eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 46/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
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Narr Verlag Tübingen
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2017
461 Gnutzmann Küster Schramm

Wie viel Deutsch sollen Migranten können?

2017
46 (2017) • Heft 1 © 2017 Narr Francke Attempto Verlag M ICHAELA P ERLMANN -B ALME * Wie viel Deutsch sollen Migranten können? Abstract. This article starts from the political debate about the language needs of refugees that arrived in Europe in 2015 in unexpected numbers. In the first chapters, it points out the rather high expectations for the desired language competence of these newcomers with varied educational backgrounds and summarizes the development of migration to Germany from the mid fifties with respect to language demands and provisions by the state. It looks closely at the required language levels according to the Common European Framework of Reference (CEFR) of the Council of Europe. Chapter 4 looks beyond the question “how much German migrants need” to “what kind of German language” do they have to learn and how are these requirements taught and tested. Chapter 5 and 6 present results of empirical research and data. The project FEI looks at views articulated by employers and employes in three European countries concerning language requirements at the workplace. Finally, the ALTE booklet on language and migration provides recent information on legal requirements for entry, residence and citizenship in a wider European perspective. 1. Die aktuelle Debatte Das Jahr 2015 wurde in Deutschland und ganz Europa nachhaltig geprägt von einer sog. Flüchtlingskrise. Als Folge von Krieg, politischen Unruhen und langfristigen Strukturproblemen in verschiedenen Teilen der Welt kam es zu einer Zuwanderung von über einer Million Asylsuchenden und Flüchtlingen. In diesem Kontext wurde eine Diskussion wieder aufgenommen, die in Deutschland bereits in den Jahren des Wirtschaftswunders begonnen hatte: Ob und wenn ja, aus welchen Gründen soll die deutsche Gesellschaft neue, aus anderen Staaten zugezogene Einwohner willkommen heißen? Herbert B RÜCKER , Marcel F RATZSCHER und Jakob W EIZSÄCKER (2016: 26) argumentieren in einer Tageszeitung, Deutschland benötige Arbeitskräfte, denn es herrsche Fachkräftemangel, und es fehlten Einzahler in die Sozialkassen. Es brauche aber auch klare, ambitionierte und realistische Ziele für die Asylsuchenden, denn von deren erfolgreicher Integration in den Arbeitsmarkt hänge der Wohlstand der deutschen Gesellschaft ab. In ihrer sechs Punkte umfassenden generellen Zukunftsvision nennen die Autoren die Forderung, Sprachkompetenz schneller und nachhal- * Korrespondenzadresse: Dr. Michaela P ERLMANN -B ALME , Goethe-Institut e.V., Abteilung Sprache, Dachauer Straße 122, 80637 M ÜNCHEN . E-Mail: michaela.perlmann-balme@goethe.de Arbeitsbereiche: Entwicklung von Deutschprüfungen und anderen Instrumenten der Leistungsmessung für Erwachsene, Jugendliche, Migranten. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 12 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 tiger zu entwickeln und präzisieren: „Ein Jahr nach dem Zuzug sollten 50 Prozent der Flüchtlinge, drei Jahre danach alle Flüchtlinge über deutsche Sprachkenntnisse verfügen, mit denen man sich im Alltag verständigen kann. Das allein wird für die Arbeitsmarktintegration aber nicht reichen. Hierfür sind gute deutsche Sprachkenntnisse notwendig (Niveau B2). Dieses Niveau sollten ein Jahr nach dem Zuzug 40 Prozent der Flüchtlinge, drei Jahre nach dem Zuzug 80 Prozent der Flüchtlinge erreicht haben“ (B RÜCKER et al. 2016: 26). Die hier verwendete Terminologie - B2 - dürfte für viele Zeitungsleser aufgrund fehlenden Fachwissens nicht ganz nachvollziehbar sein. Unklar bleibt für den Zeitungsleser, was die Asylsuchenden denn auf der Stufe B2 können müssten. Auch die allgemeinsprachliche Umschreibung „gute“ deutsche Sprachkenntnisse enthält keine eindeutigere Information. Das scheint bedenklich, geht es den Autoren doch um eine weitreichende Verschärfung der bisherigen Praxis. Würde der Gesetzgeber die Forderung nach Sprachkenntnissen auf der Stufe B2 in die Praxis umsetzen, würde das erhebliche Investitionen im Bereich der Sprachkurse nach sich ziehen. Die in Deutschland derzeit angebotenen Integrationskurse führen bislang nur bis zum Sprachniveau B1 und bleiben damit unter der im Essay geforderten Stufe. Nicht unerwähnt bleibe, dass es bereits berufsbezogene Sprachförderung gibt, die über B1 hinausgeht. 1 Der folgende Aufsatz widmet sich der Frage, wie viel Deutsch Migranten können sollen und was genau sie auf Deutsch können sollen. 2. Deutschkenntnisse in der Entwicklung der Migration nach Deutschland Während in der aktuellen politischen Debatte Sprachkenntnisse eine zentrale Rolle als Schlüsselqualifikation spielen, war das im Verlauf der Entwicklung der Migration nach Deutschland keineswegs immer der Fall. Seit Mitte der 50er Jahre, als der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach in einen Arbeitskräftemangel mündete, reagierte die Bundesregierung mit staatlich gesteuerter Anwerbung von sog. Gastarbeitern aus den Ländern Südeuropas, der Türkei und anderen. Da man von einer Rückkehr der überwiegend männlichen Zuwanderer ausging, wurde von staatlicher Seite wenig darin investiert, dass die Gastarbeiter Deutsch lernten. Während der Energiekrise 1973 und den damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten verhängte die Regierung einen Anwerbestopp und eine Einschränkung der Wiedereinreise. Als Folge entschlossen sich viele, die schon da waren, nicht mehr auszureisen, sondern stattdessen ihre Familien nachzuholen (vgl. P LUTZAR 2010: 108). Fachlich betreut wurde diese vergleichsweise geringe Anzahl von Deutschkursen vom 1974 gegründeten Sprachverband für ausländische Arbeitnehmer e.V. 1 http: / / www.bamf.de/ DE/ Willkommen/ DeutschLernen/ DeutschBeruf/ Bundesprogramm-45a/ bundesprogramm-45a.html? nn=7900400 (13.06.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 13 46 (2017) • Heft 1 Ein deutsches Sonderphänomen war die Zuwanderung der sog. Spätaussiedler in den 80er und 90er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion sowie Ländern des ehemaligen Ostblocks. Bei dieser Zielgruppe wurden staatlich finanzierte Sprachkurse wichtig. Anders als die Gastarbeiter erhielten Spätaussiedler, da sie als Deutsche betrachtet wurden, bei der Ankunft einen deutschen Pass und damit die deutsche Staatsangehörigkeit, unabhängig von (noch) vorhandenen Deutschkenntnissen. Als Deutsche standen ihnen Sozialleistungen zu, zudem monatelange staatlich finanzierte intensive Sprachkurse. Anbieter wie die Volkshochschulen oder die Goethe- Institute in Deutschland und andere stellten ihre regulären Kurse zur Verfügung. Nachdem die Unternehmensberatung Social Consult (1998, 1999) die Effektivität solcher mit staatlichen Mitteln geförderter Sprachkurse untersucht hatte, fiel das Urteil kritisch aus, insofern als Aufwand und Erfolg in keinem befriedigenden Verhältnis standen. Viele Kursteilnehmende erreichten keine nennenswerten Fortschritte trotz langer Kursdauer. Die Ergebnisse dieser Evaluation trugen dazu bei, die Sprachkurse für Aussiedler und für ausländische Arbeitnehmende neu zu ordnen. Nach der Jahrtausendwende setzte eine intensive politische Beschäftigung mit den Sprachkenntnissen der Zuwandernden ein. Diese manifestierte sich in der Verabschiedung eines neuen Aufenthaltsgesetzes, in dem der erfolgreiche Erwerb der Landessprache durch Migrantinnen und Migranten eine zentrale Rolle spielte. Sprachkenntnisse wurden zum Dreh- und Angelpunkt der Integration erklärt. 2005 übernahm das neu geschaffene Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als Behörde des Bundesinnenministeriums die Aufgaben des Sprachverbandes. Dem Bundesamt zur Seite gestellt wurde eine Bewertungskommission. Das BAMF verwaltet die 2005 neu eingeführten flächendeckenden Deutschkurse, genannt Integrationskurse. Nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ wurde die Niederlassungserlaubnis, also der dauerhafte Aufenthalt in Deutschland und ggf. der Bezug von Sozialleistungen, an den erfolgreichen Besuch eines Sprach- und Orientierungskurses gebunden. Letzterer vermittelt Basiskenntnisse zur deutschen Rechtsordnung, Geschichte und Kultur sowie Werte, die in Deutschland wichtig sind, zum Beispiel Religionsfreiheit, Toleranz und Gleichberechtigung. Neuzugewanderte aus Ländern außerhalb der EU wurden - mit wenigen Ausnahmen - zum Besuch dieser Kurse verpflichtet, Altzuwanderer, die teilweise Jahrzehnte ohne nennenswerte Deutschkenntnisse in Deutschland gelebt hatten, wurden ebenfalls zum Kursbesuch verpflichtet. EU-Ausländer sowie Zuwanderer aus bestimmten außereuropäischen Ländern wie zum Beispiel Japan wurden von der Pflicht, für den dauerhaften Aufenthalt das den Integrationskurs abschließende Sprachniveau nachzuweisen, befreit. 3. Mindestanforderungen beim Sprachniveau Das Sprachniveau, das eine Gesellschaft von Zugewanderten erwartet, sollte mindestens folgenden Ansprüchen gerecht werden: Das Niveau sollte klar definiert und transparent sein; seine Auslegung sollte zuverlässig dieselben Ergebnisse ergeben Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 14 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 und es sollte den Möglichkeiten der Zielgruppe angepasst sein, d.h. es sollte fair sein. Um die Frage zu beantworten, wie viel Deutsch Migrantinnen und Migranten brauchen, benötigt man als Grundlage eine Maßeinheit, die alle nachvollziehen können. Dass mit dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) seit 2001 ein für alle europäischen Sprachen gültiges Referenzwerk zur Verfügung steht, ist im Hinblick auf Transparenz ein enormer Vorteil. Es gibt mit dem GeR ein Instrument, das Aussagen über sprachliches Können nachvollziehbar macht. Mit den darin definierten Niveaustufen wurde ein Maßstab geschaffen, der in Europa und einigen Ländern darüber hinaus weitgehend verstanden wird. Ziel der Arbeitsgruppe, die hinter der Definition dieser Sprachniveaus stand, war es, durch das gemeinsame Bezugssystem eine bessere Vergleichbarkeit von Leistungen, Teilnahmebescheinigungen und schließlich Zertifikaten und ihrer Aussage zu erlangen. Wie die gemeinsame Währung, der Euro, mit dem der GeR fast zeitgleich im Jahr 2001 veröffentlicht wurde, stellte der Referenzrahmen den Europäern eine gemeinsame Maßeinheit und eine gemeinsame Auffassung von sprachlicher Kompetenz bereit. Es liegt ein positiver Ansatz vor, nämlich zu definieren, was Lernende einer Fremdsprache im realen Leben alles können bzw. können sollen. Dieser Ansatz passt zur Philosophie des Multilingualismus in Europa, wonach jeder Bürger der EU laut den Beschlüssen von Barcelona 2002 außer seiner Muttersprache möglichst zwei Fremdsprachen verwenden können soll. Der positive Ansatz passt außerdem zu der Beobachtung, dass ein Mensch nicht alle erlernten Fremdsprachen bis zum obersten Niveau beherrscht. Für die Definition der sprachlichen Anforderungen von Flüchtlingen eignet sich der GeR damit grundsätzlich. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass der GeR in erster Linie Kompetenzen einer Zielgruppe erwachsener Europäer beschreibt. Damit ist er nicht ohne weiteres auf Menschen aus außereuropäischen Ländern anwendbar, wenn es beispielweise um die Faktoren Berufsbildung und Schulbildung geht. Somit ergibt sich für die Konzeption von Sprachkursen und Prüfungen die Aufgabe, die Beschreibungen des GeR mit Blick auf die Zielgruppe auszuwählen und die Realisierung in Kurs und Prüfung daraufhin anzupassen. Der am häufigsten rezipierte Teil des GeR ist die globale Beschreibung der Niveaustufen. Die grundlegenden Stufen, A: Elementare Sprachverwendung, B: Selbstständige Sprachverwendung und C: Kompetente Sprachverwendung, sind nochmals in sechs (A1, A2, B1, B2, C1, C2) bzw., wenn man die Plusstufen (A2+, B1+, B2+) einbezieht, in neun Stufen unterteilt. In Deutschland spielte bei der Festlegung der geforderten Sprachkenntnisse von Zugewanderten besonders die Charakterisierung „selbständige Sprachverwendung“ eine Rolle: „B1 Kann die Hauptpunkte verstehen, wenn klare Standardsprache verwendet wird und wenn es um vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. geht. Kann die meisten Situationen bewältigen, denen man auf Reisen im Sprachgebiet begegnet. Kann sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen und persönliche Interessengebiete äußern. Kann über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 15 46 (2017) • Heft 1 B2 Kann die Hauptinhalte komplexer Texte zu konkreten und abstrakten Themen verstehen; versteht im eigenen Spezialgebiet auch Fachdiskussionen. Kann sich so spontan und fließend verständigen, dass ein normales Gespräch mit Muttersprachlern ohne größere Anstrengung auf beiden Seiten gut möglich ist. Kann sich zu einem breiten Themenspektrum klar und detailliert ausdrücken, einen Standpunkt zu einer aktuellen Frage erläutern und die Vor- und Nachteile verschiedener Möglichkeiten angeben“ (GeR 2001: 35). Damit es in der Auslegung dieser Texte zuverlässig zu denselben Ergebnissen kommt, müssen mehrere Faktoren gegeben sein, denn Adjektive wie „komplex“, „abstrakt“, „fließend“ sind interpretationsbedürftig. Sie müssen in ein Gesamtverständnis des Systems eingebettet werden. Die Autoren des GeR machen im sog. Manual, Relating Language examinations to the Common European Framework (Europarat 2009) dazu klar, dass nur Fachleute, die sich mit dem GeR systematisch vertraut gemacht haben, in der Lage sind, das Niveau einer sprachlichen Leistung, zuverlässig zu bestimmen. Inakzeptabel ist es daher, wenn Angestellte bei Behörden wie etwa den Einwohnermeldeämtern oder bei Auslandsvertretungen, beauftragt werden, durch Schaltergespräche Sprachkenntnisse zu ermitteln oder zu überprüfen. In der politischen Debatte vor der Einführung der Integrationskurse in Deutschland verband sich die Festlegung des geforderten sprachlichen Niveaus mit der Finanzierbarkeit der dafür notwendigen Sprachkurse. Das Sprachniveau, das erreicht werden soll, hing und hängt immer noch von den zur Verfügung stehenden Mitteln ab, um die notwendigen Unterrichtseinheiten zu finanzieren. Da die Zuwandernden in der Regel nicht über ausreichende eigene Mittel verfügen, werden in Deutschland die Sprachkurse weitestgehend vom Staat finanziert. Die Zuwanderer und Zuwanderinnen bezahlen einen geringen Eigenbeitrag von ursprünglich 1 Euro, der inzwischen auf 1,95 Euro angehoben wurde. 2 Kostenfreiheit ist nicht in allen europäischen Staaten der Fall. Für Vertreter des Bundes und der Länder, die jeweils fünfzig Prozent der Kosten für die Kurse übernehmen, war es wichtig zu wissen, wie lange Lernende in der Regel brauchen, um die deutsche Sprache selbständig zu verwenden und die Stufe B1 zu erreichen. Teilnehmende sollten durch die Deutschkurse in die Lage versetzt werden, sich in der bundesrepublikanischen Realität ohne fremde Hilfe durch Übersetzer zurechtzufinden. Dass sie dabei eine für Erwachsene mit geringer Schulbildung hohe Kompetenz erlangen, war zwar gewünscht, aber nicht in jedem Fall realistisch. Das zeigt sich bei dem in der Einleitung erwähnten Zeitungsartikel mit der Forderung nach der Stufe B2. Bei der Kalkulation des Lernpensums muss berücksichtigt werden, welche Lernmotivation die Lernenden mitbringen. Auch biographische Daten wie Alter und Schulbildung spielen eine entscheidende Rolle für Lernfortschritt und -erfolg. Umso überraschender ist die Forderung, für die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt das Niveau B2 zu verlangen, das sich europaweit als Einstiegsniveau für ein Hochschulstudium zurzeit durchsetzt. Das Niveau B2 verlangt intellektuelle Fähig- 2 http: / / www.bamf.de/ DE/ Willkommen/ DeutschLernen/ Integrationskurse/ TeilnahmeKosten/ teilnahmekosten-node.html (01.02017); Trägerrundschreiben 12/ 16 des BAMF. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 16 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 keiten, die bei Personen mit nur sechsjähriger Schulbildung, wie sie sich tendenziell unter den älteren Frauen aus den Krisenregionen finden, eher selten aufweisen. Einen Ausweg aus einer zu eindimensionalen Festlegung auf ein einziges Sprachniveau in einer knapp bemessenen Kurszeit findet sich im deutschen System in zwei Maßnahmen: Zum einen wird die Zahl der Unterrichtseinheiten für diejenigen, die die Anforderungen in sechshundert Unterrichtseinheiten nicht erfüllen, bis zu hundert Prozent erhöht, zum anderen erlaubt der Einsatz einer skalierten Sprachprüfung es, auch Ergebnisse (in den schriftlichen Prüfungsteilen) unterhalb von B1 als Lernerfolg zu definieren. Die Teilnehmenden am Integrationskurs sollen das Niveau B1 erreichen. Das Zeugnis, das ausgestellt wird, bestätigt B1 aber auch, wenn in einem schriftlichen Prüfungsteil nur das Niveau A2 erreicht wurde (vgl. P ERLMANN -B ALME / P LASSMANN / Z EIDLER 2009: 83) Zu dieser Regelung fand das Projektteam zur Entwicklung des Deutsch-Tests für Zuwanderer in der Diskussion mit den Auftraggebern, dem Bundesinnenministerium und dem BAMF. Das skalierte Format ermöglicht eine relativ hohe Bestehensquote. Dazu die offizielle Pressemitteilung des BAMF: „Im Jahr 2012 erreichten 55,9 Prozent der Testteilnehmer das höchstmögliche Sprachniveau B1 (Vorjahr: 53,8 Prozent). Ein gutes weiteres Drittel, nämlich 35,4 Prozent, erreichte immerhin das Sprachniveau A2. Dies bedeutet, dass insgesamt 91,3 Prozent aller Prüfungsteilnehmer ein Sprachzertifikat erhielten, mit dem sie ihre Lernerfolge nachweisen können. Auch im Orientierungskurstest wurde 2012 ein neuer Rekord erzielt: 93,3 Prozent der Teilnehmer bestanden diesen bundesweit einheitlichen Test. Das bereits hohe Bestehensniveau stieg damit nochmals um 0,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr an. 3 Im Jahre 2015 stieg die Quote für den Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) auf 60,5 % und damit auf die höchste Quote seit Einführung des DTZ dar“. So optimistisch diese Mitteilungen klingen so klar wird darin, wie anspruchsvoll speziell der Sprachtest für die Teilnehmer ist. Das Niveau B1 ist eine Herausforderung für die Zielgruppe, die eingangs zitierte Forderung nach einer Erhöhung auf B2 muss, sofern sie als Maßnahme für alle Teilnehmenden gedacht ist, daher skeptisch betrachtet werden. 4. Kurs und Prüfung: Rahmencurriculum und Deutsch-Test für Zuwanderer Die 2005 auf eine neue Basis gestellten bundesweiten Integrationskurse sollten mit einem verbindlichen einheitlichen Abschluss versehen werden. Anders als die Aussiedlersprachkurse der 1990er Jahre sollten die neuen Sprachkurse nicht im „Ungewissen“ enden. Der geforderte Abschlusstest sollte aber auch nicht einen erheblichen Teil von Teilnehmenden frustriert zurücklassen, die das ambitioniert auf B1 3 http: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Meldungen/ DE/ 2013/ 20130418-inge-statistik-2012.html (13.06.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 17 46 (2017) • Heft 1 festgelegte Sprachniveau nicht erreichten. Um diesen unerwünschten Effekt zu vermeiden, wurde das Konzept eines über zwei Niveaustufen skalierten Abschlusstests umgesetzt, bei dem außer B1 auch das darunterliegende Niveau A2 ausgewiesen werden kann. Diese skalierte Sprachprüfung wurde im Auftrag des Bundesinnenministeriums und unter Begleitung des BAMF in einem zweieinhalbjährigen Projekt vom Goethe-Institut in Zusammenarbeit mit der telc GmbH, Frankfurt, entwickelt. Der Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) ist in vier Fertigkeiten eingeteilt: Lesen, Hören, Schreiben und Sprechen. Hier trafen die Testentwickler eine Entscheidung gegen einen zusätzlichen separaten Testteil zum sprachlichen Wissen in Grammatik und Wortschatz und für den rein handlungsorientierten Ansatz. Ein Diskussionspunkt bei der Festlegung des Testaufbaus war die Frage, ob und im welchem Umfang Prüfungsteilnehmende in der Realität die Fertigkeit Schreiben benötigen. Während Kursleiter bei ihren qualitativen Rückmeldungen eher ablehnend reagierten, sahen Migrationsforscher eine Relevanz von Schriftsprachlichkeit für die Integration in die Aufnahmegesellschaft (vgl. M AAS / M EHLEM 2003). Bei ihnen herrschte die Auffassung, dass die Vorbereitung auf die deutsche Gesellschaft in der Schriftlichkeit eine entscheidende Rolle spielt, das Einüben einiger grundlegender Regeln derselben zentrales Kursziel und damit auch Prüfungsziel sein sollte. Alle Testaufgaben orientieren sich an Aktivitäten der realen Welt, z.B. eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter abhören, einen Termin vereinbaren, eine Anfrage formulieren, etwas im Alltagsgespräch aushandeln usw. Hier ein Beispiel zur Überprüfung des Leseverstehens (vgl. P ERLMANN -B ALME / P LASSMANN / Z EIDLER 2009: 54) Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 18 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 Abb. 1: Deutsch-Test für Zuwanderer, Modelltest, Aufgabe Lesen (P ERLMANN -B ALME et al. 2009) Die Handlungsbzw. Realitätsorientierung der Aufgaben wurde in der Testentwicklung überdies bei der Wahl der Textsorten umgesetzt. Prüfungsteilnehmende sollen nachweisen, dass sie auch mit authentischen Texten wie beispielsweise einem Inhaltsverzeichnis oder Register (siehe Beispiel) umgehen können. Sie sollen Texte bewältigen und gezielt Informationen entnehmen, die eine Fülle von unbekannten Wörtern enthalten, wie das in der Alltagswirklichkeit auch der Fall ist. Beispiele sind Branchenverzeichnisse, Stellenanzeigen oder Beipackzettel von Medikamenten. Das Besondere waren damit die als relevant ausgewählten Textquellen und Inhalte. Entscheidendes Qualitätsmerkmal dieses Kursabschlusstestes ist das Vorhandensein eines Rahmencurriculums für die Deutschkurse. Dieses gibt einerseits den Kursen einen inhaltlichen Rahmen, es setzt und determiniert aber auch gleichzeitig den Prüfungsstoff. Das Hauptziel des Rahmencurriculums lag in der Definition der Bedürfnisse und Lebensbereiche, die für eine Teilhabe an der Gesellschaft wesentlich sind. Bei der Definition dieser Bedürfnisse hat das Rahmencurriculum für die Integrationskurse Grundlagenarbeit geleistet (vgl. B UHLMANN et al. 2009). Während der Referenzrahmen erwachsene Fremdsprachenlerner generell, nicht aber Zuwandernde im Auge hatte, stellt das Rahmencurriculum Aktivitäten für zwölf Handlungsfelder von Migrantinnen und Migranten zusammen. Eine von der Universität München Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 19 46 (2017) • Heft 1 durchgeführte Bedarfsrecherche 4 aus dem Jahr 2007 ermöglichte eine Hierarchisierung der Bedürfnisse von Teilnehmenden hinsichtlich wichtiger Themenbereiche. Dazu zählen die Betreuung und Ausbildung der Kinder sowie der Gesundheitsbereich. Zusammen mit dem Bereich Arbeitssuche wurden sie von einer Mehrheit der Befragten als relevant benannt. Diese Priorisierung schlug sich auch in der Berücksichtigung bei den Prüfungsthemen nieder. Für die Prüfungskonzeption ist wichtig, dass die Migrantinnen und Migranten keine einheitliche Gruppe bilden. Außer hinsichtlich ihrer Herkunftsländer unterscheiden sie sich auch hinsichtlich der Länge des Aufenthalts in Deutschland sowie hinsichtlich persönlicher Gründe für die Migration. Diese Unterschiede wurden bei der Prüfungskonstruktion berücksichtigt. Für die Testentwicklung relevant war die Definition von drei Teilzielgruppen, die das Rahmencurriculum vornahm (E HLICH 2007): „Gruppe A: verfügt über Lernerfahrungen, Schul- und Bildungsabschlüsse sowie Fremdsprachenkenntnisse und hat daher dezidierte Bildungs- und Berufswünsche. Gruppe B: verfügt über ein niedrigeres Bildungs- und Qualifizierungsniveau, weist daher oft Defizite beim Umgang mit der Schriftlichkeit bzw. Schreibgewohntheit auf und ist eher auf eine Zukunft im Kreis der Familie mit Kindern ausgerichtet. Gruppe C: verfügt ebenfalls über ein niedrigeres Bildungs- und Qualifizierungsniveau und weist im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen den höchsten Altersdurchschnitt sowie die längste Aufenthaltsdauer auf. Zukunftserwartungen orientieren sich an einer Wiedereingliederung in die Arbeitswelt auf relativ niedrigem Qualifizierungsniveau bzw. dem Erhalt der Beschäftigung“. Die im Rahmencurriculum beschriebenen Handlungsfelder und Kommunikationsbereiche differieren nach ihrer Relevanz für jede dieser drei Zielgruppen. In der Prüfung wird ein curricularer Kernbereich thematisiert, der in allen Kursarten unterrichtet wird. Verlangt werden somit nur solche Aktivitäten bzw. Kompetenzen, die im Rahmencurriculum für alle drei Teilzielgruppen als relevant aufgeführt sind, oder die - wie zum Beispiel einfache Stellenanzeigen - für alle drei Zielgruppen als Vorbereitung auf die bundesdeutsche Realität interessant sind. Unter den Akteuren im Integrationskursbereich bestand gleichermaßen eine Skepsis gegenüber einem neuen Abschlusstest, der leichter sein könnte als die bis dahin maßgebliche Prüfung Zertifikat Deutsch, wie auch gegen einen Test, der die Anforderungen möglicherweise noch weiter anheben würde. Auf der Basis der statistischen Ergebnisse von Teilnehmenden, die beide Tests abgelegt haben, ließ sich nachweisen, dass die des Deutsch-Tests für Zuwanderer hinsichtlich ihres Schwierigkeitsgrades breiter streuen als die des Zertifikats Deutsch, d.h. der Zuwandertest weist bei den erprobten Versionen mehrere Aufgaben von geringerem Schwierigkeitsgrad auf als das Zertifikat Deutsch. Dies entspricht der Logik, dass die Prüfung auch Aufgaben unterhalb der Stufe B1 anbietet. 4 http: / / www.goethe.de/ lhr/ prj/ daz/ pro/ InDaZ_Recherche.pdf (22.11.2016) Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 20 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 Zu den internationalen Qualitätsanforderungen von Sprachprüfungen gehört die Eichung auf den Referenzrahmen: Wie bereits zu Beginn beschrieben, ist das externe Referenzsystem bei allen wichtigen Sprachprüfungsprodukten seit Mitte der 2000er Jahre der GeR. Es geht also nicht um die Frage, ob der Referenzrahmen der Bezugspunkt ist, sondern wie nachvollziehbar das Verhältnis ist, da immer noch manche Prüfungsanbieter der Vorstellung anhängen, es reiche aus, eine Zuordnung der Niveaustufe zur Prüfung nach Augenschein vorzunehmen. Wichtig bei der Definitionsphase des Deutsch-Tests für Zuwanderer war, dass die Konzeption detailliert Auskunft darüber gibt, welche Deskriptoren des GeR herangezogen wurden, um die Prüfungsziele zu definieren. Da der GeR jedoch keine detaillierten Deskriptoren für die Zielgruppe der Zuwanderer bereitstellt, hat die für das Rahmencurriculum zuständige Arbeitsgruppe es unternommen, diese Lücke zu schließen. 5. Anforderungen am Arbeitsmarkt Soll die bevorstehende Integration von neu angekommenen Flüchtlingen gelingen, müssen die Vorstellungen, welche Art von Sprachkenntnissen überprüfbar sind, an den realen Bedürfnissen orientiert sein. Ein Mittel dafür ist die sorgfältige Erstellung von Bedarfs- und Bedürfnisanalysen. Befragungen der beteiligten Akteure sind dabei unverzichtbar. In diesem letzten Abschnitt des Aufsatzes sollen die Ergebnisse einer solchen länderübergreifenden Befragung erläutert werden. Dabei wurden nicht, wie bei der Studie zum Rahmencurriculum, Kursleitende und Sprachexperten befragt, sondern Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Durch den Europäischen Integrationsfond wurde 2012 unter Aktion 8 ein Projekt zum Austausch von „Good practices“ finanziert. 5 Experten aus drei Ländern führten 2014 in Deutschland, Italien und Portugal eine Umfrage durch, um gute Beispiele aufzuspüren, mit welchen Maßnahmen Integration am Arbeitsplatz gelingen kann. Die Ergebnisse sollen politischen Entscheidungsträgern zur Verfügung gestellt werden. Bei den befragten Migrant(inn)en handelte es sich um Bürger aus Nicht-EU-Staaten. Mit Hilfe von parallelen Fragebogen in den drei Sprachen wurden vier Sektoren untersucht: • Produzierendes Gewerbe, • Bau, z.B. Lastwagenfahrer, • Gastronomie, z.B. Küchenhilfen • Dienstleistungen, z.B. Reinigungspersonal. Teilgenommen haben in Deutschland Firmen wie Zapf und Lacon Electronic aus dem Baugewerbe, GeoData+ aus dem Dienstleistungsbereich oder Nordsee aus der Gastronomie. 5 Ref. Public Notice of the Ministry of Interior - Department for civil liberties and immigration, Decree Prot. No. 3004 of 7 May 2013; ALTE (2014) http: / / www.alte.org/ projects/ project_fei (13.06.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 21 46 (2017) • Heft 1 Ausgangspunkt war die Hypothese, dass Sprachkenntnisse neben dem Ausbildungsstand für die erfolgreiche Arbeitsplatzsuche und die Integration in den Arbeitsmarkt von fundamentaler Bedeutung sind. Diese Hypothese wurde von beiden Befragtengruppen bestätigt. Die mit Abstand wichtigsten Ratschläge, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Arbeitssuchenden geben, sind, Kenntnis der Landessprache zu erwerben, gefolgt von der Respektierung der Gesetze sowie das Vermeiden von Isolation. Beinahe die Hälfte der befragten Arbeitnehmer in Deutschland fanden ihren Arbeitsplatz nicht über die offiziellen Kanäle wie zum Beispiel Anzeigen oder Jobagenturen, sondern durch Mund-zu-Mund-Propaganda unter Freunden, in Italien waren das sogar bis zu 87 Prozent der Fälle. Eine Überprüfung der Strategien der Bundesagentur für Arbeit oder eine Neukonzeption der Arbeitssuche für die Migranten scheint somit ein möglicher Ansatzpunkt zu sein. Befragt danach, wie die Firmen bei einer Einstellung die Sprachkenntnisse der Bewerber überprüfen, wurde das Bewerbungsgespräch als wichtigstes Instrument genannt. Arbeitgeber verlassen sich bei der Einstellung von nicht-muttersprachlichen Mitarbeitern kaum auf zertifizierte Sprachkenntnisse, weil sie mit den fremden Ausbildungssystemen in der Regel nicht vertraut sind. Hier sind also die Anbieter von international bekannten Sprachzertifikaten gefragt, ihre Kommunikation zu verbessern. Es sollte mehr Informationsmaterial zum GeR speziell für Arbeitgeber bereitgestellt werden. Für Arbeitgeber müssen Leitfäden ausgearbeitet werden, die Aspekte der Sprachbeherrschung in den Mittelpunkt stellen. Eine Analyse der Sprachverwendungssituationen erbrachte eine ganze Reihe wichtiger Gemeinsamkeiten zwischen den Sektoren. In allen wurde das Sprechen als wichtig angesehen, insbesondere mündliche Interaktion zu verstehen, mit Kollegen und Vorgesetzten zu sprechen. Die befragten Arbeitnehmer bekräftigten, dass das Verständnis von schriftlichen und mündlichen Instruktionen sowie von schriftlichen Warnhinweisen und Schildern eminent wichtig sei. Schreiben wurde dagegen als weniger wichtig eingestuft. Während eines normalen Arbeitstages mussten einige „nie“ und die größte Gruppe „gelegentlich“ am Arbeitsplatz etwas schreiben. Im Bereich Wortschatz werden Fachausdrücke von einem hohen Anteil der Arbeitnehmer als besonders relevant eingestuft. Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis: Zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herrscht eine Diskrepanz hinsichtlich der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Deutschkenntnisse. Die Mehrheit der Arbeitnehmer hält seine/ ihre Sprachkenntnisse für gut oder sogar sehr gut. Die Arbeitgeber dagegen bezeichneten diese Kenntnisse eher nur als „ausreichend“. Die Arbeitnehmer beurteilen ihre Sprachkenntnisse also deutlich positiver als die Arbeitgeber. Damit unterschätzen Arbeitnehmer unter Umständen die negative Wirkung von geringer Sprachkompetenz. In Deutschland gaben zwei Drittel der befragten Arbeitgeber an, dass sie Weiterbildungsmaßnahmen anbieten, allerdings haben Arbeitgeber teilweise unrealistische Vorstellungen darüber, in welcher Zeit Fortschritte bei den Sprachkenntnissen erzielt werden können. Mit fünfzig Stunden Sprachunterricht kommt man bei Teilnehmenden auf der Stufe Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 22 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 A1 nicht sehr weit, d.h. es sind in so kurzer Zeit nur kleinere Fortschritte im Sprechen zu erzielen. Abb. 2: Weiterbildung am Arbeitsplatz Von ihren Arbeitnehmern werden die Fortbildungsangebote nur dann gern und regelmäßig wahrgenommen, wenn sie während der Arbeitszeit durchgeführt werden. Ausländische Arbeitnehmer, die eine Arbeitsstelle haben, sind offenbar schwer zu motivieren, sich in der Freizeit fortzubilden. Einen besonderen Platz in der Debatte über die Deutschkenntnisse von Zuwandernden nimmt die Berufsgruppe der Mediziner ein, d.h. der bereits ausgebildeten Ärzte, Medizinstudenten vor Antritt der Facharztausbildung sowie des Pflegepersonals. Dabei spielt die Einschätzung, wie wichtig der fachsprachliche Anteil bei der Feststellung der sprachlichen Kompetenz ist, eine wichtige Rolle. Unter dem Titel „Darm oder Daumen? “ berichtete die Süddeutsche Zeitung am 11.03.2013 (H ARDENBERG 2013) über einen Fall mangelnder Deutschkenntnisse mit gefährlichen Konsequenzen. Da es keine bundeseinheitliche Regelung bei der Festlegung sprachlicher Voraussetzung der Ärzte gibt, wie im Falle der Niederlassungserlaubnis oder Staatsbürgerschaft, dauert in diesem Bereich die lebhafte politische Diskussion an, welches das richtige Sprachniveau ist und ob allgemeinsprachliche oder fachsprachliche Anforderungen nachgewiesen werden sollen. Eine bundeseinheitliche Aktion wie im Falle des Deutsch-Tests für Zuwanderer könnte hier Transparenz und mehr Sicherheit für die Beteiligten bringen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 23 46 (2017) • Heft 1 6. Anforderungen bei Einreise, Aufenthalt, Staatsbürgerschaft Das Beispiel des Deutsch-Test für Zuwanderer zeigte eine relativ sorgfältige Vorgehensweise, bei der zunächst das neue Integrationsgesetz die Grundlage legte für ein bundesweit angelegtes Netz von Sprachkursen, das Zuwandernden kostengünstige Lernmöglichkeiten anbietet und am Ende die Zielerreichung durch einen Kursabschlusstest überprüft. Experten führten das zweieinhalbjährige Projekt durch, die Bewertungskommission begleitet die Implementierung und beschloss Anpassungen, wo diese notwendig waren. Mit so viel Plan und Hinwendung wird nicht immer gearbeitet, wenn Sprachtests zum Einsatz kommen, um Migranten für den Zugang zum eigenen Staat auszuwählen. Zum Teil müssen die politischen Entscheidungen als schwer nachvollziehbar und die Tests als unzweckmäßig qualifiziert werden. Die Anzahl von Staaten, die Sprachanforderungen an Migranten stellen, hat sich in den Jahren 2009 bis 2013 um 20 Prozent gesteigert. Inzwischen müssen Migranten in 78 Prozent aller 47 Staaten des Europarates eine Sprachbarriere überwinden. Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse einer Umfrage bei den Mitgliedern der Association of Language Testers in Europe (ALTE), die erstmals 2009 und das zweite Mal 2013 durchgeführt wurde (ALTE 2016: 9ff.). Gefragt wurde nicht nur nach Sprachtests, sondern auch nach Wissenstests, die unter dem Begriff „Knowlege of Society“ zusammenfasst sind. Die Unterschiede in den verlangten Niveaustufen, aber auch in Bezug auf verlangte Fertigkeiten sind auffällig. Während Deutschland wie die Schweiz höhere Anforderungen im Sprechen stellen, verlangt Luxemburg für die Staatsbürgerschaft im Hörverstehen eine höhere Kompetenz als im Sprechen. Österreich hat den skalierten Deutsch-Test für Zuwanderer aus Deutschland für den dauerhaften Aufenthalt eingeführt. Land Einreise; Familien- / Ehegattennachzug Niederlassungserlaubnis Staatsbürgerschaft Andorra A1/ A2 mündlich Belgien A2 Dänemark A1 A2 schriftlich B1 mündlich B1 (B1+ mündlich) Deutschland A1 alle vier Fertigkeiten Sprachkurs, B1; Schriftlich teilweise A2; Sprechen B1 B1 Estland B1 B1 Finnland B1 Frankreich Kurs, 40 Stunden A1-A2 B1 mündlich Griechenland A2 A2 Italien A2 mündlich A2 Lettland A2 B1 Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 24 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 Land Einreise; Familien- / Ehegattennachzug Niederlassungserlaubnis Staatsbürgerschaft Liechtenstein A1 A2 B1 Litauen A2 B1 Luxemburg A2 Sprechen B1 Hören Moldawien A1-A2 A1-A2 Niederlande A1 A2 A2 ohne Sprechen Norwegen A2 mündlich Österreich A2-B1 B1 Portugal A1 A2 Slowenien A2 schriftlich, B1 mündlich Schweiz A2, B1 mündlich Tschechien A1 B1 Vereinigtes Königreich A1 mündlich B1 B1 Zypern A1-A2 Abb. 3: Sprachliche Mindestanforderungen mit GeR Niveaus 2014 (ALTE 2016: 11) Inzwischen hegen nicht nur Mitglieder des Europarats aus der Arbeitsgruppe LIAM (Language for Integration of Adult Migrants) Bedenken gegen den wachsenden Einsatz von Sprachtests, geht es dem Europarat doch um das Durchsetzen von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in seinen 47 Mitgliedsstaaten. Die ALTE vertritt über 30 europäische Institutionen, die Sprachprüfungen in 26 Sprachen entwickeln und vertreiben. ALTE setzt sich unter anderem für länderübergreifende Anerkennung von Zeugnissen und für gemeinsame Qualitätsstandards ein. Deren Arbeitsgruppe LAMI (Language for Migration and Integration) befasst sich mit dem Einsatz von Sprach- und Wissenstests in politischen Kontexten (vgl. S AVILLE 2009). Gerade weil ihre Mitglieder selber Sprachprüfungen entwickeln und verbreiten, achten sie darauf, dass minimale Qualitätsanforderungen nicht unterlaufen werden. Aufgrund ihrer fachlichen Expertise verhindern sie, dass Sprachtests mit unrealistisch hohen Anforderungen eine Anerkennung erhalten. Beide Organisationen beobachten, sammeln und systematisieren die Entwicklungen auf europäischer Ebene in Bezug auf die gesetzlichen Regelungen der Mitgliedstaaten zu sprachlichen Anforderungen für Familiennachzug, dauerhaften Aufenthalt, Integration in den Arbeitsmarkt sowie den Erwerb der Staatsbürgerschaft. Sie weisen hin auf Testfairness als besonders wichtiges Qualitätskriterium. „Unfaire Tests können zur Folge haben, dass Migrantinnen und Migranten Bürgerrechte und Menschrechte verweigert werden“ (ALTE 2009: 4). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 25 46 (2017) • Heft 1 Der deutsche Sprachtest Start Deutsch 1 wurde als formelle Anforderung 2006 als Reaktion auf eine hohe Zahl von nachziehenden Ehegatten aus Ländern wie der Türkei, Thailand, China und anderen eingeführt. Er testet Deutschkenntnis auf dem untersten Niveau, A1, in allen vier Fertigkeiten, also Lesen, Hören, Schreiben und Sprechen. Die Einführung dieser Prüfung führte seither zu zahlreichen Gerichtsverfahren, erregter politischer Diskussion und zahlreichen Anfragen im Bundestag. Problemfälle bei diesem Test sind Teilnehmende mit sehr geringer Schulbildung und Analphabeten, die mit schriftlichen Tests nicht geprüft werden können. In den letzten Jahren hat sich die Lage aber durch Einführung von sog. „Härtefall-“ und Ausnahmeregelungen etwas beruhigt. Für den dauerhaften Aufenthalt in Deutschland wird nach Absolvieren eines 600 Unterrichtseinheiten umfassenden Sprachkurses ein Kursabschlusstest, der oben beschriebene Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) auf dem Niveau A2 bis B1, sowie der sog. Orientierungskurstest nach derzeit 60 Stunden Unterricht eingesetzt. Zurzeit erwägt der Gesetzgeber für den Kurs über gesellschaftliche Werte eine Aufstockung auf 100 Unterrichtseinheiten. Die Teilnehmenden bezahlen keine Prüfungsgebühr. Der Test wird von allen verpflichteten Ausländern verlangt und nur innerhalb Deutschlands abgelegt; die flächendeckend verteilten Testzentren werden vom BAMF lizensiert. Ein Vergleich der Angaben der o.g. Länder zeigt die große Heterogenität. Die Anforderungen für die Niederlassungserlaubnis sind europaweit von A1 bis B1 weit gefächert. Deutschland liegt im oberen Feld. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Erwerb der Staatbürgerschaft. Hier ist die Gruppe der Staaten, die B1 verlangen, am größten. 7. Ausblick Mit der Flüchtlingskrise 2015 hat die aktuelle, vierte Phase der Migrationspolitik begonnen. Im Jahr 2016 wurde ein neues Integrationsgesetz verabschiedet. Durch den Druck, über eine Million Menschen in Gesellschaft und Arbeitsmarkt integrieren zu müssen, werden nicht bloß organisatorische Abläufe kritisch hinterfragt, sondern auch das inhaltliche Konzept sowie die Zugangsbedingungen zu den Sprachkursen. Die schnelle Aufnahme einer Berufstätigkeit wird nun stärker als bislang in den Vordergrund gerückt. Ziel des Sprachkurses soll die Vorbereitung einer schnellen und nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt sein. Die Folge ist, dass arbeitsweltliche Handlungsfelder mehr Gewicht bekommen werden. Angesichts der intensiv geführten Diskussion über gesellschaftliche Werte soll deren Vermittlung verstärkt werden, und zwar nicht nur im Orientierungskurs, sondern auch im Sprachkurs. Bei der Umsetzung des Mottos „Fördern und Fordern“ sollte aber das Augenmaß beibehalten werden, um die Lernfähigkeit der heterogenen Zielgruppe richtig einzuschätzen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 26 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 Literatur ALTE (2009): Sprachtests für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Staatsbürgerschaft. Ein Leitfaden für Entscheidungsträger. Deutsche Fassung: Goethe-Institut. https: / / www.goethe.de/ mmo/ priv/ 5279579-STANDARD.pdf (13.06.2016). 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