die sprachenpolitische Diversität in den Bundesländern. Wie diese Spannungsfelder zu den heutigen länderspezifischen Ausprägungen des frühen Fremdsprachenlernens führten, wird in diesem Abschnitt des Themenheftes deutlich. S TEPHANIE F RISCH (Wuppertal) zeigt den Status q uo der Entw ick lung des frühen Fremdsprachenlernens anhand der aktuellen Forschungs- und Studienlage auf. Wie sich aus ihr das Konzept der Kompetenzorientierung sowie spezielle methodische Schwerpunkte entwickeln und auf die Lehrerbildung Einfluss genommen haben, wird einen weiteren Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen fachdidaktischen Lage bilden. Die kontrovers diskutierten Übergä nge im frü hen Englischunterricht von der Kita/ dem Kiga in die Grundschule bzw. von der Grundschule in die weiterführenden Schulen sowie den aktuellen Stand der Bemühungen um ihre Harmonisierung erörtert H ENRIETTE D AU SEND aus Chemnitz. In den Ausführungen finden die Ausbildungsstände der Lehrkräfte sowie verlässliche Kompetenzentwicklungen Berücksichtigung. O TF RIED B Ö RNER , H EINER B Ö TTGER , A DELHEID K IEREPKA (Apolda) und C HRISTA L OHMANN schlagen seit langem notwendige standardisierte Orientierungshilfen für das Fremdsprachenlernen im Grundschulbereich vor. Ihr Beitrag F rem dsp rachenn n o n f nf n basiert auf den vom BIG-Kreis 3 in der Stiftung Lernen unter der Federführung von H.-E. P IEPHO 200 erarbeiteten BIG-Standards und führt diese auf eine nächste Entwicklungsstufe. Solche umfassenden kompetenzorientierten Mindeststandards fehlen seit dieser Zeit völlig, werden seitdem weder von der Kultusministerkonferenz KMK der 3 Der BIG-KREIS (Beratungs-, Informations- und Gesprächskreis) setzt sich zusammen aus Fachleuten aus Lehre und Forschung, aus Ministerien, Staats- und Landesinstituten sowie aus der Unterrichtspraxis. Er arbeitet unter dem Dach der Stiftung LERNEN der Schul-Jugendzeitschriften FLOHKISTE und floh des DOMINO-Verlags. http: / / www.stiftung-lernen.de/ (26.0 .201 ). Die Autor(in n )en des Beitrags gehören dem Kreis an. Z ur Einfü hrung in den Them enschw erp unk t 7 46 (2017) • Heft 2 46 Länder sowie der Europäischen Union bei der Entwicklung von Standards vorgehalten. Abschließend zieht D ANIELA E LSNER (Frankfurt) eine kritische Bilanz: F rem dsp rachenunterricht in der Grundschule: W here are you going et où vastu? Bewertet werden dabei u.a. die auf das frühe Fremdsprachenlernen bezogene Aufwand-Nutzen-Relation und der Begriff der Effizienz, notwendige Unterstützungsmaßnahmen und die Tendenz zu z klisch wiederkehrenden Rückführungsversuchen in bereits überwunden geglaubte Phasen. © 2017 N a r r Fr a n c k e At t e m p t o V e r l a g © 2017 N a r r Fr a n c k e At t e m p t o V e r l a g 46 (2017) • Heft 2 46 H EINER B ÖTTGER * Frühe Fremdsprachenlerner - Prädispositionen und Potenziale A b stract. This article chronicles the development of a child s language ac uisition predisposition a n d mental capacit from preschool until the end of primar school and be ond. This fundamental information aims to provide a greater appreciation for the new and still emerging, albeit sometimes still not recognized, brain-based evidence on language-ac uisition research. Such evidence illustrates potential support for research in language development, as well as the risks of over-s t a t i n g the research. Additionall , it is suitable to suggest necessar conse uences and adaptions in language learning and teaching processes. The article further emphasizes bilingualism as a social realit and modern didactic teaching concept in earl institutionalized language learning. Growing up bilinguall in preschool and primar school is of advantage for a number of reasons. The chapter reviews the existing findings of bilingualism, including the necessar (foreign) language re uirements. 1. Kinder lernen Sprachen individuell Am Anfang aller Überlegungen zu den kindlichen Potenzialen und Möglichkeiten für das frühe Fremdsprachenlernen steht der spracherwerbliche Idealfall, eine berechenbare, vergleichbare sowie progressiv und linear verlaufende kindliche Sprachentwicklung. Er ist nie wirklich Realität gewesen noch bislang geworden, viel zu individuell verlaufen die Sprachbiografien aller Kinder nicht nur in der betreffenden Al t e r s spanne. Homogenität in institutionalisierten fremdsprachlichen Lehr-/ Lernprozessen ist somit nahezu ausgeschlossen, Differenzierung und Individualisierung sowie Inklusion sind fachdidaktisch verpflichtende Handlungsfelder für alle an diesen Lernprozessen Beteiligten (vgl. B ÖTTGER 200 : ff.). Dies schließt die Schülerinnen und Schüler in gezielten Aspekten aktiv mit ein, uasi als Selbstkonstrukteure ihres eigenen Lernprozesses. Sie bringen in der Regel mit dem Eintritt in die erste Klassenstufe beträchtliche Potenziale für einen erfolgreichen Sprachlernprozess mit, die Grundlagen dazu, auch kognitive, sind u.a. entwicklungsps chologisch und neurobiologisch gelegt. Die Kinder haben ihre Erstsprache oder ersten Sprachen, in der * K orrespond enz ad resse: Prof. Dr. H ei ner B Ö TTGE R , Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Universitätsallee 1, 8 0 2 E ICHST TT . E- Mail: heiner.boettger ku.de Arbeitsbereiche: Zwei- und Mehrsprachigkeit, Frühes Fremdsprachenlernen, Neurobiologische Spracherwerbsdispositionen.