eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 46/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2017
461 Gnutzmann Küster Schramm

Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen

2017
Waldemar Martyniuk
© 2017 Narr Francke Attempto Verlag 46 (2017) • Heft 1 W ALDEMAR M ARTYNIUK , M AŁGORZATA M ÜLLER * Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen Abstract. The respective status of the neighbouring languages Polish and German is rather different in either country as far as the number of speakers and their political and communicative status is concerned. German is firmly positioned in the Polish educational system and protected by the European Charter for Regional and Minority Languages. The authors discuss the status of Polish in present-day Germany: the legal and administrative basis is described and analysed for all parts of the German educational system (schools, universities, adult education). As a consequence of recent political developments concerning heritage languages, Polish has received increasing attention in Germany and has become part of the curricula in six federal states (Bundesländer). What exactly does this mean for the neighbouring language Polish? What are the trends and challenges particularly in regions on either side of the Polish-German border? Some recommendations are formulated as to what can be done in order to foster interest and to set new incentives for learning the neighbouring language Polish. 0. Zum Inhalt Der jeweilige Status von Deutsch und Polnisch als Nachbarsprachen ist in beiden Ländern sehr unterschiedlich. Das kommunikative Gewicht, der politische Rang und die Sprecherzahlen sind sehr ungleich. Die deutsche Sprache ist im polnischen Bildungskanon fest verankert und steht unter dem Schutz der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, was auf das Polnische in Deutschland nicht zutrifft. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem heutigen Status des Polnischen als Nachbarsprache in Deutschland. Er beschreibt dabei die rechtlich-administrativen Grundlagen und präsentiert Angaben über die gegenwärtige Stellung des Polnischen im deutschen Bildungswesen. Es werden dabei alle Bildungsebenen (Schulen, Universitäten, Erwachsenenbildung) einbezogen. Wir gehen auf die Frage ein, ob sich in * Korrespondenzadressen: Dr. hab. Waldemar M ARTYNIUK , Jagiellonische Universität Krakau, Centrum Języka i Kultury Polskiej w Świecie, Wydział Polonistyki, Grodzka 64, 31-044 K RAKÓW . E-Mail: waldemar.1.martyniuk@uj.edu.pl Arbeitsbereiche: Sprachdidaktische Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und -lehrern für Polnisch als Fremdsprache. Małgorzata M ÜLLER , VHS Eschweiler, Fachbereichsleitung für Fremdsprachen, DAF und Integrationskurse, Kaiserstraße 4, 52249 E SCHWEILER . E-Mail: marga.mueller@eschweiler.de Arbeitsbereiche: Mehrsprachigkeit, multilinguales Lernen, Interkulturelles Lernen und Prüfungsentwicklung. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 73 46 (2017) • Heft 1 Deutschland in der Resonanz von Herkunftssprachen zugleich auch das öffentliche Interesse an der polnischen Sprache als Nachbarsprache widerspiegelt. Infolge der neueren Politik bezüglich der Herkunftssprachen in der Bundesrepublik erhält Polnisch - zuerst in nur sechs Bundesländern - einen neuen Stellenwert. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Perspektiven sich für Polnisch als Nachbarsprache in Deutschland daraus ergeben. In den Schlussfolgerungen sprechen wir über die für das Thema relevanten Herausforderungen und Tendenzen und formulieren einige Empfehlungen, um die noch bestehenden Probleme, vor allem in der deutsch-polnischen Grenzregion, zu überwinden, das Sprachangebot Polnisch auszubauen und deutlichere Impulse für das Interesse an der Nachbarsprache zu setzen. 1. Einleitung: Warum ist das Erlernen einer Nachbarsprache wichtig? Die Mitglieder eines internationalen Projektteams, das die unterschiedlichen Aktivitäten zum Thema ‚Nachbarsprachen in Grenzräumen‘ am Europäischen Fremdsprachenzentrum des Europarates koordiniert hat, haben die Gründe, Nachbarsprachen zu lernen, folgendermaßen zusammengefasst: Warum Nachbarsprachen lernen? • um Europa von unten aufzubauen, • um zusammen mit Nachbarn regionale Identitäten zu schaffen, • um Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, • um eine andere Sprache und Kultur zu erfahren, • um Produkte an die „Anderen“ zu verkaufen, • um den persönlichen Horizont zu erweitern (H ALINK et al. 2003: 2). Diese Gründe können vier Motivationsebenen zugeordnet werden: • der persönlichen Ebene; • der Bildungsebene; • der sozialwirtschaftlichen Ebene; • der internationalen und interkulturellen Ebene. Auf all diesen vier Ebenen findet sich offensichtlich genügend Motivation, andere Sprachen zu lernen. Ganz besonders trifft dies aber auf Nachbarsprachen und Grenzgebiete zu, in denen die Lernsituationen nicht nur simuliert werden, wie beispielweise in einem Lehrbuch, sondern sich ganz konkret, realistisch und alltäglich anbieten - mindestens solange die Grenzen (relativ) offen bleiben. Diese Motivationsebenen bringen besonders im Bezug auf Nachbarsprachen sehr treffend die Prinzipien der europäischen Sprachenpolitik zum Ausdruck, wie sie von Europarat und Europäischer Union entwickelt wurden und vertreten werden. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 74 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 2. Prinzipien der sprachenpolitischen Arbeit des Europarates Das Hauptanliegen der Sprachenpolitik, die seit über 60 Jahren konsequent vom Europarat betrieben wird, ist die Erhaltung und die Entwicklung der bestehenden Vielfalt von Sprachen und Kulturen auf unserem Kontinent und die Förderung der sprachlichen Entwicklung der einzelnen Menschen. Diese Bemühungen stützen sich auf Artikel 2 des Europäischen Kulturabkommens, der die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, das Lehren und das Lernen ihrer Sprachen gegenseitig zu fördern: Artikel 2 Jede Vertragspartei wird, soweit wie möglich: − bei ihren Staatsangehörigen das Studium der Sprachen, der Geschichte und der Zivilisation der anderen Vertragsparteien fördern und diesen Vertragsparteien auf ihrem Gebiet Erleichterungen für die Ausgestaltung solcher Studien gewähren; − bestrebt sein, das Studium ihrer Sprache oder Sprachen, ihrer Geschichte und ihrer Zivilisation im Gebiet der anderen Vertragsparteien zu fördern und deren Staatsangehörigen die Möglichkeit zu geben, sich solchen Studien auf ihrem Gebiet zu widmen (E UROPARAT 1955). Auf dieser Grundlage ist es den Experten des Europarates gelungen, eine beachtliche und kohärente Reihe von Empfehlungen, Resolutionen, Handreichungen und anderen Instrumenten zu erarbeiten, mit denen folgende übergreifende Ziele angestrebt werden: • Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit; • Förderung der sprachlichen Vielfalt; • Förderung des interkulturellen Dialogs; • Förderung der politischen Bildung, die durch adäquat entwickelte mehrsprachige Kompetenz der einzelnen Bürger/ -innen unterstützt wird; • Förderung des sozialen Zusammenhalts - in der Annahme, dass die Chancengleichheit für persönliche Entwicklung, Ausbildung, Beschäftigung, Mobilität, Zugang zur Information und kulturelle Bereicherung stark von sprachlichen Kompetenzen der einzelnen Bürger/ -innen abhängig ist. (M ARTYNIUK 2009: 93-94) 3. Prinzipien der sprachenpolitischen Arbeit der Europäischen Union Die Europäische Union unterstützt die Sprachenpolitik des Europarates und verfolgt dabei auch Ziele, die für die sozialwirtschaftliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten von Bedeutung sind. Die Union verpflichtet sich in Artikel 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen - angesichts dieses sprachlichen und kulturellen europäischen Reichtums - zu achten (vgl. A MTSBLATT DER E UROPÄISCHEN U NION 2012). Dabei geht es aber auch um die allgemeine und berufliche Bildung, die für die Entwicklung einer wis- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 75 46 (2017) • Heft 1 sensbasierten europäischen Gesellschaft und Wirtschaft unverzichtbar sind (Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000). In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 12. Mai 2009 zu einem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung (vgl. E UROPEAN C OMMISSION 2015: Education and Training 2020) wurde die Aufforderung bestätigt, die Bürger zu befähigen, sich zusätzlich zu ihrer Muttersprache in zwei weiteren Sprachen zu verständigen. Empfohlen wird das Erlernen einer internationalen Verkehrssprache sowie einer Regional-, Minderheiten- oder Nachbarsprache bzw. einer für den individuellen Lebens- und Handlungsrahmen relevanten Sprache. Der Sprachunterricht in der Berufsbildung und in der Erwachsenenbildung soll gefördert werden. Die Förderung der Mehrsprachigkeit nimmt damit einen wichtigen politischen Stellenwert ein. 1 4. Die Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen Der Polnischunterricht in Deutschland ist Gegenstand mehrerer Erklärungen und Verträge zwischen beiden Ländern. Im Jahre 1989 wurde eine gemeinsame deutschpolnische Erklärung zur Förderung des Polnischen als Fremdsprache abgeschlossen. 2 Am 17. Juni 1991 unterschrieben beide Länder einen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Mit Art. 21 bis 25 dokumentieren die Vertragsparteien den Willen, das Lehren beider Sprachen und den Unterricht in Deutsch und Polnisch in öffentlichen Bildungseinrichtungen zu ermöglichen. Es wurde auch die Ständige deutsch-polnische Arbeitsgruppe „Polnisch und Polonistik in der Bundesrepublik Deutschland“ gebildet. Fast 20 Jahre später, im Januar 2011, bildete sich der deutsch-polnische Ausschuss für Bildungszusammenarbeit, angesiedelt bei der deutsch-polnischen Regierungskommission des Auswärtigen Amtes. Die Kultusministerkonferenz beschloss am 9./ 10. Juni 2011 in Zusammenarbeit mit der polnischen Seite, die Arbeitsgruppe „Polnisch und Polonistik“ in den neuen Ausschuss, für den das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg- Vorpommern verantwortlich ist, zu integrieren. Dieser Ausschuss befasst sich grundsätzlich mit Vorschlägen zur Förderung der Partnersprache und hat mehrere Empfehlungen zum herkunftssprachlichen Polnischunterricht erarbeitet. Im Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20.06.2013 wurden Ziele, Angebote und Organisationsformen von herkunftssprachlichem Unterricht Polnisch benannt sowie Empfehlungen für den Erhalt, den Ausbau und die Weiterentwicklung von Bildungsangeboten in der Herkunftssprache Polnisch bekannt gegeben. Es wird dabei über den Stellenwert der polnischen Sprache und die Qualität bei der Realisierung 1 Die wichtigsten Dokumente der Sprachenpolitik der EU sind auf der folgenden Internetseite der E UROPÄISCHEN K OMMISSION zu finden: http: / / ec.europa.eu/ languages/ index_de.htm (22.11.2016). 2 Gemeinsame deutsch-polnische Erklärung vom 14. November 1989 ist unter https: / / www.berlin. msz.gov.pl zu finden (22.11.2016). Hier insbesondere: § IV. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 76 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 der herkunftssprachlichen Bildungsangebote in deutschen Schulen gesprochen. Die Länder verpflichten sich, Polnisch als Herkunftssprache in den jeweiligen Schulprogrammen konzeptionell zu etablieren, herkunftssprachliche Angebote für Polnisch durchzuführen und die polnischen Lehrkräfte in die innerschulischen Kooperationsformen einzubinden. 5. Lernmotivation und Sprachbedarf in den deutsch-polnischen Grenzregionen Die heutige deutsch-polnische Region ist historisch jung und damit auch anders als die anderen Grenzregionen im Westen von Deutschland. Seit 2007 gehört Polen zum Schengen-Raum, und die Durchlässigkeit ist gänzlich gegeben. In Bezug auf Lohnniveau und Lebensstandard ist die Grenzregion auf beiden Seiten noch asymmetrisch. Wesentlich weniger Deutsche als Polen lernen die jeweilige Nachbarsprache und zeigen weniger Interesse an Land und Leuten. Familiäre, persönliche Verbindungen sowie bestehende Kontakte bleiben gering ausgeprägt. Der grenznahe Arbeitsmarkt und die Mobilität werden immer noch als wenig attraktiv wahrgenommen. Symptomatisch für diese Situation sind die Ergebnisse einer Untersuchung zur Motivation der Polnischlernenden an deutschen Gymnasien und Berufsschulen in der Grenzregion: Warum lernst du Polnisch? trifft voll und ganz zu trifft eher zu trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht zu Polnisch ist Voraussetzung für den Beruf, den ich anstrebe. 3,3% 25,5% 47,3% 23,9% Polnisch könnte ein Plus im Beruf/ bei Bewerbungen sein. 26,3% 53,9% 15,2% 3,7% Verständigung im Alltag (Einkauf, Behörde) etc. 18,9% 40,3% 28,4% 11,9% Verständigung in Freizeit und Urlaub. 13,2% 31,3% 36,6% 18,5% Verständigung mit Freunden/ Bekannten/ Familie aus Polen. 11,5% 20,2% 27,6% 40,3% Ich bin an Land und Leuten, Kultur etc. interessiert. 6,2% 21,8% 42,4% 28,8% Ich kann mir vorstellen, in Polen zu leben. 3,7% 5,8% 23,0% 67,1% Tabelle 1: Motivation der Polnischlernenden an deutschen Gymnasien und Berufsschulen in der Grenzregion 3 3 In: E UROPA -U NIVERSITÄT V IADRINA 2010 (H RSG .): „Dokumentation zur Fachtagung. Polnisch in der Aus- und Weiterbildung im Land Brandenburg, 06.05.2010“, 4. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 77 46 (2017) • Heft 1 Diese Zahlen könnten zu der Schlussfolgerung führen, dass es für das Erlernen der Nachbarsprache Polnisch in der deutschen Grenzregion wenig Nachfrage seitens der Bevölkerung gibt und daher dieser Problematik keine bildungspolitische Aufmerksamkeit eingeräumt werden muss. Die deutsch-polnische Kopernikus-Gruppe, bestehend aus Experten des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und des Nordeuropainstituts Stettin, war im Jahre 2001 auch der Meinung, dass es in der deutschen Grenzregion zu Polen nicht genügend Polnischunterricht gebe, und bezeichnete die wenigen Sprachangebote als Notlösungen. Es gab auch kaum Angebote zu Lehrerweiterqualifizierung, es wird kein regulärer Polnischunterricht angeboten, man muss systematisch neue Lehrwerke erarbeiten, das Fach Polnisch als Fremdsprache wird nicht in allen Schultypen angeboten. Es gibt allerdings auch Entwicklungen und Initiativen, die einen Wechsel anbahnen. In den vergangenen fünfzehn Jahren lassen sich viele Verbesserungen des Nachbarsprachangebots erkennen. Polnisch wird jetzt in mehreren Kindergärten und Schulen angeboten. Die frühkindliche Spracherziehung in mehreren Herkunftssprachen, darunter Polnisch, wird von vielen Eltern befürwortet. Seit einigen Jahren engagieren sich Kindergärten, Schulen, Universitäten, Deutsch-Polnische Gesellschaften (besonders DPGB, Brandenburg, vgl. D EUTSCH -P OLNISCHE G ESELLSCHAFT 2015), IHK, Institute, Volkshochschulen und andere Weiterbildungseinrichtungen für die Etablierung und den Ausbau des Polnischunterrichts sowie für die Verbesserung der Qualität im Erwerb dieser Nachbarsprache. Neben dem Polnischunterricht werden zahlreiche Tagungen, Workshops, Konferenzen, interkulturelle Austauschprogramme, Exkursionen, kulturelle, politische und wirtschaftliche Begegnungen etc. organisiert und durchgeführt. 4 Die Unternehmen dieser Region haben den Sprachbedarf längst wahrgenommen und verweisen in erster Linie auf Handel, Tourismus, Verkehr und Logistik. Deshalb entstanden in der deutsch-polnischen kaufmännischen Ausbildung viele sinnvolle Projekte: u. a. Europaassistent, Übersetzungshilfen und Handbücher wie Polen- Knigge, deutsch-polnische Doppelausbildung im Hotel- und Gastronomiegewerbe, das Mobilitätsprojekt Azubi Mobil (seit 2008) 5 , E UROJOB -Viadrina Datenbank (2009-2013) 6 , J OBSTARTER (Ausbildungskooperationen) 7 , E URES -Beraterin (Neubrandenburg, Eberwalde, Frankfurt/ Oder, Cottbus und auf polnischer Seite - Westpommern und Lebuser Land), bekannt als ein Netzwerk für grenzüberschreitende 4 Nähere Informationen unter: „Deutsch-polnischer Kulturausschuss“, https: / / www.bundesregierung. de (29.11.2016) bzw. VHS- und DPG-Programme, Bildungsinstitute, Schulen, Universitäten, Vereine etc. 5 Es gibt mehrere Projekte dazu, u. a. Erasmus, vgl.: Berufsbildung ohne Grenzen unter www. mobilitaetscoach.de/ news-archiv (29.11.2016). 6 Vgl. dazu: Informationsportal Ausbildung & Berufe in Deutschland und Polen unter www.eurojob.net 7 Es handelt sich um Projekte einer dualen Ausbildung mit grenzüberschreitenden Ausbildungs- Kooperationen. Diese sind u. a. auf der folgenden Seite zu finden: http: / / www.jobstarter.de/ de/ projektlandkarte-1157.php (29.11.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 78 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 Mobilität am Arbeitsmarkt und für Fragen zu Steuern, Sozialversicherung etc. 8 Alle diese und ähnliche Projekte und Aktivitäten legen den Schwerpunkt auf bedarfsorientierten Polnischunterricht. 2011 wurde die Beschränkung für den deutschen Arbeitsmarkt aufgehoben. In der gesamten deutsch-polnischen Grenzregion werden zweisprachige Arbeitskräfte in vielen Branchen gesucht, u. a. in den Bereichen Metallverarbeitung, Verkauf, Logistik, Pflege- und Gesundheitsberufe, Hotel und Gastronomie, Immobilienbranche, Dienstleistungen und im öffentlichen Dienst (Lehrer, Erzieher, Busfahrer etc.). Zweisprachige Fachkräfte werden für Anwaltskanzleien und andere deutsche und europäische Firmen auf der polnischen Seite gesucht. Während die berufliche Ausbildung eine Konzentration auf die rezeptiven Fertigkeiten (Hör-, Leseverstehen und etwas Sprechen) legt, vermitteln die Schulen und Weiterbildungseinrichtungen verstärkt die produktiven Fertigkeiten (Sprechen und Schreiben) und haben den Anspruch einer ganzheitlichen Sprachvermittlung (z.B. Universitäten). Da die Lehrerausbildung für Polnisch als Fremdsprache in Deutschland (in Polen inzwischen immer verbreiteter) kaum berücksichtigt wird, stellt sich das Problem des Mangels auch in der Grenzregion. Der Unterricht wird fast immer durch polnischstämmige Lehrkräfte erteilt. Die erste Lehramtskandidatin für Polnisch machte ihr Examen an der Universität Potsdam erst im Jahre 2007. Im Lehramtsstudium Polnisch fehlen aber Anteile zur beruflichen Bildung. Das Lehr- und Lernmaterial ist in meisten Fällen eher auf den allgemeinen Bedarf ausgerichtet. Im schulischen Bereich hat sich in den letzten fünf Jahren sehr viel getan. Viele engagierte Schulen und Institutionen (wie z.B. Berufliches Schulzentrum für Wirtschaft und Technik in Görlitz, OSZ II Spree-Neiße in Cottbus, OSZ II für Wirtschaft und Verwaltung in Potsdam, Deutsch-Polnisches Jugendwerk Potsdam) integrieren Polnisch in die Ausbildung und betonen neben den Sprachkenntnissen die Wichtigkeit der interkulturellen Kompetenz und Flexibilität. Die Zusammenarbeit mit den polnischen Ministerien auf diesem Gebiet ist eng und wird personell und fachlich unterstützt. Besonders erfolgreich funktioniert der Austausch zwischen deutschen und polnischen Schulen im Grenzgebiet. Viele kulturelle und schulische Projekte mit Partnerschulen (Musik, Sport- und Kochwettkämpfe etc., polnische Lehrkräfte unterrichten z.B. Biologie auf Polnisch in Deutschland, deutsche Lehrkräfte unterrichten z.B. Geographie auf Deutsch in Polen, polnische Schüler/ -innen forschen in der BRD, deutsche Schüler/ -innen forschen in Niederschlesien etc.) hängen jedoch von besonders engagierten Einzelpersonen ab. Im Bereich der Kindertagesstätten entstanden bilinguale und trilinguale (deutsch-tschechisch-polnisch) Unterrichtsformate („Spotkanie heißt Begegnung - Ich lerne deine Sprache“, in Brandenburg seit 1997) 9 und ein guter personeller und fachlicher Austausch. Hier muss keine besonders große Überzeugungsarbeit bei den Eltern geleistet werden. 8 Vgl. u. a. dazu: http: / / faktor-a.arbeitsagentur.de/ mitarbeiter-finden/ arbeitsmobilitaet-die-grenzgaen gerin/ (29.11.2016). 9 Vgl. https: / / www.dija.de und https: / / www.sz.europa-uni.de unter „Mitarbeiter (Sprache, Grenze, Grenzregion)“ Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 79 46 (2017) • Heft 1 Das Interesse der Ausbildungsbetriebe gibt oft den Ausschlag, dass die Berufsschüler in den drei an Polen grenzenden Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen sowie in Berlin Polnisch belegen. Der reguläre Unterricht, der auf freiwilliger Basis zusätzlich angeboten wird, hängt aber sehr stark von der Zahl der Interessenten ab und muss ggf. in Randstunden stattfinden. Die Noten erscheinen auf dem Berufsschulzeugnis. Die Finanzierung wird in Einzelfällen (Brandenburg) vom Land übernommen. Eine besondere Förderung ist nur an den Europaschulen möglich, weil sie in der Regel Polnisch in ihren Profilen haben sollen. Bei Berufsschulen wird dieser Titel jedoch kaum oder vereinzelt (z.B. Oberstufenzentrum in Fürstenwalde) genutzt. In der Regel dauert der Polnischunterricht an den Berufsschulen drei Jahre (zwei Jahre allgemeine Sprachkenntnisse und ein Jahr Fachsprache) und endet mit einer freiwilligen Abschlussprüfung der Stufe B1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Da die berufliche Ausbildung in Polen stärker allgemeinbildend und in Deutschland stark fachgebunden ausgerichtet ist, ist der Austausch im Rahmen der Praktika oft sehr schwierig. Für Auslandsaufenthalte und Begegnungen sowie für derartige interkulturelle Vorbereitungen stehen häufig keine Mittel zur Verfügung, und es fehlt das entsprechende Stundenkontingent für das Lehrpersonal. Das Problem kann teilweise nur durch besonders engagierte Lehrkräfte ausgeglichen werden. Die Kontinuität des Polnischunterrichts in Hinblick auf die Anzahl der Schulen, in denen Polnisch angeboten wird, Vernetzung der Schultypen und zwischen dem Lehrpersonal, das häufig jährlich wechselt und keine gesicherte Finanzierung hat, bereitet immer noch große Probleme und bildet keine gute Perspektive für eine Festigung und Professionalisierung des Unterrichts. Polnisch sollte eher kontinuierlich als Nachbarsprache gefördert und nicht nur als Wahlpflichtfach durch temporäre Projekte finanziert werden. 6. Polnisch und die schulische Förderung in der Bundesrepublik Deutschland Trotz aller Schwierigkeiten mit dem Polnischunterricht in der Grenzregion ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Polnisch in Deutschland zu allen Zeiten - wenn auch zu unterschiedlicher Intensität und aus unterschiedlichen Motiven - gelernt wurde (vgl. W ORBS 2001). Man muss auch zugeben, dass heutzutage von der Politik so viele Voraussetzungen und Möglichkeiten für den Polnischunterricht geschaffen wurden wie nie zuvor. Neben Polnisch als Nachbarsprache gibt es den Unterricht Polnisch als Herkunftssprache, Polnisch als Fremdsprache und an vielen Universitäten Polonistik. Polnisch als Fremdsprache wird in allen Bundesländern angeboten. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk organisiert regelmäßig Sprachkurse für Multiplikatoren des Jugendaustausches sowie Gruppendolmetschkurse. An den deutschen Volkshochschulen lernen so viele Deutsche wie nie zuvor Polnisch - das Polnische nimmt aktuell den 12 Platz in der Rangfolge der angebotenen Sprachen an den deut- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 80 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 schen Volkshochschulen ein. Im Durchschnitt wird an jeder zweiten Volkshochschule Polnisch angeboten, und an jeder dritten kommen die Sprachkurse auch zustande. Bei der Unterstützung dieser Lernformate spielen oft Schnupperkurse, Städtepartnerschaften, Austausch, Tourismus und das persönliche Engagement der Lehrkraft eine wichtige Rolle. Polnisch hat aber in Deutschland noch nicht viele wirklich einflussreiche Unterstützer gefunden. Die deutsch-polnischen Beziehungen definieren sich vor allem über den kulturellen, literarischen und wirtschaftlich-politischen Bereich. Das Interesse an der polnischen Sprache entwickelt sich in den letzten Jahren eher über Tourismus, private Beziehungen, wirtschaftliche Kontakte. Unabdingbar ist es aber auch, die Nachbarsprache durch Kurse und Projekte von Polnisch als Fremdsprache zu unterstützen. Schließlich reichen die Anfänge des Polnischen als Fremdsprache weit in die deutsche Geschichte (13. Jh.) zurück. Über Polnisch als Unterrichtsfach ab dem 16. Jahrhundert wissen wir recht gut Bescheid (vgl. W ORBS 2001: 136). Das Studium Polonistik war seit 1842 an der Universität Berlin möglich und verfolgte vor allem das Ziel, den Polen in Preußen eine Möglichkeit zur „Vervollkommnung“ in ihrer Muttersprache zu geben. Heute hat sich das Bild erheblich verändert. Polnisch wird als Haupt- oder Nebenfach eines gesamtslawischen Studiengangs an den meisten deutschen Universitäten angeboten. Der bis heute erfolgreich geführte Polnischlehrgang mit dem Namen „Mainzer Polonicum“ an der Johannes Gutenberg- Universität Mainz war bereits von 1979 bis 1983 ein Modell für Nicht-Slavisten. In diesem Zusammenhang entstand im Jahre 1987/ 88 auch die erste polonistische Professur in der Bundesrepublik Deutschland. Im geteilten Deutschland bestanden unterschiedliche Voraussetzungen für Polnisch im schulischen Bereich. Nur wenige wissen, dass es in Bremen bereits seit 1985 („Bremer Modell“) Polnisch als muttersprachlichen Unterricht gibt und dass seit 1989 Polnisch als Fremdsprache-Wahlmöglichkeit für deutsche Schüler existiert, auch wenn die personellen und in manchen Bundesländern die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren oder immer noch nicht sind. 1951 gab es in der DDR an mehreren erweiterten Oberschulen fakultativ Polnisch als zweite Fremdsprache. Die Lehrer stammten in der Regel aus Polen, waren zweisprachig und auf die Vermittlung des Polnischen vorbereitet. In den sechziger Jahren unterrichteten dann zusätzlich polnische Gastlehrer. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands bemüht man sich, im Bereich des Polnischunterrichts einen rechten Fortschritt zu erreichen. Wenn eine Lehrkraft verfügbar ist und wenn sich eine entsprechende Zahl von Interessenten findet, kann Polnisch als Herkunftssprache unterrichtet werden. Die Länder sind verpflichtet, im Sinne des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991, sich für den Erhalt, den Ausbau und die Weiterentwicklung von Bildungsangeboten für Polnisch als Herkunftssprache einzusetzen und entsprechende Rahmenbedingungen bei der Durchführung der Bildungsangebote zu schaffen. Deshalb versucht man in den jeweiligen Schulprogrammen, die herkunftssprachlichen Angebote konzeptionell zu etablieren, die polnischen Lehrkräfte in die innerschulischen Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 81 46 (2017) • Heft 1 Kooperationsformen einzubinden, in den Konferenzen und Elternversammlungen die potenziellen Interessenten entsprechend über bestehende Bildungsangebote zu informieren und eine Zusammenarbeit mit Schulen und Kindertagesstätten zu entwickeln. Die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler/ -innen werden dokumentiert und anerkannt. Die aktuelle Zahl der polnischsprachigen Schüler/ -innen lässt sich aufgrund von Datenschutz und mangelnden Erhebungen nicht genau feststellen, der muttersprachliche Ergänzungsunterricht Polnisch wird aber an mehreren staatlichen Schulen in Bremen, Hamburg, Niedersachsen, NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen angeboten. 10 Neben den herkunftssprachlichen und weiterbildenden Angeboten gibt es Polnischunterricht im Netz der polnischen Organisationen in Deutschland. Das Schulwesen der polnischen Verbänden und Organisationen (oft als Polonia bezeichnet) sowie die Einrichtungen der Polnischen Katholischen Mission und Schulen des Polnischen Bildungsministeriums an polnischen Konsulaten sind hier besonders hervorzuheben. In einem Strategiepapier der deutschen Kultusministerkonferenz wird über diese Initiativen recht ausführlich berichtet: Gegenwärtig lernen in den polnischen Vereinen genauso viele Schülerinnen und Schüler wie in den öffentlichen Schulen. […] Die Polonia-Schulen werden betrieben und finanziert dank des ehrenamtlichen Engagements zahlreicher Partner. Die Haupteinnahmequelle sind die Elternbeiträge und ehrenamtliche Arbeit der Mitglieder von polnischen Organisationen. Das Polnische Bildungsministerium stellt kostenlos Bücher und weitere Unterrichtsmaterialien für den Unterricht von Polnisch als Herkunftssprache zur Verfügung. Die Finanzierung der staatlichen Angebote erfolgt dabei ganz, teilweise oder gar nicht durch das Land. Bei Konsulatsunterricht oder Angeboten von Freien Trägern erhalten diese oft Zuwendung des Landes. Bei Angeboten von Konsulaten und Freien Trägern erfolgt eine fachliche und organisatorische Abstimmung mit der Schule, die Schulaufsicht ist eingebunden. Entsprechend der Organisationsmodelle sind die unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer im Landesdienst, arbeiten auf der Grundlage eines Honorarvertrages oder werden direkt von dem Herkunftsland eingesetzt. Als Qualifikation der Lehrkräfte werden eine pädagogische Ausbildung, z.B. ein in Deutschland oder dem Herkunftsland erworbenes Lehramt sowie gute Deutschkenntnisse vorausgesetzt. In den meisten Fällen unterrichten Muttersprachler. […] Polonia-Schulen unterrichten nach einem Lehrplan des Polnischen Bildungsministeriums. […] Sofern nach Lehrplan unterrichtet wird, werden meist Noten erstellt. In einigen Ländern gibt es die Möglichkeit, eine Sprachprüfung abzulegen. Alle Polonia-Schulen stellen ihre eigenen Zeugnisse und Teilnahmebescheinigungen aus. (KMK 2013: 4ff.).. Zu diesen und ähnlichen Zwecken entstanden in den letzten fünf Jahren zahlreiche neue Lehrwerke sowohl für bilinguale Polnischsprecher als auch für deutschsprachige Muttersprachler, die Polnisch lernen. Viele Materialien werden von Lehrern in der Praxis produziert. Im Rahmen der Fortbildungen für Lehrkräfte und Workshops entstehen zahlreiche didaktische Programme und einzelne Veröffentlichungen für Polnisch als Fremd- und Zweitsprache. Mit der Didaktik und Methodik des Pol- 10 Es gibt zurzeit keine genauen Angaben zu diesem Bereich, denn der herkunftssprachliche Unterricht wird für mindestens zehn Sprachen in Deutschland angeboten. Die genauen Angaben liegen häufig in den jeweiligen Schulämtern vor. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 82 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 nischunterrichts beschäftigen sich in Deutschland neben dem universitären Bereich v. a. das Netzwerk der Polnischlehrkräfte in NRW und die Bundesvereinigung der Polnischlehrkräfte in Berlin. Aktuell wird vorgeschlagen, sich mehr mit der Erfassung der Sprachkompetenz im Fach Polnisch zu beschäftigen. Anke S ENNEMA und Magdalena W IAŻEWICZ (2015: 109) schreiben dazu: Im Hinblick auf die berufliche Aus- und Weiterbildung besteht noch ein großer Bedarf an spezifischerer Erfassung der Sprachkompetenz hinsichtlich Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Registerwahl, Fachsprache und der betrieblichen Handlungsfähigkeit, und zwar in beiden Sprachen Deutsch und Polnisch. [...]: Eine genaue Auswertung könnte den Lehrkräften eine objektive Einschätzung der sprachlichen Fähigkeiten sowie eine Ableitung der spezifischen Sprachförderbedarfe ermöglichen, die für den jeweiligen Berufsbereich relevant sind. Mit den gewonnenen Erkenntnissen könnte gezielter auf die sprachlichen Anforderungen der beruflichen Bildung reagiert und Mehrsprachigkeit als anerkannte tragfähige Ressource ausgebildet werden. Auf diese Art und Weise würde Polnisch besser in die berufliche Bildung integriert werden. Eine fundierte Begründung für die Etablierung des Polnischunterrichts in der Grenzregion lässt sich jedoch nur dann formulieren, wenn man viele Aspekte aus solchen Disziplinen wie Linguistik, Erziehungswissenschaften, Soziologie, Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften beachtet und berücksichtigt. Das Nachbarsprachenlernen ist u.a. ein Akt der gegenseitigen Achtung und Toleranz, der neben der persönlichen sprachlichen Bereicherung jedes Lernenden vor allem einen Beitrag zur Förderung der Verständigung und zum Abbau der Fremdenfeindlichkeit leisten soll. Albert R AASCH (2010: 6), der u. a. das Projekt „Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen“ koordinierte, spricht an dieser Stelle von einer speziellen „Grenzkompetenz“. Diese sollen die Einwohner/ -innen von Grenzregionen entwickeln und neben Sprachkenntnissen auch Wissen über das Nachbarland und die gemeinsame Geschichte erwerben. Dieser Grenzkompetenzerwerb, der ein Teil der Ausbildung sein muss, soll eine Sensibilisierung für Stereotype und typische Verhaltensweisen sowie eine Reflexion der eigenen Einstellungen beinhalten. Er schlägt als Sprachenfolge in Grenzregionen Folgendes vor: 1. die jeweilige Nachbarsprache, 2. Englisch, und 3. eine Sprache nach Wahl. So sei Polnisch als Nachbarsprache eine wichtige Zusatzqualifikation, ein Baustein für beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg und Chancen für deutsche Arbeitnehmer/ -innen auf dem polnischen Arbeitsmarkt. Somit wäre Englisch eine „notwendige Bedingung“ (Lingua Franca) und die Nachbarsprache („Lingua Culturalis“) eine Zusatzqualifikation. Generell ist angebracht, sich stärker auf die Mehrsprachigkeit zu konzentrieren (vgl. R AASCH 2010: 6). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 83 46 (2017) • Heft 1 7. Herausforderungen und Empfehlungen Eine wesentliche Voraussetzung für Kommunikation und gegenseitiges Verständnis ist nicht eine Sprache, sondern Mehrsprachigkeit. Reduziert man die Mehrsprachigkeit auf Englisch als lingua franca, verliert man die sprachliche und kulturelle Vielfalt und ignoriert die Nachbarn. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, wirtschaftliche Kooperationen, Einkaufstourismus, Personenverkehr, Nutzung von Dienstleistungen im Nachbarland, Zusammenarbeit von Verwaltungseinrichtungen, Schulen, Kommunen, Institutionen, Ministerien etc. sind schwierig und werden durch die fremde Sprache zur kulturellen und sprachlichen Barriere. Die Vorurteile, Minderwertigkeits- oder Überheblichkeitskomplexe werden durch fehlende Kommunikation, Kooperation in der Nachbarsprache und die fehlenden Kenntnisse in Landeskunde verstärkt. Eine Herausbildung von Grenzgängern mit der nötigen Grenzkompetenz ist so nicht möglich. Die Reduzierung der Sprache auf Englisch würde in Grenzregionen ebenfalls die komplette Reduzierung der beruflichen Basisqualifikation und des interkulturellen Lernens bedeuten. Daher ist es unerlässlich, den Erwerb der Nachbarsprachen weiterhin zu unterstützen und so früh wie möglich (Kindergarten) mit dem Sprachunterricht zu beginnen. Die Bildungspolitik soll die notwendigen Regelungen und Voraussetzungen dafür schaffen, um ein frühes Erlernen der Nachbarsprache (zuerst in den Grenzregionen und später in den Schulen in ganz Deutschland) zu ermöglichen. Es sollte vor allem möglich sein, die Nachbarsprache als Fremdsprache zu wählen. Es ist richtig, dass die Industrie- und Handelskammern vermehrt anmahnen (z.B. in Brandenburg), Polnisch als zweitwichtigste Fremdsprache zu behandeln. Man beobachtet wachsende Anstrengungen, die Nachbarsprache zu lernen. Um eine Nachhaltigkeit dieser Anstrengungen zu erzielen, muss verstärkt versucht werden, partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen deutschen und polnischen Schulen nachdrücklich einzurichten und diese politisch zu unterstützen. Daher ist es wichtig, die Zusammenarbeit von Kindertageseinrichtungen, Schulen, Hochschulen, Kulturinstituten, Wissenschaftseinrichtungen in ganz Polen und ganz Deutschland besonders zu stärken und Weiterqualifizierungsangebote für alle Lernzielgruppen in beiden Ländern dauerhaft zu entwickeln. Austausche und Schulpartnerschaften mit beiden Ländern sollten erweitert und stabilisiert werden. Das Erlernen der Nachbarsprache verlangt ein systematisches schulisches Angebot. Polnisch als Herkunftssprache in nur sechs Bundesländern und nur bis zur 10. Klasse ist kein systematisches Angebot für ganz Deutschland. Keine Note auf dem Zeugnis bedeutet die automatische Reduzierung dieser Sprache und ihres Stellenwerts im schulischen System. Geringe Unterstützung der polnischen Lehrkräfte und der Fremdsprachendidaktik für Polnisch in Deutschland sowie fehlendes Interesse seitens der deutschen Schulen für herkunftssprachlichen Unterricht führen zur Unzufriedenheit bei Schülern und Eltern. Dies alles ist auf einen mangelnden Umsetzungswillen der politischen Eliten zurückzuführen. Auf allen Ebenen ist zu spüren und zu erfahren, dass die Komplexität und die vielfältigen Chancen von den Ent- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 84 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 scheidungsträgern noch nicht richtig erfasst wurden. Dies drückt sich u.a. auch in der fehlenden Ausbildung von Lehrkäften für den herkunftssprachlichen Unterricht aus. Die Gleichbehandlung der polnischen Sprache mit anderen Fremdsprachen, die abiturrelevant sind, ist in den westlichen Bundesländern immer noch nicht gewährleistet. Dies zu ändern ist im Rahmen der deutsch-polnischen Abkommen dringend geboten. In Anlehnung an das integrierte deutsch-französische und deutsch-niederländische Studium zur Euregiolehrerin bzw. zum Euregiolehrer wäre es angebracht, eine ähnliche grenzüberschreitende fremdsprachliche Ausbildung von Lehrern auch für Polnisch einzurichten. Während in den westlichen Grenzregionen von Deutschland Lehrerfortbildungen für die Nachbarsprachen recht verbreitet sind, beschränkt sich ein entsprechendes Angebot an der östlichen Grenze auf vereinzelte Angebote. Zu Recht wünschen sich die Lehrkräfte der Nachbarsprachen Polnisch und Deutsch systematische, spezifische Lehrerfortbildungen für Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen und Schulpraktika im Nachbarland sowie eine stärkere Unterstützung des Erweiterungsstudiums Polnisch als Fremdsprache. Schließlich verlangt das Erlernen der Nachbarsprache eine Erarbeitung von Lehrwerken und Lehrmaterialien für Polnisch als Fremdsprache im Schulunterricht. Sprache als Instrument transregionaler Kontakte muss fruchtbar gemacht werden. Dabei ist es wichtig, dass all diejenigen, die Sprachen unterrichten, gleichzeitig auch sprachenpolitisch denken müssen (vgl. R AASCH 2010). Einen Ausgleich zwischen den Ländern und Regionen sowie eine Annährung untereinander zu schaffen, ist nur dann möglich, wenn Wirtschafts- und Sprachenpolitik eng zusammenarbeiten. Die Nachbarsprachen sind ein zentrales Mittel für die Nutzung der Potenziale auf verschiedenen Ebenen in den Grenzregionen. Das Sprachangebot Polnisch sollte in Deutschland ausgebaut werden, um u. a. auch deutliche Impulse für das Interesse an der Nachbarsprache zu setzen und diese in den östlichen Grenzregionen verstärkt zu unterstützen. Es ist eine fachlich-wissenschaftliche und sozialpolitische Herausforderung, die politisch engagiertes Engagement in beiden Ländern fordert. Es ist ein Prozess, der keineswegs nur mit politischen Abkommen abgeschlossen sein darf, sondern er muss der Förderung und Forderung nach der Nachbarsprache im Lernangebot sowie einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Nachbarsprachen dienen. Sprachenpolitisch darf man auch dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren: Die Nachbarsprachen sollten einen weitaus größeren Raum im Bildungswesen und im öffentlichen Bewusstsein bekommen und erhalten dürfen, um das bewusste Lehren und Lernen von Sprachen neu zu individualisieren und jede individuelle Mehrsprachigkeit zu unterstützen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. 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