eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 37/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2008
371 Gnutzmann Küster Schramm

Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung

2008
Liesel Hermes
* Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Liesel H ERMES , Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Bismarckstr. 10, 75133 K ARLSRUHE . E-mail: hermes@ph-karlsruhe.de Arbeitsbereiche: Literaturdidaktik, Literaturwissenschaft, Hochschuldidaktik. 37 (2008) L IESEL H ERMES * Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung Abstract. Teacher training programmes invariably include literature courses. However, these should also cover literature that is relevant for future teachers, i.e. literary texts that are read in schools from grades 1 to 12. The following article concentrates on literary texts and adaptations for grades 5-10. Adaptations come under the heading of „language learner literature“ that is meant to help adolescents find an approach to literary texts and read with pleasure in the foreign language. Future teachers should therefore learn not only to analyse originals, but also to analyse adapted texts, compare them with originals and evaluate and reflect their merit for teaching in class. Moreover, they should try and adapt a literary text themselves in order to become aware of the multiple difficulties that are inherent in any text adaptation. 1. Einleitung In neueren literaturdidaktischen Publikationen ist viel Innovatives zum Literaturunterricht geschrieben worden (vgl. u. a. H ALLET / N ÜNNING 2007; B REDELLA / H ALLET 2007; F ÄCKE / W ANGERIN 2007). Alle neueren Theorien, Konzepte und Modelle literaturdidaktischen Handelns und Unterrichtens werden aber nicht recht wirksam, wenn nur Literaturdidaktiker und -didaktikerinnen sie reflektieren, kommentieren und kritisieren. Sie müssen von Englischlehrkräften rezipiert, reflektiert und umgesetzt werden, um wirksam für Änderungen im Literaturunterricht zu werden, und das in Einklang mit mehr oder minder präskriptiven Bildungs- oder Lehrplänen. Wichtig ist überdies, dass literaturdidaktische Themen, Theorien und Modelle verbindliche Inhalte im Fremdsprachenlehrerstudium darstellen. Noch immer ist in einer Reihe von Bundesländern die Fachdidaktik Stiefkind in den Lehramtsstudiengängen, da davon ausgegangen wird, dass eine philologische Fachrichtung studiert wird; und obwohl die weitaus größte Zahl der Studierenden in ein Lehramt strebt, wird die Fachdidaktik als eine Art Appendix betrachtet, nicht aber als eine zentrale berufswissenschaftliche Komponente des Studiums, die die Kompetenzen vermittelt, die für eine spätere Unterrichtstätigkeit zu allererst qualifizieren. Der folgende Beitrag möchte sich daher auf eine spezifische Facette der literaturdidaktischen Ausbildung konzentrieren und diese in der Hauptsache nicht mit Blick auf die Oberstufe des Gymnasiums, sondern mit Blick auf die Sekundarstufe I darstellen. Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung 269 37 (2008) 2. Zur Rolle der Literatur in der Schule Literatur ist lange als Privileg und Monopol der Sekundarstufe II angesehen worden, hier wurde und wird sie gelesen und diskutiert; und auf die Sekundarstufe II konzentrierten sich entsprechend die meisten literaturdidaktischen Publikationen. Vernachlässigt wurden die Klassen 5-10, die doch den Großteil der Schülerinnen und Schüler ausmachen. Mit dem Grundschulenglisch sind in den letzten Jahren in etlichen Beiträgen auch die spezifischen Möglichkeiten reflektiert worden, wie mit einfachen literarischen Texten schon in den ersten Jahren Englisch gearbeitet werden kann (vgl. B URWITZ -M ELZER 2007). Wenn die Kinder in Deutschland bereits nach der 4. Grundschulklasse in der Regel in drei verschiedene Schultypen selektiert werden, so ist lange Jahre übersehen worden, dass gerade die Kinder aus eher bildungsfernen Schichten zumeist nur wenige Schuljahre zur Verfügung haben, um sich überhaupt der Literatur zu nähern und literarische Texte zu lesen. Dabei brauchen gerade Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern Kompensationsmöglichkeiten in der Schule und durch die Schule, um Literatur zu begegnen und eine positive Haltung zu literarischen Texten entwickeln zu können. Daraus folgt, dass ein wichtiger Teil des literaturdidaktischen Studiums den Klassen 5-10 gewidmet werden sollte, und das umso mehr, als Studierende in der Regel nur ihren eigenen gymnasialen Oberstufenunterricht und den damit verbundenen Literaturunterricht in Erinnerung haben. Sie haben aber weder den Mittelstufenunterricht noch den Realschul- oder gar Hauptschulunterricht vor Augen, wenn es um die Vermittlung von Literatur geht. Der Unterricht in den Klassen 5-10 ist in allen Schultypen in der Regel lehrwerkorientiert. In Lehrwerken spielen zwar das Lesen und die Entwicklung von Lesestrategien eine wesentliche Rolle, aber ‚literarische‘ Texte sind zunächst Lehrwerkserzähltexte und -dialoge, die immer unter dem funktionalen Aspekt des Lernens der Fremdsprache gesehen werden, auch von den Lernenden. D.h. an jedem Inhalt wird zugleich die sprachliche Progression in Lexik und Grammatik festgemacht. Dass literarische Texte um ihrer selbst willen und nicht ausschließlich wegen der Sprachaneignung gelesen werden können, erschließt sich erst in den Klassen 9 und 10, wenn Lehrwerke bearbeitete short stories einführen (vgl. unten), ansonsten aber wird dieser Sachverhalt nur an lehrbuchunabhängigen Texten deutlich. Umso wichtiger ist in den Lehramtsstudiengängen neben literarischer Bildung eine solide literaturdidaktische Ausbildung, die sich unabhängig vom Schultypus auf die genannten Klassenstufen bezieht. Gefragt ist berufswissenschaftliche Kompetenz, was Notwendigkeit, Möglichkeiten und Chancen des Umgangs mit Literatur anbelangt. 3. Kompetenzorientierung der Lehramtsstudiengänge Mit der Umwandlung der Lehramtsstudiengänge in BA-/ MA-Studiengänge geht eine straffere Strukturierung und im Gefolge des Bologna-Prozesses auch die Modularisierung einher. Standards und Kompetenzen sind von der KMK und der HRK in Bezug auf die Bildungswissenschaften definiert worden. Ich habe versucht, sie im Hinblick auf die 270 Liesel Hermes 37 (2008) literaturdidaktische Facette des fachdidaktischen Studiums zu konkretisieren (H ERMES 2007a: 75-76). Für diesen Beitrag werden nur die ausgewählt, die in unmittelbarem Bezug zum Thema stehen und damit als Grundlage für die modellhafte Darstellung einer fachdidaktischen Lehrveranstaltung angesehen werden können. Die Standards (H ERMES 2007a: 75-76) lassen sich wie folgt formulieren: Ë über literaturdidaktisches Wissen verfügen, Ë Literaturunterricht planen, gestalten und evaluieren. Diesen Standards lassen sich Kompetenzen zuordnen, die hier in Auswahl wiedergegeben werden: Ë Über literaturdidaktisches Wissen verfügen: C literaturwissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten im Hinblick auf Literaturdidaktik reflektieren, C über eine breite Kenntnis an literarischen Texten verfügen, die für verschiedene Lernstufen geeignet sind, C über Grundkenntnisse von Englischlehrwerken einschließlich ihrer Textsorten sowie über Kenntnisse von Lektüren und Lektüreserien für verschiedene Lernstufen verfügen, C literarische Texte im Hinblick auf ihre Eignung für unterschiedliche Lerngruppen prüfen und beurteilen können, C Kriterien für die Auswahl literarischer Texte im Hinblick auf verschiedene Lernstufen kennen, kritisch reflektieren und anwenden können, C sprachliche, inhaltliche und (fremd-)kulturelle Analysen von literarischen Texten im Hinblick auf eine Lerngruppe durchführen können, C das methodische Potential von literarischen Texten im Unterricht im Hinblick auf eine Adressatengruppe beurteilen können. Ë Literaturunterricht planen, gestalten und evaluieren: C literarische Texte in ihrem literaturdidaktischen Potential einschätzen und entsprechend Literaturunterricht planen, C sprachliche, inhaltliche und kulturelle Probleme von Texten für eine Lerngruppe antizipieren und minimieren bzw. fruchtbar machen, C literaturdidaktische Reduktion im Hinblick auf eine Lerngruppe und konkreten Unterricht reflektieren, C ein Bewusstsein für die Möglichkeiten der Begegnung mit literarischen Texten wecken und entsprechende Motivation schaffen können. Wesentlich für den hier gewählten Ansatz ist die Überzeugung, dass Studierende eben nicht nur fundierte literarische Kenntnisse brauchen, sondern dass es ein wesentliches Element des Studiums sein muss, sie mit Literatur bekannt und vertraut zu machen, die tatsächlich im Unterricht gelesen werden kann. Die breite Kenntnis von entsprechenden Texten muss einmünden in die Fähigkeit, ihre Angemessenheit für den schulischen Fremdsprachenunterricht ebenso wie ihr sprachliches, literarisches und methodisches Potenzial zu beurteilen, wobei die Zielvorstellung unabhängig vom Schultypus und der Lernstufe in einer sprachlich machbaren und motivierenden literarischen Begegnung liegen sollte. Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung 271 37 (2008) 4. Literatur und „Language Learner Literature“ Die Voraussetzung für eine solche Sichtweise ist die Zugrundelegung eines weiten Begriffs von Literatur und von Authentizität. Literatur darf also nicht im engen traditionellen Sinne verstanden werden, sondern muss quasi-literarische Lehrwerktexte ebenso einschließen wie Bearbeitungen von literarischen Originalen und Originaltexte im engen Sinne (vgl. M C R AE 1991). Diese wiederum schließen englischsprachige Kinder- und Jugendliteratur ein. Fruchtbar ist in dieser Hinsicht der Begriff „language learner literature“ (D AY / B AMFORD 1998: 63 ff). Darunter verstehen die Autoren nicht nur Kinder- und Jugendliteratur. Sie fassen den Begriff noch weiter: „It includes fiction and nonfiction, original writing and texts written for language learners. But whatever form it takes, language learner literature presupposes the integrity that marks all genuine writing: that it be not a lesser version of something else but a fully realized, complete-in-itself act of communication between author and audience“ (1998: 64). Somit vermeidet der Begriff jede Stigmatisierung. Aus den zehn verschiedenen Bereichen, die D AY und B AMFORD in dem Kapitel „Materials: the lure and the ladder“ (1998: 96-106) nennen und die zum Teil mehrere Textsorten umfassen, sollen hier nur die vier wichtigsten genannt werden: C Alle literarischen Originale, soweit sie sprachlich und inhaltlich für eine Altersgruppe geeignet erscheinen; C Jugendliteratur oder „young adult novels“, für die dieselben Kriterien gelten und die auch von der fachdidaktischen Literatur berücksichtigt werden (vgl. O’S ULLIVAN / R ÖSLER 2002; H ERMES 2001; H ERMES 2006b). Es gibt allerdings Jugendliteratur, die in einer spezifischen Jugendsprache verfasst und damit für deutsche Jugendliche in der Fremdsprache nur schwer verständlich ist. Mit Jugendsprache sind hier sowohl lexikalische und grammatische Spezifika gemeint wie auch eine Orthographie, die jugendliche Aussprache zu spiegeln versucht. C Einfache für Lerner verfasste Literatur, die D AY und B AMFORD mit „simple originals“ bezeichnen und die sie folgendermaßen charakterisieren: „Just as in rewritten and adapted first language texts, the words, structures, and text types of simple originals are determined by the particular level of the students for whom the text is intended“ (1998: 57). Genauso wie originale Kinderliteratur in einfacher, dem sprachlichen Vermögen der Leserschaft entsprechender, Sprache verfasst ist, genau so gibt es originale Texte für Fremdsprachenlerner, die auf einer bestimmten, zumeist nur grammatikalisch definierbaren Sprachstufe verfasst sind, während sich der lexikalische Umfang nicht exakt definieren lässt (vgl. H ERMES 2007b: 108). C „Simplified literature“ oder Textbearbeitungen englischer oder amerikanischer Originale (vgl. H ERMES 1979; H ERMES 1992; H ERMES 2006a; H ERMES 2007b). Studierende kommen in der Regel vom Gymnasium und sind daher mit literarischen Originalen mehr oder minder vertraut. Es fehlen ihnen aber zumeist Kenntnisse über andere Arten literarischer Texte, die von der Grundschule bis zur Klasse 10 über ein 272 Liesel Hermes 1 Mein Dank gilt den Teilnehmerinnen der Lehrveranstaltung „Analysing and Teaching Simplified Literature“ an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe (WS 2007/ 08) für ihren Arbeitseinsatz und ihr Engagement: Lisa Anlauf, Julia Burkhardt, Carmen Giebel, Sonja Kohl, Simone Landeck, Larina Pinkhasova, Eveline Reiß, Silvia Schmidt, Claudia Schmitz, Katja Schwahn, Anabel Schurr, Pamela Soria, Isabel Zimmert. 2 EPER: URL www.ials.ed.ac.uk/ eper.html 37 (2008) Lehrwerk hinaus eingesetzt werden können. Die Literaturdidaktik, die innerhalb der Fachdidaktik eine eigene wichtige Facette darstellt, kommt daher ohne die Spezifika der fremdsprachlichen Literatur für die Klassen 1-10 nicht aus. Studierende sollten somit in den genannten Bereichen theoretische Kenntnisse wie unterrichtspraktische Fähigkeiten erwerben und die Möglichkeit erhalten, diese im Rahmen von Praktika in die Unterrichtspraxis umzusetzen. Im Folgenden möchte ich daher modellhaft eine literaturdidaktische Lehrveranstaltung darstellen, die sich dem speziellen Problem literarischer Originale und für den Fremdsprachenunterricht bearbeiteter Versionen widmete 1 . Die Anregung zu der Lehrveranstaltung kam von David Hill, dem Leiter des Edinburgh Project on Extensive Reading 2 , das am Institute for Applied Language Studies der University of Edinburgh angesiedelt ist. Er beklagt: „There is virtually no training of teachers in the rationale and implementation of extensive reading programmes“ (H ILL 2001: 312). 5. Lehrveranstaltung „Analysing and Teaching Simplified Literature“ 5.1 Theoretische Diskussion Der Fremdsprachenunterricht ist in der Regel über Jahre hinweg lehrwerkzentriert. Umso wichtiger ist es, dass sich Studierende im Rahmen ihres fachdidaktischen Studiums mit Funktionen des Lesens im Fremdsprachenunterricht befassen. Theorien des Leseverstehens, die eigentlich ein Thema für eine eigene Lehrveranstaltung ausmachen, stehen daher am Anfang der Lehrveranstaltung. Eine wichtige Erkenntnis ist dabei, dass Lesen immer eine Interaktion zwischen Text und Leser darstellt, bei der gleichzeitig Bottom-Up- und Top-Down-Prozesse ablaufen, damit das Lesen zum Verstehen führt (vgl. W ALLACE 1992: 42; N UTTALL 1996: 78; A EBERSOLD / F IELD , 1997: 18; D AY / B AMFORD 1998: 12 ff). Dieser Interaktionsprozess muss den Studierenden bewusst sein, damit sie erkennen, dass gerade beim lehrbuchunabhängigen Lesen allgemeines Weltwissen sowie Schemata und spezielles Vorwissen aktiviert werden, die das Leseverstehen unterstützen. Hierhin gehört des Weiteren die Einsicht, dass es für das Fremdsprachenlernen unerlässlich ist, dass extensives Lesen geübt und geschult wird und dass Lerngruppen so viel wie möglich das freie ungesteuerte Lesen üben sollten. Die Charakteristika des extensiven Lesens sind von D AY und B AMFORD in zehn Punkten beschrieben worden (vgl. 1998: 7- 8). Dabei geht es ihnen sowohl um Zielsetzungen und Materialien als auch um methodische Zugänge. Die Autoren heben vor allem die Erweiterung des rezeptiven Wortschatzes in Form eines umfangreichen Erkennungsvokabulars hervor als auch die Erweiterung von Textkenntnissen (ibid.: 16-19). Von der Lehrkraft fordern sie: „The Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung 273 37 (2008) teacher is a role model of a reader for students […]“ (ibid.: 8, kursiv im Original), womit die Studierenden ihre eigene künftige Rolle reflektieren. Zur Schulung des extensiven Lesens sind Lektüren ein unerlässliches Hilfsmittel, deren Kenntnis aber nicht vorausgesetzt werden kann. Das internationale Angebot an Lektüren und vor allem Lektüreserien (graded readers) ist beinahe unüberschaubar groß. Während sich Lektüren deutscher Verlage auf deutsche Schülerinnen und Schüler und deren Erfordernisse ausrichten, geht es den internationalen Verlagen um den Weltmarkt (vgl. H ERMES 2006a). Umso wichtiger ist es, einen Überblick über das vielfältige Angebot an fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten zu gewinnen, die von den verschiedenen Verlagen für sehr unterschiedliche Lernstufen angeboten werden (vgl. H ERMES 2007b). Der allgemeine Überblick bedeutet eine Erweiterung der Sachkenntnis. Diese resultiert in einer Diskussion und vorsichtigen Beurteilung der verschiedenen Serien für den Unterricht, die auf der Basis von Internetrecherchen vorgenommen wird (URLs in H ERMES 2007b: 125-126). Wichtig ist dabei für die Studierenden auch, dass die Verlage vielfältiges methodisches Material im Internet bereit halten, das den unterrichtlichen Einsatz von Lektüren zur Schulung des extensiven Lesens unterstützt. Schließlich gehört in die theoretische Fundierung die Diskussion von Bearbeitungsmöglichkeiten originaler fiktionaler Literatur. Da eine allgemeine Theorie der Bearbeitung und Vereinfachung literarischer Texte nicht existiert, werden hier Aufsätze zugrunde gelegt, die sich mit Detailaspekten befassen, die später für die konkrete Analyse von Texten genutzt werden (vgl. S IMENSEN 1987; Y ANO [et al.] 1984; H ILL 2001; H ERMES 2007b). Dabei ist zunächst die Begrifflichkeit zu klären, die in verschiedenen Publikationen keineswegs einheitlich ist: C Abridge bedeutet lediglich die Kürzung eines Textes, der ansonsten unverändert bleibt. C Adapt bedeutet jegliche Änderung eines Textes im Hinblick auf eine Lerngruppe; sie schließt zumeist eine Vereinfachung ein. C Simplify bedeutet die Änderung eines Textes, die eine Vereinfachung zum Ziel hat. C Retell bedeutet die völlige Umformulierung eines Textes, bei der von der Sprache des Originals am meisten verloren geht, da - vor allem bei Romanen - in der Regel lediglich Handlung (plot) und Figuren (characters) erhalten bleiben (vgl. S IMENSEN 1987: 43). Die Diskussion der Bearbeitungsmöglichkeiten dient der Entwicklung eines Kriterienkatalogs, der die Grundlage für die spätere Analyse konkreter Textbeispiele bildet. Mit Hilfe des Kriterienkataloges kann eine literarische und sprachliche Analyse vorgenommen werden, die für sich Transparenz in Anspruch nimmt und zu einer weitgehend objektiven Beurteilung von Textbearbeitungen führt. Die Diskussion um Bearbeitungsformen macht eine weitere Diskussion notwendig: Durch die fachdidaktische Literatur zieht sich der kontroverse Begriff „Authentizität“. Ehe daher literarische Texte und ihre Bearbeitungen diskutiert werden können, ist es notwendig, sich mit verschiedenen Definitionen von Authentizität und der Forderung nach authentischen Texten im Fremdsprachenunterricht zu befassen. 274 Liesel Hermes 37 (2008) 5.2 Authentizität Die Forderung nach authentischen Texten wird in Lehr- und Bildungsplänen wie auch in der fachdidaktischen Literatur immer wieder erhoben, allerdings häufig undifferenziert und ohne begriffliche Klarheit (vgl. D AY / B AMFORD 1998: 54). D AVIES stellt fest: „Authentic […] is a term that occurs in the literature of language teaching and applied linguistics but not in theoretical linguistics“ (1984: 184). A LDERSON / U RQUHART (1984: 198) zufolge verweist Authentizität in restriktiver Bedeutung ausschließlich auf Originaltexte in einer Sprache, die für eine Leserschaft mit derselben Muttersprache verfasst wurden; doch führt eine solch enge Begrifflichkeit nicht weiter, denn diese Originaltexte können genau so als fremdsprachliche Texte rezipiert werden. Es ist daher notwendig, verschiedene Definitionen zu diskutieren und auf ihre Stimmigkeit hin zu beurteilen. Das kann hier nur selektiv geschehen. W ILLIAMS definiert: „The term ‚authentic‘ is used […] to refer to any text that was not written specifically for language learning processes“ (1984: 25). Dem kann man folgen, aber er fährt fort: „In other words it is a text written to say something, to convey a message, and not simply to exemplify language“ (ibid.). Diese Behauptung ist von zweifelhaftem Wert, da sie unterstellt, dass sprachlich kontrollierte Texte, die für Sprachenlernende verfasst werden, eben nichts aussagen, was sich zweifellos nicht halten lässt. N UTTALL beschreibt authentische Texte als „texts written for use by the foreign language community, not for language learners“ und fährt fort: „[…] we need texts which exhibit characteristics of true discourse having something to say, being coherent and clearly organized. Composed (i.e. specially written) or simplified texts do not always have these qualities“ (1996: 177). Wiederum wird unterstellt, dass authentische Texte quasi automatisch kohärent und strukturiert sind. Und es wird übersehen, dass dies keine Qualitäten authentischer Texte, sondern schlicht guter Texte sind. Inkohärent und mangelhaft strukturiert können authentische Originale genau so wie Lernertexte sein. A EBERSOLD und F IELD definieren Authentizität in direktem Bezug zum fremdsprachlichen Unterricht: „Authentic materials are taken directly from L1 sources and are not changed in any way before they are used in the classroom“ (1997: 48) [Hervorhebung im Original]. Diese Definition ist ebenso einfach wie überzeugend, denn hier geht es ausschließlich darum, dass ein Text ohne jede Kürzung oder sprachliche bzw. inhaltliche Änderung im Unterricht eingesetzt wird. D AY und B AMFORD (1998: 53) bezweifeln die Validität der Forderung, „that authentic (real-life) materials should be used in language learning“ und kritisieren: „Part of the cult status of authenticity is the idea that it is the very difficulty of texts that makes them worthwhile as learning tools“ (ibid.: 54). Sie argumentieren, dass solche Texte das Sprachenlernen erschweren können. Die Studierenden wissen aus eigener Erfahrung, wie das häufige Nachschlagen unbekannter Vokabeln den Lesefluss verlangsamt und damit das Leseverstehen behindert oder zunichte macht, und folgern daher, dass im Fremdsprachenunterricht Texte so ausgewählt werden müssen, dass sie sprachlich, inhaltlich und kulturell zu bewältigen sind. Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung 275 37 (2008) Texte werden in der Regel für Muttersprachler verfasst und gewinnen dadurch ihre Authentizität. Das gilt allerdings auch für Kinderbücher und nursery rhymes. Kinderbücher werden sicher nicht als nicht-authentisch angesehen, obwohl die Texte in stark kontrollierter, einfacher Sprache verfasst sind. Das Vokabular ist eingeschränkt, die Grammatik auch, ein Beispiel: „A cow says ‚moo‘, a sheep says ‚baa‘, three singing pigs say ‚lalala‘“. Es handelt sich zweifellos um ein simple original. D AVIES differenziert entsprechend zwischen „simple language, simplified language, simplification“ (1984: 182). Simple language ist für D AVIES z. B. Pidgin als lexikalisch und grammatikalisch stark vereinfachte Sprache, die von Sprechern verschiedener anderer Sprachen als Verständigungsmedium gebraucht wird. Simplified language reduziert sprachliche Funktionen auf die Adressaten hin, z. B. kleine Kinder oder Fremdsprachenlerner. Simplification schließlich verweist auf den Akt einer Textänderung zum Zweck der Vereinfachung und hat damit eine didaktische Funktion. Was also einfach oder schwierig ist, hängt vom intendierten Adressatenkreis ab. Auf diesen hin wird sprachlich reduziert und vereinfacht. Das Ziel von simplified literature ist es, den Weg zu Originaltexten zu ebnen. Für die Lernenden ist es unerheblich, dass sie keinen authentischen Text im Sinne eines sprachlichen Originals vor sich haben. Für sie ist der Text authentisches Material. Mit anderen Worten: Schüler oder Schülerinnen fragen nicht nach Authentizität, sondern nach Texten, die sie verstehen. Dazu nochmals D AVIES : „It is not that a text is understood because it is authentic but that it is authentic because it is understood“ (1984: 192). Für die Lehrkraft ist daher ausschlaggebend, dass Texte gelesen und verstanden werden. Dann erfüllen sie ihre didaktische Funktion. Allerdings ist D AVIES ’ Umkehrschluss, dass authentische Texte als nicht vereinfachte Texte keine didaktische Funktion hätten (1984: 185) nicht nachzuvollziehen, denn jeder authentische Text kann auch für pädagogische Zwecke genutzt werden. Eine Diskussion des kontroversen Begriffs der Authentizität fremdsprachlicher Texte soll eine reflektierte Auseinandersetzung mit verschiedenen fachdidaktischen Positionen ermöglichen. Definitionen können schief sein, Konzepte unklar, Begründungen nicht nachvollziehbar, Folgerungen widersprüchlich. Erst wenn sich Studierende mit heterogenen Positionen auseinandersetzen, können sie im Diskurs zu ihrer eigenen Meinung gelangen und diese dann auch begründen. Aus einem solchen fachdidaktischen Diskurs kann Handlungskompetenz gewonnen werden. 5.3 Original und Bearbeitung: Analysemodell Für die Analyse von Originaltexten und Bearbeitungen bieten sich grundsätzlich Romane und Short Stories an. Die meisten Graded Readers Serien bestehen zum überwiegenden Teil aus vereinfachten Romanen (vgl. H ERMES 2007b), die vom Edinburgh Project on Extensive Reading erfasst, vorgestellt und zum Teil bewertet werden (vgl. D AY / B AM - FORD 1998: 172-218). Da es sich bei bearbeiteten Romanen aufgrund der Länge des jeweiligen Originaltextes ausschließlich um nacherzählte Versionen mit häufig drastischen Kürzungen handelt, die das sprachliche Original nur in Ansätzen widerspiegeln (vgl. H ERMES 2007b: 117-118), bieten sich innerhalb einer Lehrveranstaltung aufgrund 276 Liesel Hermes 3 Vgl. die einschlägigen Lehrwerke English G 2000, B-Ausgabe für Realschulen und A-Ausgabe für Gymnasien von Cornelsen und Green Line sowie Red Line von Klett. 37 (2008) der begrenzten Zeit short stories an. Bei diesen sind die Kürzungen in der Regel moderat, so dass sich die Studierenden auf die sprachlichen Vereinfachungen und sonstige Änderungen sowie deren Wirkung konzentrieren können. Folgt man der Definition: „I[ntertextualität] bezeichnet die Eigenschaft von insbes[ondere] literar[ischen] Texten, auf andere Texte bezogen zu sein“ (N ÜNNING 2004: 110), stellen Textbearbeitungen eine spezielle Art von Intertextualität dar. Bearbeitete Texte haben einen ganz spezifischen Bezug zum Original. Sie sind für Fremdsprachenlerner adaptiert, um leichter zugänglich und verständlich zu sein, lassen aber in den meisten Fällen das Original erkennen. Je nachdem für welche Lernstufe eine Adaptation vorgenommen wird, fallen Kürzungen und Änderungen moderat oder drastisch aus. Fast nie wird ein Text lediglich gekürzt, so dass der übrig bleibende Text einen Originaltext darstellt, sondern zusätzlich zu Kürzungen werden weitere Eingriffe vorgenommen, die den Text verändern. Vereinfachungen sind praktisch nie ausschließlich objektiver Natur, sondern beruhen zumeist auf dem subjektiven Sprachempfinden des Bearbeiters. Objektiv lässt sich das Arsenal an grammatischen Strukturen kategorisieren und analysieren, das bei einer Bearbeitung verwendet wird. Bei der Lexis gibt es dagegen keine objektiven Kriterien. Die Angaben, dass in Graded Readers Serien z. B. 400 oder 1000 oder 2500 Wörter zugrunde gelegt werden, sind in jedem Fall vage und kaum nachprüfbar. Das ist einerseits verständlich, da manche Texte wichtiges thematisches Vokabular enthalten, das möglicherweise nicht hochfrequent ist, aber innerhalb des Themas notwendig ist und sich durch Wiederholungen erschließt. Andererseits kann die detaillierte Analyse eines Originaltextes und der entsprechenden Bearbeitung ergeben, dass ein bestimmtes Wort im Originaltext in der Bearbeitung einmal gestrichen wird, ein anderes Mal ersetzt wird und ein drittes Mal erhalten bleibt, dass es also kaum eine völlig konsequente Bearbeitung gibt. In jedem Fall wird in der Bearbeitung versucht, das Original zu spiegeln, ihm möglichst nahe zu kommen oder es zumindest erahnen zu lassen. Dennoch kann die Wirkung eines Originals auf den Leser eine deutlich andere sein als die Bearbeitung. Umso wichtiger ist es, dass man sich mit beiden Texten befasst, um die Qualität einer Bearbeitung zu beurteilen. Da mittlerweile auch in Englischlehrwerken für die Realschule und das Gymnasium in den Klassen 9 und 10 vereinfachte short stories aufgenommen worden sind 3 , um bereits innerhalb der Lehrwerkarbeit eine bescheidene Möglichkeit des extensiven Lesens zu bieten, wurde ein solches Beispiel an den Anfang der Analyse verschiedener Short Stories und ihrer Bearbeitungen gestellt und soll hier exemplarisch kurz erörtert werden. Es handelt sich um die short story „Confession“ (M IKLOWITZ 1997: 99-111), die in vereinfachter Form im Band 5 der B-Ausgabe von English G 2000 erschienen ist (S CHWARZ 2000: 69-73). Sie entstammt einer Anthologie, die sich expressis verbis an eine jugendliche Leserschaft wendet. Eine Gruppe männlicher Jugendlicher an einer amerikanischen high school will die Gewalt anderer Jugendgruppen eindämmen, bis sie selbst in den Strudel von Gewalt hineingezogen wird. Das „Geständnis“ der zentralen Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung 277 37 (2008) Jungenfigur, als police report wiedergegeben (M IKLOWITZ 1997: 99) und in der 1. Person erzählt, zeichnet die Entwicklung von der guten Absicht der Gewalteindämmung bis hin zur Katastrophe nach. Ein Kriterienkatalog, der im Seminar gemeinsam auf der Basis der Diskussionen erarbeitet worden war (vgl. S IMENSEN 1987), konnte auf die Erzählung „Confession“ angewendet werden. Er lag der Analyse zugrunde und umfasste die folgenden Details: Model for analysing an adapted text in comparison with the original Original: text analysis C Time and place: setting (cultural contents) C Plot structure C Point(s) of view / narrative perspective(s) C Characters C Main topic(s) C Language / style Adapted version: analysis on the basis of the following criteria Control of information: C Length in comparison with original C Deletions C Substitutions C Cultural aspects C Consistency or inconsistency of alterations Control of structure: C Differences in structure C Plot C Characters C Elaborations Control of language: C Deletions C Substitutions C Summary of paragraph (= shortening) C Change of wording of sentence C Lexis C Idioms C Grammar C Syntax C Overall style C Neutralisation of cultural information C Neutralisation of register in direct speech Comparison and Evaluation: C How much and what of the original text has been maintained? C Is the adapted text abridged, simplified or retold? C Effect of the adapted version on the reader C Overall quality of the adaptation Da die Bearbeitung von „Confession“ kaum gekürzt ist, konzentrierte sich die Analyse auf sprachliche Änderungen. Dabei stellte sich als Hauptproblem heraus, dass die Sprache 278 Liesel Hermes 37 (2008) des jugendlichen Erzählers stark umgangssprachlich geprägt ist. Die Analyse galt also vor allem der Frage, wie in der Bearbeitung mit Idioms, Slang-Begriffen sowie umgangssprachlicher Grammatik des mündlichen amerikanischen Englisch umgegangen worden war. Dazu nur einige wenige Beispiele: „You gotta ask“ im Original (M IKLOWITZ 1997: 99) wird in der Bearbeitung zu: „D’you really hafta ask? “ (S CHWARZ 2000: 69) Es wird also versucht, einen umgangssprachlichen Ton zu erhalten. „What about the drugs in school and nobody cares shit about it? “ (M IKLOWITZ 1997: 99) wird in zwei Sätzen formuliert: „What about the drugs in school? Doesn’t anybody care about that? “ (S CHWARZ 2000: 69) Das Tabuwort „shit“ wird eliminiert. Ebenso wird das umgangssprachliche „john“ zum neutralen „toilet“. „Smelly sneakers“ werden neutralisiert zu „gym shoes“. Hier noch ein kurzer Dialogauszug, zunächst das Original: „What’d we do? Carry chains and knives and guns? We gonna be the law? “ „You chicken? “ „Hell, no! “ (M IKLOWITZ 1997: 100) Die Bearbeitung: „What’re we gonna do? Carry chains and knives and guns? Play police? “ „You scared? “ „No! “ (S CHWARZ 2000: 69) Wiederum ist die Bearbeitung harmloser. Sie versucht die Umgangssprache zu erhalten, aber in neutraler Weise. Die Bearbeitung enthält einige wenige Elaborationen. So fragt in einem Dialog die jüngere Schwester den Erzähler: „‚You selling dope? I’m gonna tell! ’ she cried“ (M IKLO - WITZ 1997: 101). Daraus wird: „‚Are you selling drugs? I’m gonna tell Mom! ‘ she cried“ (S CHWARZ 2000: 69). Der Zusatz „Mom“ ist wohl der Tatsache geschuldet, dass „tell“ zumeist transitiv gebraucht wird. Die Analyse erbringt, dass die Bearbeitung sich insgesamt eng an die Vorlage hält. Allerdings werden Slang, Tabuwörter und stark kolloquiale grammatikalische Wendungen zumeist neutralisiert. Dennoch bleibt die Jugendsprache weitgehend erhalten. Die Charaktere und die Handlung entsprechen dem Original. Auch die Handlungsspannung ist in Original und Bearbeitung identisch. Die Bearbeitung ist deswegen gelungen, weil sie in enger Anlehnung an das Original eine spannende Jugendgeschichte für eine 9. Realschulklasse verstehbar macht, was mit dem Original aufgrund der Sprache wohl nicht so leicht zu leisten wäre. Als zweites Beispiel, das zum Ende des Semesters analysiert wurde, sei W ILDE s The Canterville Ghost (Erstveröffentlichung 1887) herangezogen, weil dieser Text in sechs verschiedenen Bearbeitungen existiert und sich im Vergleich der Bearbeitungen deren Qualität bzw. mangelnde Qualität aufzeigen lässt. Inhaltlich handelt es sich um eine „Anti-Ghost Story“, in der eine amerikanische Familie mit vier Kindern in einem englischen Schloss ein Gespenst jagt und dieses immer mehr in Angst und Schrecken versetzt. Somit sind die gewohnten Rollen bei Gespenstergeschichten vertauscht. Gleichzeitig handelt es sich um eine interkulturelle Geschichte, in der sich W ILDE satirisch mit der amerikanischen Kultur, die er 1882 auf einer USA-Reise kennen gelernt hatte, und der Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung 279 37 (2008) englischen Kultur auseinandersetzt. Märchenhafte Züge zeigen sich darin, dass die Tochter Virginia dem Gespenst schließlich die Totenruhe ermöglicht. Diese Erzählung umfasst im Original in der vorgelegten Ausgabe (W ILDE 1979) 29 Seiten; dem gegenüber sind alle Bearbeitungen deutlich gekürzt. Die Analyse wurde arbeitsteilig von den Studierenden vorgenommen, die ihre Ergebnisse vorstellten und diskutierten. Sie können hier nur skizziert werden. Auffällig ist, dass in einigen Bearbeitungen die Struktur verändert wird, da die sieben Teile des Originals unterschiedlich zusammengefasst und mit Überschriften versehen werden. Dadurch entstehen neue Kapitel, die andere strukturelle Einheiten schaffen (z. B. Black Cat, Macmillan). In den Bearbeitungen sind vor allem die langen beschreibenden historischen Passagen eliminiert oder drastisch gekürzt, in denen sich W ILDE satirisch detailliert mit der Wirkung des Gespenstes auf Schlossbewohner im Laufe von 350 Jahren befasst (W ILDE 1979: 65, 75) und in denen er ironisch das Rollenverständnis des Gespenstes, vor allem seine Professionalität schildert (ibid.: 68-69, 73-74). Auch die Suche nach Virginia (ibid.: 80-82), die zeitweilig verschwunden ist, fällt den Kürzungen in fast allen Ausgaben zum Opfer. Interessanterweise ist dagegen ein langer Dialog zwischen Virginia und dem Gespenst, in dem es seine Lage schildert und um Erlösung durch das Mädchen bittet (ibid.: 76-79), in den Bearbeitungen in größerem Umfang erhalten geblieben (Macmillan: 20-24; Bookworms: 27-34). Das lässt sich darauf zurückführen, dass die dialogische Sprache deutlich einfacher ist als die beschreibende Sprache der langen satirischen Passagen. Diese enthalten gleichwohl die Essenz der Ironie Wildes, die in den Bearbeitungen durch die Kürzungen natürlich verloren geht. Auch die ethnozentrische Einstellung der amerikanischen Familie bleibt nicht erhalten, wie überhaupt die interkulturellen Vergleiche weitgehend verschwinden. Als wichtigstes Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich längere Texte, die deutlich gekürzt werden, erheblich weiter vom Original entfernen als bearbeitete short stories, und dass das Figurenarsenal sowie die Handlungsstruktur zwar erhalten geblieben sind, aber um den Preis des Verlustes des typischen Stils. Der Grund für die hohe Zahl der Bearbeitungen liegt sicherlich nicht an W ILDE s satirischer Darstellung englischer und amerikanischer kultureller Phänomene und seinem ironischem Stil, sondern an einer Handlung, die - oberflächlich betrachtet - eine spannende und humorvolle „Anti-Ghost Story“ darstellt. 5.4 Original und Bearbeitung: Erfahrungslernen Um den Studierenden im Seminar, die durch die Analyse von Originalen und bearbeiteten Texten Kriterien für die Qualität von Bearbeitungen gewonnen haben, eigene Erfahrungen in der Textbearbeitung zu vermitteln, wurde die short story „I’ve Got Gloria“ (K ERR 1997: 67-76) aus derselben Anthologie wie „Confession“ vorgelegt. Sie handelt von einem amerikanischen Schüler, der eine Mathematikprüfung nicht bestanden hat und sich an seiner Lehrerin rächen will, während sie ihm schließlich weiterhilft. Die Bearbeitung im Seminar wurde arbeitsteilig in Partnerarbeit vorgenommen. Von der Analyse sollte also der Weg zur eigenen Textproduktion führen, d.h. zur eigenen Bearbeitung eines 280 Liesel Hermes 4 Aus Platzgründen muss hier auf die Darstellung der Diskussion methodischer Aspekte des unterrichtlichen Einsatzes verzichtet werden. 37 (2008) literarischen Textes. Dieser war so ausgewählt, dass das Hauptproblem in der Jugendsprache des Ich-Erzählers und seinem mündlichen umgangssprachlichen Register in Dialogen mit seinem Vater lag. Jeder Teil der Erzählung wurde jeweils von zwei Paaren bearbeitet, so dass in der anschließenden Analyse und Beurteilung verschiedene Lösungen diskutiert wurden. Diese werden hier auf der Basis freiwilliger schriftlicher Rückmeldungen der Studentinnen zusammengefasst. Für sie war essentiell, dass sie die Bearbeitung in Partnerarbeit vornehmen konnten, da sie den Diskurs als wesentlich empfanden. Eine Textbearbeitung ist wie eine Interpretation des Textes, in der man sich intensiv mit der Vorlage auseinander setzt. Die Interpretation leitet die Bearbeitung genau so wie die Frage, für welche Klassenstufe der Text vereinfacht werden soll. Hier hatte sich das Plenum aufgrund des Inhaltes des Originals bereits auf die 8. Klasse geeinigt. Wichtig war ihnen vor der eigentlichen Bearbeitung eine Entscheidung darüber, ob der Text für eine Klasse mit entsprechender „literarischer“ Vorerfahrung oder ohne dieselbe bearbeitet wird, da großer Wert darauf gelegt wurde, dass sich an solchen Texten das kontextuelle Erschließen von Wörtern üben lassen sollte. Manche kolloquialen Begriffe oder Wendungen lassen sich aus dem Kontext oder aus mehrfachen Wiederholungen herleiten und sollten daher nicht gestrichen oder erläutert werden. Da der Text inhaltlich voll erhalten bleiben konnte, ging es in der Hauptsache um Entscheidungen, was an Wörtern und Idioms gestrichen, ersetzt oder beibehalten werden sollte. Hier wurde interpretiert und abgewogen und es wurde festgestellt, ein wie schwieriges und zeitaufwändiges Unterfangen eine Bearbeitung darstellt, und dass sie immer auch subjektive Elemente enthält. Umso interessanter war, dass Detailvorschläge verschiedener Paare häufig nahe beieinander lagen. Im Hinblick auf fremdkulturelle Details wurde diskutiert, wie mit dem Namen einer Autowerkstatt und dem „Yellowstone“ umgegangen werden sollte. Der Name der Werkstatt war entbehrlich, während der Yellowstone erhalten bleiben musste. Man diskutierte, ob man den Namen als Vokabel erläutern oder durch den Zusatz „National Park“ erklären sollte. Beides ist möglich. Der Kurs in „remedial math“, den die Lehrerin dem Erzähler am Schluss anbietet, muss erläutert werden. Für die Studentinnen war die praktische Bearbeitung eine wesentliche Erfahrung, die ihnen den Anspruch einer solchen Arbeit und die Bedeutung mancher Entscheidungen vor Augen führte. 6. Ausblick 4 Literaturwissenschaftliche und fachdidaktische Lehrveranstaltungen sind konstitutiver Bestandteil eines jeden Lehramtsstudiums. Das hier vorgestellte Konzept versucht beides miteinander zu verbinden: Literaturwissenschaft und Fachdidaktik, hier insbesondere Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung 281 37 (2008) Literaturdidaktik. Lehramtsstudierende brauchen besonders im Hinblick auf ihre Tätigkeit in der Sekundarstufe I fundierte Kenntnisse auf dem Gebiet literarischer Texte und Lektüren wie auch von Graded Readers Serien, die für die Klassen 5-10 geeignet sind. Sie brauchen darüber hinaus objektive Kriterien für die Beurteilung der Qualität bearbeiteter und vereinfachter Originalliteratur, also von Texten, die vor allem für die Sekundarstufe I in Frage kommen und die Schülerinnen und Schüler bis zur Klasse 10 an die Literatur heranführen, ihnen Freude am literarischen Lesen vermitteln und sie im extensiven Lesen schulen. Analyse und ständige Reflexion können Studierende zu einer entsprechenden Fach- und Handlungskompetenz führen. Das hier in aller Kürze vorgestellte Konzept möchte dazu einen Beitrag leisten. Literatur A EBERSOLD , Jo Ann / F IELD , Mary Lee (1997): From Reader to Reading Teacher. Issues and strategies for second language classrooms. Cambridge: CUP. A LDERSON , J. Charles / U RQUHART , A. H. (Hrsg.) (1984): Reading in a Foreign Language. London & New York: Longman. B AMFORD , Julian / D AY , Richard R. (Hrsg.) (2004): Extensive Reading Activities for Language Teaching. Cambridge: Cambridge UP. B REDELLA , Lothar / H ALLET , Wolfgang (2007): Literaturunterricht, Kompetenzen und Bildung. Trier: VWT (Handbücher zur Literatur- und Kulturdidaktik; 2). B URWITZ -M ELZER , Eva (2007): „Literarische Texte für junge Fremdsprachenlernende“. In: H ALLET , Wolfgang / N ÜNNING , Ansgar (Hrsg.): Neue Ansätze und Konzepte der Literatur- und Kulturdidaktik. 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