eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 37/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2008
371 Gnutzmann Küster Schramm

Literatur und Sprachenwachstum

2008
Herbert Christ
* Korrespondenzadresse: Prof. (em.) Dr. Herbert C HRIST , Karl-Glöckner-Straße 21 G, 35394 G IE ß EN . E-Mail: Herbert.Ingeborg.Christ@t-online.de Arbeitsbereiche: Didaktik des Fremdverstehens; Didaktik des interkulturellen Lernens; Sprachenpolitik und Schulsprachenpolitik; Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und der Fremdsprachendidaktik. 37 (2008) H ERBERT C HRIST * Literatur und Sprachenwachstum Zur Bedeutung literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht in der Grundschule Abstract. Since the nationwide introduction of foreign language learning in primary schools, literary texts as a means of fostering early literacy gain more and more recognition. Authentic literary texts involve young learners with genuine use of the foreign language, provide a wide range of input and create a whole imaginary world for the children to enter. This holds true for various different genres such as songs, poems, stories, cartoons, picture books, plays and films etc. In this contribution I will argue that a holistic approach to the teaching of literature which invites young learners not only to read and listen to literary texts but also to actively deal with them is suitable to support language growth. 1. Zur Einführung Für jede Art von Fremdsprachenunterricht in der Grundschule - sowohl den ein- oder zweistündigen Unterricht in dritten und vierten Klassen wie den Unterricht von Klasse 1 bis 4 mit zwei und mehr Wochenstunden als auch für die Klassen, die „in zwei Sprachen lernen“ (D OYÉ / H ÉLOURY 2007) - gilt, was Eva B URWITZ -M ELZER feststellt: „Gerade der frühe Fremdsprachenunterricht kommt ohne authentische literarische Texte nicht aus“ (B URWITZ -M ELZER 2004: 15). Tatsächlich lernen alle Kinder im ‚frühen‘ Fremdsprachenunterricht einige ‚literarische Texte‘ kennen. Um welche Sorten von literarischen Texten es sich handelt, darüber wird zu sprechen sein, und ebenso über das, was sie damit machen können. Was unter ‚authentisch‘ zu verstehen ist, wird erörtert werden. Kinder lernen schon im Fremdsprachenunterricht in der Grundschule literarische Texte kennen, weil diese didaktische Potenziale enthalten, die zu nutzen sinnvoll ist. Ich nenne einige davon: Literarische Texte sind komplex und zugleich übersichtlich und geschlossen; gleichwohl geben sie einander Kontext und lassen sich miteinander verbinden; sie sind interessant, sie regen die Phantasie an und sie regen zum Handeln an, auch und insbesondere zum Sprachhandeln, zum Beispiel zum Verstehen, zum Einprägen und zur Wiedergabe, weil sie interessanten und reichen Input liefern; schließlich sind sie ästhetisch. Sie haben aber, soweit sie authentisch und nicht adaptiert sind, einen Nachteil, den man jedoch auch als Vorteil verstehen kann: Sie passen kaum in eine grammatischlexikalische Progression und sie machen widerständig gegen einen einseitig auf Lernresultate, auf Output, orientierten Unterricht. Literatur und Sprachenwachstum. Zur Bedeutung literarischer Texte ... in der Grundschule 213 1 Zum Thema Sprachenwachstum B UTTARONI (1997). 2 Einen Überblick über Kinder- und Jugendliteratur für den Fremdsprachenunterricht in vielen Sprachen findet man bei O’S ULLIVAN / R ÖSLER (2002). 3 Zur Entwicklung der Lesegewohnheiten bei Kindern und Jugendlichen s. H ARMGARTH (1997). 37 (2008) Ich gehe zunächst auf die fremdsprachendidaktische Diskussion ein, um zu schauen, wie die Potenziale literarischer Texte für den Fremdsprachenunterricht in der Grundschule grundsätzlich beurteilt werden. Alsdann werde ich Unterrichtsbeobachtungen referieren und interpretieren, um in einem letzten Abschnitt die These vom Sprachenwachstum 1 durch Literatur zu begründen: durch Literatur lernen Kinder Sprache. 2. Argumente für den frühen Einsatz von literarischen Texten 2.1 Texte in Aktion Literarische Texte, - mündliche und schriftliche, ob Lieder, Abzählreime, Gedichte, Geschichten, comics / fumetti / bandes dessinées, Bilderbücher, Kinderromane, Filme, Theaterstücke, Simulationen - stellen jeweils ein eigenes, fiktionales Stück Welt dar, dem Kinder im frühen Literaturunterricht ganzheitlich begegnen und mit dem sie auf eigene Weise umgehen können und dürfen (H ELLWIG 1995). Auch die bewusst unvollständige Aufzählung von Textsorten macht deutlich, dass ich, in Übereinstimmung mit der einschlägigen Literatur, von einem breiten Verständnis von literarischen Texten für die Grundschule ausgehe. Dazu gehören auch solche Texte, die eigens für den Fremdsprachenunterricht geschrieben worden sind. 2 Die Texte bieten und erlauben vielfache, vielseitige, sinnliche und sinnhafte Zugänge. Sie können betrachtet, gehört, vorgelesen, als Video angeschaut, nachgesprochen, mimisch und gestisch nachgestaltet, nachgespielt, auf die Bühne gebracht, getanzt, gemalt, memoriert, eventuell auswendig gelernt und auf kindliche Weise notiert und annotiert werden. In jeder Unterrichtssituation gehen die Kinder mit ihnen - je nach Temperament sowie Entwicklungs- und Bewusstseinsstand - auf eigene Weise um. Literarische Texte in der Grundschule sind Texte ‚in Aktion‘. Die Texte werden von der Lehrerin vorgelesen, vorgesungen, vorgezeigt, von den Kindern betrachtet, mitgelesen oder - wenn ihr Kenntnisstand schon fortgeschritten ist - gelesen und in einem ersten Schritt ganzheitlich aufgenommen, danach aber in kleinen Teilen wieder aufgenommen, besprochen, erläutert und von den Kindern durchaus individuell verarbeitet, während des Unterrichts und danach. „Spracherwerb kann nur durch Input erfolgen, aber dieser Input muss häufig verarbeitet werden, damit es zum Erwerb kommt“ (L UTJEHARMS 2007: 115). Literarische Texte liefern reichen Input. Die nachfolgende Verarbeitung ist vielfältig und durchaus persönlich. Denn die Phantasie der Kinder, ihr Vorwissen, ihr Hör- und Sehvermögen, ihre Aufnahmekapazität, ihr Interesse am Gegenstand, ihre Lesekompetenz und ihre Leselust 3 , ihre Fähigkeit, Klänge und Bilder aufzunehmen, und ihre motorischen Reaktionen sind ganz verschieden. 214 Herbert Christ 4 Es sei auf die differenzierten Beschreibungen sprachlicher Kompetenzen im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen hingewiesen und zugleich daran erinnert, dass diese für Erwachsene ausgelegt sind; eine Beschreibung von Kompetenzen für Kinder steht aus. 5 W EINRICH hat dieses Faktum bildhaft beschrieben: „Die glatten Progressionen werden rauher“ (1985: 252). 37 (2008) Sieht man bereits fremdsprachliches Lernen in der Grundschule als von hermeneutischen Grundsätzen geprägt an, so gehören Blockaden zum Verstehensprozeß. Das Kind soll zwar den Handlungsablauf verfolgen können, aber auch erfahren, daß nicht jedes Wort einer fremden Sprache gleich verstanden werden kann. (K UBANEK -G ERMAN 1992: 12) Wenn das Kind lernt, dass partielles Verstehen und Nicht-Verstehen keine Katastrophe sind, und wenn es erfährt, dass momentanes Nicht-Verstehen auch von seinen Lehrern toleriert wird, dann hat es für seinen aktuellen und seinen künftigen Fremdsprachenerwerb etwas Wesentliches erfahren. Wie Kinder sich handelnd in den Verstehensprozess einbringen, wenn sie literarische Texte hören oder lesen, das ist ganz unterschiedlich. Jedes Kind handelt persönlich und für sich und positioniert sich eigenständig innerhalb der Lerngruppe. Karlheinz H ELLWIG spricht von „spielhandelndem Umgang mit der Fremdsprache“. Dabei geht es u. a. um das Ausprobieren von „Sprechgestaltung, Spielgestaltung, Textumgestaltung“ (H ELLWIG 1995: 36), aber auch um Zurückhaltung: Manche Kinder schweigen zunächst einmal und konzentrieren sich ganz auf die Aufnahme dessen, was ihnen geboten wird. Sie äußern sich nicht-sprachlich: Durch Ausdruck des Entsetzens, der Überraschung, der Freude durch Mimik, Gestik und körperliche Bewegung, u. a. auch durch den Umgang mit dem Zeichenstift und mit dem Malkasten. Alle Formen des Umgangs mit Texten sind für die Kinder subjektiv bedeutsam. Ich erinnere mich an eine Theateraufführung in einer dritten Klasse. Vor Beginn der Aufführung sagte einer der Schüler zu mir: „Je suis le seul garçon qui a trois rôles: la lune (Der Mond musste am Himmel langsam vorbeigezogen werden), le cuisinier (der Koch hantierte ebenfalls sprachlos mit Kesseln) et le valet“. Als Diener hatte er einen Satz zu sprechen. Er war stolz, drei Aufgaben zu haben, drei ‚Rollen‘ zu besetzen, wenn es auch nicht die bedeutendsten waren. Mit allen dreien trug er zum Erfolg der Aufführung ‚spielhandelnd‘ bei, das heißt verstehend, die Handlung mit vollziehend und seinerseits zu ihrem Fortgang beitragend. Die Handlungen geschehen in Interaktion - im sprachlichen und nicht sprachlichen Austausch - und sind Anlass für Verständigung oder Auseinandersetzung. Die Schüler werden durch die Aktionen und Reaktionen ihrer Mitschüler angeregt, ihr eigenes Verständnis und ihre eigenen Lernwege zu vergleichen, eventuell zu ergänzen oder zu korrigieren. Sie lernen also kooperativ. 2.2 Lernfortschritt und Kompetenzentwicklung Der persönliche Umgang mit Texten hat zur Folge, dass der Lernfortschritt in der Entwicklung sprachlicher Kompetenzen 4 von Person zu Person unterschiedlich ist. Er erfolgt nicht im Gleichschritt. 5 Dieser ungleiche Lernfortschritt muss im Literaturunterricht Literatur und Sprachenwachstum. Zur Bedeutung literarischer Texte ... in der Grundschule 215 37 (2008) toleriert werden, auch im Zeitalter der Standardisierung von Lernergebnissen. Natürlich werden Lehrerinnen und Lehrer versuchen, Lernergebnisse - die alle erreichen sollen - festzuhalten. Es bleibt jedoch dabei: Die Schüler lernen im Umgang mit literarischen Texten durchaus individuell, auch in individuellem Tempo. Literarische Texte führen aus dem Gewohnten, dem Alltäglichen heraus. Sie führen in eine fiktive Welt, mit der Kinder von 6 oder 8 Jahren bereits Erfahrungen gemacht haben, aber eine fiktive fremde Welt in einer fremden Sprache. Diese Welt ist komplex. „Literarische Texte, mündlich oder schriftlich, bieten die beste Gelegenheit, sprachlicher und sachlicher Komplexität zu begegnen und diese Begegnung methodisch zu kontrollieren“ (W EINRICH 1985: 252). In der methodischen Anleitung zur Begegnung liegt der Schlüssel zum Erfolg. Kinder hören - um ein Beispiel zu geben - dem Vortrag eines Liedes zu, sie nehmen Rhythmus und Melodie wahr, verfolgen Bewegung, Mimik und Gestik der Lehrerin oder einer Videoaufnahme, dann identifizieren sie einzelne Redeteile, versuchen einzelne Phrasen mitzusingen, fragen nach dem Wortlaut und dem Sinn von Redeteilen, bis sie schließlich den Gesamtzusammenhang verstehen und das Lied im Chor mitsingen können. Das komplexe Gebilde Lied wird also methodisch aufgeschlossen, indem es schrittweise expliziert - „entfaltet“ - und nachvollzogen wird. Die Rezeption erfolgt langsam und allmählich, begleitet von vielen Aktivitäten. Man verzichtet aber zunächst auf zusammenhängende sprachliche Äußerungen. Der langsame und sehr langsame Rezeptionsvorgang beim Umgang mit Texten am Anfang des Fremdsprachenunterrichts ist aber nur dann psychisch erträglich, wenn diese Texte einen intensiven, zwischen den Wörtern und Sachen interessant in der Schwebe gehaltenen Umgang mit ihnen ertragen oder ihn sogar verlangen. Diese Bedingung wird nur von kunstvoll geformten und in diesem Sinn poetischen Texten erfüllt. (W EINRICH 1985: 252) Mit der Langsamkeit der Rezeption von literarischen Texten geht eine Verzögerung der produktiven Sprachtätigkeiten einher. Anders als in einem Fremdsprachenunterricht, der nach einem behavioristischen Reiz-Reaktionsschema abläuft und sogleich nach erfolgtem Input einen adäquaten Output erwartet, folgt der Sprachaufnahme die sprachliche Produktion nicht auf dem Fuße. Die Schüler sind jedoch nicht zur Untätigkeit verdammt. Sie tragen allmählich zusammen, was sie zum Verständnis der fiktiven Situation brauchen: Wörter, Sachen und Handlungselemente. Sie versuchen nachzusingen oder nachzusprechen, Rede im Bild festzuhalten, sie durch ihre Gesten und ihre Bewegungen zu unterstreichen, sie zu notieren. Das tun sie aber nur widerspruchslos und geduldig, wenn die Texte interessant sind und einen „in der Schwebe gehaltenen Umgang mit ihnen ertragen“, wie W EINRICH (1985: 252) sagt. Literarische Texte werden ganzheitlich aufgenommen, sie werden aber nur partiell behalten, gespeichert und eventuell mit einzelnen Redeteilen in anderen Situationen wieder verwandt. Diese Redeteile gehen in den Sprachschatz der lernenden Person über. „Wir bemerken im Englischunterricht immer wieder, dass Kinder chunks of language aus Geschichten speichern und zu einem späteren Zeitpunkt versuchen, diese anzuwenden“ (D IEKMANN 2004: 7). 216 Herbert Christ 37 (2008) Texte bzw. Textteile, die interessieren, wie auch interessante Wörter werden verstanden, behalten und eventuell weiter verwendet. Kunstvoll geformte Sprache, Sprache, die vom Alltäglichen abweicht, erscheint in der Regel interessant. Texte, die gefallen, werden auch gern auswendig gelernt. So trägt der literarische Unterricht gerade mit ästhetisch anmutenden, mit poetischen Texten nachhaltig zum Sprachenwachstum bei. 2.3 Ästhetische Erziehung Literarische Texte dienen der ästhetischen Erziehung. Sie machen u. a. mit literarischen Formen vertraut. Karlheinz H ELLWIG erwartet, dass im Unterricht in der Grundschule „Verinnerlichung von elementaren fremdsprachlichen Literaturstrukturen, von literarischen ‚Schemata‘“ erfolgt (H ELLWIG 1995: 36). ‚Verinnerlichung‘ ist keine analytische Kategorie. Die Kinder werden literarische Strukturen und Schemata wahrnehmen und verstehend aufnehmen, sie werden sie aber nicht sammeln und kategorisieren. Sie festigen jedoch auf diese Weise ihre Vorerfahrungen mit Gattungen wie Märchen, Erzählung, Lied und Gedicht. Sie lernen gute Beispiele kennen und nehmen sie - wenigstens vorübergehend - in ihre eigene Sprache auf, indem sie mit ihnen umgehen, auch wenn sie sie nicht dauerhaft behalten. Nach Ansicht von Albert-Reiner G LAAP und Heribert R ÜCK (2007: 136) sollte schon der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule im Dienst der literarischen Propädeutik stehen. Denn er führt durch elementare Literatur in den literarischen Kanon ein. Als elementare Literatur ist das volkstümliche Schrifttum (Märchen, Anekdote, Volkslied, nursery rhyme und dergleichen) anzusehen. Hier liegt ein didaktisch erst ansatzweise genutztes Potential. Auch moderne Textsorten wie Song, Chanson, Witz und Sketch lassen sich bereits auf niedrigem oder mittlerem Lernniveau einsetzen. Elementare Varianten des Erzählens bieten comics, fumetti, bandes dessinées [...] (G LAAP / R ÜCK 2007: 136) Elementare Literatur soll den Grund für das literarische Curriculum legen und auf diese Weise über den Grundschullehrgang hinauswirken. Den Kindern wird diese Funktion und Zweckbestimmung des Umgangs mit Literatur natürlich nicht bewusst. 2.4 Authentizität und Anpassung Ich komme zum Schluss dieses Überblicks auf das Problem der von Eva B URWITZ - M ELZER (2004: 15) angemahnten Authentizität der Texte. Hier ist zu unterscheiden: Für Kinder sind englische oder französische oder spanische Texte aus dem einfachen Grund ‚authentisch‘, weil sie in fremden Sprachen verfasst sind und weil ihnen gesagt wird, dass es sich um Texte handelt, mit denen Kinder ihres Alters, die die andere Sprache sprechen, umgehen (D IEKMANN 2004). Das dürfte die Lerner motivieren, denn sie gewinnen den Eindruck, dass sie auf dem Wege sind, sich sprachlich mit ihren potenziellen Partnern zu vergleichen. Für sie ist es unerheblich, ob sie ihnen in originaler Form vorgelegt und vorgetragen werden oder ob sie für sie adaptiert werden, ob die Lehrerin ein Lied, von der Gitarre begleitet, vorsingt oder ob sie es vom Band anhören. Literatur und Sprachenwachstum. Zur Bedeutung literarischer Texte ... in der Grundschule 217 6 Zu diesem Thema O’S ULLIVAN (2002). 37 (2008) Die meisten in Grundschulen verwendeten literarischen Texte (Lieder, Bilderbücher, Gedichte, Erzählungen) sind für Muttersprachler verfasst, für den privaten Umgang. Das gibt ihnen nach einem allgemeinen Verständnis den Charakter des Authentischen, und mit diesem Argument wird ihre Verwendung im Unterricht häufig begründet: „Ziel war, sie [d. h. die Schüler] mit authentischen englischen Texten in Kontakt zu bringen“ (K NORR 2007: 2). Es werden aber auch Übersetzungen von Kinderbüchern verwendet, also authentische Texte, die in eine andere Sprache übertragen worden sind. Das sind zwar authentische Texte - für Muttersprachler der jeweiligen Zielsprache übertragene Texte, aber keine Originale mit authentischem kulturellem Hintergrund. 6 Eine andere Verletzung der Authentizität ist bei für den Unterricht bearbeiteten, ‚angepassten‘ Texten zu beobachten, bei gekürzten oder vereinfachten Texten. Eine weitere, wenn auch anders geartete Form der Anpassung geschieht durch Vorentlastung, d. h. durch eine spezifische sprachliche Vorbereitung der Schüler im Hinblick auf die Thematik, durch spezifische vorgeschaltete Aufgabenstellungen oder durch Einbringung in die Thematik einer Unterrichtsreihe, z. B. in eine story-line (G ERNGRO ß 2004; K UBANEK -G ERMAN 1992) oder in Simulationen (S IPPEL 2003). Schließlich sind auch Texte, die eigens für die Vermittlung bestimmter sprachlicher Phänomene - Grammatik, Wortschatz, Aussprache - gemacht sind, hinsichtlich ihrer Authentizität zu hinterfragen. Hier sei als Beispiel ein Lied zitiert, das authentisch ist, weil es von Muttersprachlern verfasst ist, aber eigens für den DaF- oder DaZ-Unterricht geschrieben ist und ein grammatisches Problem zum Thema hat: Gestern schwamm der Fisch im Wasser Sieh mal, er schwimmt immer noch Ist er wohl die ganze Nacht geschwommen? (…) Gestern hing der Aff am Baume Sieh mal, er hängt immer noch Hat er wohl die ganze Nacht gehangen? (…) Gestern lag das Faultier rum Sieh mal, es liegt immer noch Hat es wohl die ganze Nacht gelegen? (zit. in B ELKE / L YPP 1985: 33) Eine Dortmunder Gruppe von Studierenden hat dieses Lied zur Einübung der starken Verben verfasst. Der Text passt an einer bestimmten Stelle in den Unterricht; er ist vorentlastet, denn die Kinder oder Jugendlichen hatten vor seiner Benutzung bereits starke Verben kennen gelernt. An solchen Beispielen der Adaption zeigt sich, dass das Problem der Authentizität zu relativieren ist. Ein puristischer Anspruch erscheint kaum angebracht. Denn jeglicher literarische Text, der in den Unterricht eingebracht wird, wird mit der Zweckbestimmung, im Lehr- und Lernprozess zu dienen, ohnehin seiner Ursprünglichkeit beraubt. Sobald er 218 Herbert Christ 7 Bibliographien für englisch- und französischsprachige Bilderbücher bei B URWITZ -M ELZER (2004) und S TEIN (1999). Siehe auch O’S ULLIVAN (2002). 37 (2008) zum Mittel des Lehrens und Lernens wird, wird er aus seinem ursprünglichen Kontext herausgelöst. Dafür kommt er jedoch in einen neuen Kontext und er erhält eine neue Authentizität, eine curriculare Authentizität für Lernende und Lehrende. 3. Szenarien für das Lernen mit literarischen Texten Bisher wurden - ausgehend von der fremdsprachendidaktischen Theorie - Argumente für den Einsatz literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht in der Grundschule von Anfang an zusammengetragen. Es wurde über die Rolle der Fiktionalität, die Komplexität von literarischen Texten, die Erfahrung der Fremdheit, die Individualität des Zugangs sowie des Lernfortschritts und schließlich die angestrebte ästhetische Erfahrung der Schüler diskutiert. Im folgenden Abschnitt wird über einige Szenarien aus dem Literaturunterricht in der Absicht berichtet, das Lernen mit Literatur und durch Literatur im fremdsprachlichen Unterricht der Grundschule anschaulich zu machen. Die Auswahl erfolgt nicht nach systematischen Gesichtspunkten - z. B. mit Blick auf eine Progression oder auf ein Lehrgebäude -, sondern phänomenologisch, mit Blick auf charakteristische Beispiele. An ihnen sollen Wege des Sprachenwachstums gezeigt werden. 3.1 Bilderbücher betrachten und lesen Bilderbücher mit kurzen Textpassagen werden gerade im frühen Fremdsprachenunterricht gern genutzt. 7 Denn Bilder und Bildfolgen können betrachtet werden, auch wenn die Sprachkenntnisse noch gering sind. Sie stiften zum Sprachhandeln an, vor allem wenn sie von erzählenden oder dialogischen Texten begleitet sind. Schülerinnen und Schüler erfahren beim Umgang mit Bilderbüchern im Klassenzimmer eine Lesesozialisation, die heute nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Dazu gehört, dass man lernt, einer Geschichte ruhig zuzuhören, sich dabei so zu konzentrieren, dass später ein Gespräch über das Buch entstehen kann und dass man den Sinn eines Textes gemeinsam entdeckt. (B URWITZ -M ELZER 2004: 15) Ulla S TEIN (1999: 430) schildert das Szenario des Umgangs mit französischen albums im Anfangsunterricht. Die Schüler sitzen im Halbkreis. „Ich lese vor, zeige dabei auf die Personen und Gegenstände auf den Bildern, versuche den Inhalt durch Mimik, Gestik und Betonung zu unterstreichen. Aber schon nach einigen Seiten unterbreche ich die Lektüre und fordere die Schüler auf: „Dessinez la suite“ [„Zeichnet das, was danach kommt! “] (S TEIN 1999: 430). So werden die Kinder persönlich in die Geschichte hineingeholt, ohne dass sie sich sprachlich ausdrücken müssen. Literatur und Sprachenwachstum. Zur Bedeutung literarischer Texte ... in der Grundschule 219 8 Ulla S TEIN schildert auch den individuellen Umgang von Kindern mit Bilderbüchern und die Arbeit in Gruppen, berichtet vom Wunsch der Kinder, die Alben auszuleihen, um sie zu Hause betrachten zu können. In diesen Lernkontexten fällt die Steuerung durch die Lehrerin weitgehend weg, damit allerdings auch die durchgehende Anleitung zur Sprachhandlung. 37 (2008) Am Anfang steht also die ‚Lektüre‘ der Bilder in der Klasse. 8 Die Bildbetrachtung wird von der Lehrerin angeleitet. Sie erzählt bzw. liest vor, weist auf dieses und das hin, deutet auf Personen, Gegenstände, Bewegungen und Handlungen und hat die Absicht, Zusammenhänge herzustellen, eventuell Erwartungen aufzubauen. Die Kinder bleiben nicht stumm, sondern reagieren auf Deutsch oder Französisch, fragen nach, machen ihre Bemerkungen, wollen wissen, wie es weitergeht. Die Bildlektüre wird also von sprachlichen Äußerungen der Lehrerin und der Schüler begleitet, sie ist Sprachhandlung im vollen Sinn: Hörend und betrachtend verstehen, erzählen, Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken, fragen, Hypothesen entwickeln, Zusammenhänge herstellen. Die Schüler finden sich selbst und ihre Welt, ihre Gefühle, Bedürfnisse, Probleme und Interessen wieder, werden aber auch darüber hinausgeführt und erfahren Neues, Fremdes, Andersartiges, Bilderbücher regen die Phantasie an und ermöglichen verschiedene Deutungen, geben Anlaß zu Erweiterungen, Fortführungen, zum Umsetzen in andere Formen. Zudem sind sie authentisch, sie sind nicht gefiltert […] wie viele Lehrbuchtexte, die sich an der lexikalischen und grammatischen Progression orientieren. Die Schüler sind stolz, wenn sie ein echt französisches Buch verstanden haben, eines, das auch französische Kinder lesen. (S TEIN 1999: 431) Das „Neue, Fremde, Andersartige“, das die Schüler kennen lernen, ist eine phantastische Welt, eine Welt der Träume, auch der Albträume, der Gespenster, der sprechenden Tiere, es ist also nicht das Fremde im Rahmen des interkulturellen Lernens, bei dem es um das Verstehen fremder Personen und einer fremden Lebenswelt geht, sondern ein märchenhaftes Fremdes, das sie mit anderen Gleichaltrigen teilen können. Diese Welten sind ihnen aus Märchen, Sagen, Filmen bekannt und möglicherweise vertraut, und trotzdem sind sie in jedem Fall wieder neu. Die Kinder gehen folglich damit verhältnismäßig gelassen um und sind bereit, sich aktiv damit zu beschäftigen. Von Malen und Zeichnen war schon die Rede, ein Schwarz-Weiß-Bild farbig ausmalen, eine Collage machen, ein Kostüm entwerfen. Das „Neue, Fremde, Andersartige“ bietet aber auch „Material zu intensiver Spracharbeit“ (S TEIN 1999: 431). Als beispielsweise ein Haus für die Gespenster gemalt oder kollagiert wurde, lernten die Kinder nebenbei eine comptine, einen Kinderreim: Combien de personnes dans ta maison ? - Une, ma maman, deux, mon papa - Trois, ma sœur, quatre, mon frère Il manque quelqu’un, je crois ? - Mais bien sûr, c’est moi. (zit. in S TEIN 1999: 434) Damit wiederholen die Kinder die Zahlwörter, die Personalpronomen. - Dem Kind, das von Monstern in seinem Bett geträumt hat, gibt der Vater die einfache Erklärung: „C’est parce que tu as mangé trop de tarte aux pattes de mille pattes“ - sie hat zuviel von der Torte mit Tausendfüßlerfüßen gegessen. Das ist Anlass, andere tartes kennen zu lernen: 220 Herbert Christ 9 Eigene Unterrichtsbeobachtung im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts „In zwei Sprachen lernen“ der Textorschule Frankfurt am Main. 37 (2008) Tarte aux pommes, tarte au myrtilles usw., mit Hilfe einer Sammlung von Tarte-Postkarten, die die Lehrerin mitgebracht hat. - Dies sind Beispiele für ‚intensive Spracharbeit‘ im Umfeld der Erschließung des literarischen Textes. 3.2 Geschichten erzählen und spielen 9 L’histoire du loup - die Geschichte vom bösen Wolf, wurde von einer Lehrerin in einer ersten Klasse erzählt und anschließend von den Kindern gespielt. Der Unterricht lief folgendermaßen ab: Bildgestütztes, mimisch und gestisch begleitetes Erzählen durch die Lehrerin, schrittweises hörendes Verstehen mit aktiver Beteiligung der Kinder (Fragen und Vermutungen, Nachsprechen einzelner Wörter usw.), der Versuch, die Erzählung mit verteilten Rollen zu spielen. Der Inhalt der Erzählung: Ein Wolf lebt in einem Wald, an dessen Rand Kinder spielen. Es ist bekannt, dass er gelegentlich Kinder entführt, und daher vergewissern sich diese, wenn sie am Waldrand spielen, ob er da ist und was er derzeit tut. Darum rufen sie in den Wald: „Loup, y es-tu? “ - „Wolf, bist du da? “ Der Wolf antwortet: „Oui, j’y suis“. Danach fragen die Kinder „Loup, que fais-tu? “ - „Wolf, was machst Du? “ Und er ruft zurück: „Je me lève“. Die Kinder fragen ein anderes Mal: „Loup, que fais-tu? “ und er antwortet: „Je veux sortir“ oder „Je viens tout de suite“. Erneut befragt sagt er: „Je mets mon manteau“ oder „Je mets mon chapeau“ usw. ad libitum. Schließlich antwortet er auf eine neuerliche Frage der Kinder: „Et maintenant, je m’approche à pas de loup. Hou! Hou! Hou! “ „Jetzt komme ich im Wolfsgang, hu, hu, hu! “, und er nähert sich, um ein Kind einzufangen. Die Erzählung wurde mehrfach vorgetragen. Ihr Inhalt war leicht zu erfassen. Schwieriger war es mit der genauen Erfassung der wörtlichen Reden, die das Gerüst der Handlung darstellen und die für das Spiel wesentlich sind, in denen zudem der poetische Reiz der Geschichte liegt. Nachdem die Kinder die Geschichte durch Rückfragen und bestätigende Antworten erfasst hatten, wurde sie gespielt. Das Kind, das die Rolle des Wolfs übernahm, verbarg sich in einer Ecke der Klasse, die übrigen postierten sich vor dem ‚Wald‘ und riefen nacheinander die beiden Fragen: „Loup, y es-tu? “ und „Loup, que faistu? “. Wer den Wolf darstellte, antwortete zunächst wie in der Erzählung der Lehrerin vorgegeben. Beim wiederholten Spielen hatte der Wolf größere Freiheit. Er konnte den Text ergänzen und nach Belieben antworten, um seine vorbereitenden Tätigkeiten zu beschreiben. Nur musste er dafür sorgen, dass er bei seinem Erscheinen entsprechend seiner Ankündigung ausgestattet war. Am Ende musste er die rituelle Ankündigung sprechen: „Et maintenant, je m’approche à pas de loup. Hou! Hou! Hou! “ Mit einigen der wörtlichen Reden hat es eine besondere Bewandtnis. Die Frage „Loup, y es-tu? “ und die Antwort „Oui, j’y suis“ sowie die schlussendliche lange Ankündigung „Et maintenant, je m’approche à pas de loup. Hou! Hou! Hou! “ gehören zu einer Stilebene, die den Anfängern unvertraut ist. Diese Äußerungen gehören zu den poetischen Literatur und Sprachenwachstum. Zur Bedeutung literarischer Texte ... in der Grundschule 221 10 Siehe hierzu die oben [S. 215] zitierte Beobachtung von Anke D IEKMANN . 11 Zu den « niveaux de langue » - den Stilebenen - und ihrer Bedeutung im Fremdsprachenunterricht s. Stourdzé (1969). 12 Hierzu eine Beobachtung: Einer der Schüler der 4. Klasse - ein deutschsprachiges Kind - gab in unserem Fragebogen als Lieblingsbuch „Le Robert“ an. Wir trauten diesem Eintrag nicht und fragten nach. Tatsächlich meinte er Le Robert Benjamin - ein Wörterbuch, das man mit dem Schüler-Duden vergleichen kann. Wir fragten ihn, wie er mit dem Buch umgeht. Wenn er ein Wort nicht versteht, dann greift er zum „Robert“ und liest die 37 (2008) Elementen der Erzählung. Unter dem Aspekt einer grammatischen Progression wären sie durch einfachere Formen wie „Loup, es-tu là“ oder (schwerfälliger) durch „Est-ce que tu es là“ sowie „Oui, je suis là“ zu ersetzen, und an die Stelle des pronominalen Verbs „je m’approche“ würde etwa „j’arrive“ treten. Schließlich würde im Sinne einer linearen grammatischen Progression „à pas de loup“ durch „comme un loup“ ersetzt werden. Die Erstklässler hatten jedoch kein Problem, „y es-tu? “, „j’y suis“ und „je m’approche“ zu verstehen und diese Formeln beim Spielen der Geschichte immer wieder zu verwenden. Sie lernten sie nicht analytisch als grammatische Strukturen, sondern - ohne grammatische Analyse - wie Vokabeln. Sie waren - wie sich zeigte - in der Lage, sie auch auf andere Situationen zu übertragen, denn sie durften sie als Einheiten aufnehmen und übernehmen. 10 Sie machten dabei - ohne dies analytisch zu erfassen - eine ästhetische Erfahrung: Sie lernten einen literarischen Text mit unterschiedlichen Stilebenen kennen. 11 3.3 In der Bibliothek lesen Im Stundenplan der so genannten bilingualen Klassen der Frankfurter Textorschule, in denen deutschsprachige und französischsprachige Kinder miteinander lernen, steht zweimal wöchentlich eine freiwillige Veranstaltung Deutsche bzw. Französische Bibliothek. Die Bibliotheksstunden werden von Müttern betreut. Hier wird das Szenario der französischen Bibliotheksstunden vorgestellt (vgl. C HRIST / H ELLER / W ÄCHTER 2002). Zu Beginn der Stunde versammeln die betreuenden Mütter die Kinder zu einer Vorleserunde, in der sie ein von ihnen ausgewähltes Buch vorstellen und daraus lesen. Nicht alle Schüler beteiligen sich an der Runde, weil sie selbstständig lesen wollen. Sie ziehen sich schon vom Beginn an in die geräumige Leseecke zurück, um dort in einem Buch zu blättern: In einem Bilderbuch, einem Comic, einem Kinder- oder Jugendbuch, einer Tiergeschichte. Manche betrachten auch mit anderen zusammen ein Buch oder ziehen im Verlauf der Lektüre andere heran, um sie auf etwas Interessantes aufmerksam zu machen oder aber um nachzufragen, wenn sie einen Abschnitt oder einen Sachverhalt nicht verstanden haben. Sie tun dies auf Deutsch oder Französisch. Wiederum andere lesen vor den Regalen stehend einzelne Titel an, auf der Suche nach einem Buch, das sie ausleihen wollen. Der Umgang, den die Kinder in der Bibliothek mit Büchern pflegen, ist durchaus individuell. Gelesen wird, solange die Lust anhält. Manche ‚lesen Bücher an‘, andere lesen ‚in‘ Büchern. Manche reden über Bücher, einige schlagen in Wörterbüchern nach, wenn sie etwas nicht verstanden haben. 12 Das ist ein Umgang mit den Büchern, der anders 222 Herbert Christ französische Erklärung. „Dabei sind immer schöne Bilder“. Wenn er auch mit deren Hilfe nicht versteht, was er wissen will, dann greift er zu einem zweisprachigen Wörterbuch. Die Französischlehrerin, um einen Kommentar gefragt, sagte : „Il est assez étonnant au niveau de ses résultats. Il m’apporte quelquefois des phrases qui sont complètement … enfin qui sont très bonnes au niveau de la syntaxe même. Je me demande où il a sorti ça. Il me dit: ,Oui, oui, c’est moi qui ai trouvé‘.“ Das deutet darauf hin, dass er Le Robert Benjamin auch zum Schreiben von Texten nutzt. Diese Beobachtung unterstreicht unsere These vom „durchaus individuellen Umgang“ mit Büchern. 13 Aussage einer Französischlehrerin im Rahmen unserer empirischen Untersuchung. 14 Von den 24 Kindern der dritten Klasse bezeichneten sich 18 und von den 25 Kindern der vierten Klasse 21 als ‚Leseratten‘. 15 Aussage einer Französischlehrerin im Rahmen unserer empirischen Untersuchung. 37 (2008) ist als der in der Schule gepflegte. Dazu eine der Französischlehrerinnen: „On travaille le livre différemment, de façon plus structurée […] Il faut que je sache ce qu’ils ont lu et s’ils ont compris ce qu’ils ont lu ou s’ils ne font que regarder les images“. Im Unterricht streben die Lehrerinnen „un certain niveau suivi de la lecture“ an. 13 Damit ist ein methodisches Lesen gemeint. Dies ist jedoch nicht das Ziel der Bibliotheksstunden. Hier sollen Kinder Lust auf Lektüre bekommen und selbstständig und selbsttätig mit Büchern umgehen. Sie können Hilfe bekommen, brauchen sie aber nicht in Anspruch zu nehmen. Der Zugang der Kinder zur Lektüre ist in der Tat sehr unterschiedlich. Ein Mädchen aus der 3. Klasse betrachtet Tintin et Milou von Hergé und antwortet auf die Frage, was sie liest, mit dem deutschen Titel, den sie von zu Hause kennt: Tim und Struppi. Sie konzentriert sich im Wesentlichen auf die Lektüre der Bilder. Jedoch ist sie gelegentlich veranlasst, auf die französischen Texte zu schauen, um den Sinn genauer zu erfassen. - Die parallele Beschäftigung mit deutschen und französischen Texten konnten wir auch an anderer Stelle beobachten, da viele Kinderbücher in beiden Sprachen vorliegen und die Leser in der Bibliothek gerade auch nach ihnen bereits bekannten Titeln greifen. Diese sind leichter und schneller zu lesen als unbekannte Titel. Kinder der dritten und vierten Klassen sind keine kompetenten Leser. Die von uns befragten bezeichneten sich gleichwohl zum weitaus größten Teil als ‚Leseratten‘: Sie lesen nach ihrer Aussage gern und nach ihrem Empfinden viel. 14 Die Lehrerinnen machen jedoch im Unterricht die Erfahrung, dass für die Kinder die zusammenhängende Lektüre schwierig ist. Sie freuen sich, wenn ihnen der Zugang zum Buch erleichtert wird, indem ihnen z. B. die Geschichte zunächst erzählt wird. „Ils sont beaucoup plus ouvert au fait qu’on leur raconte une histoire, qu’on la raconte en jouant. […] Mais quand ils doivent prendre un livre […] le feuilleter, il n’y a pas de problème, mais le lire, c’est-à-dire un travail de fond, ça leur demande un effort.“ 15 Tatsächlich wechseln viele Kinder in der Bibliotheksstunde vom Betrachten von Bildern zum Blättern in einem Buch und nur gelegentlich zum genauen Lesen. Sie lesen zum Vergnügen und nach eigenem Geschmack und vermeiden eine größere Anstrengung. In der Bibliotheksstunde findet auch Beratung für die Ausleihe von Büchern statt. Der größere Teil der Kinder leiht Bücher aus. Bei der Beratung kommt den betreuenden Müttern eine wichtige Rolle zu, aber auch den Mitschülern oder älteren Geschwistern, die ein von ihnen bereits gelesenes Buch empfehlen. Manche Kinder leihen auch Sachbücher Literatur und Sprachenwachstum. Zur Bedeutung literarischer Texte ... in der Grundschule 223 16 Ein indirekter Einfluss der Lehrerinnen lässt sich dagegen durchaus beobachten, wenn nämlich Bücher, von denen im Unterricht die Rede war, ausgeliehen werden. 17 Eigene Unterrichtsbeobachtung im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts „In zwei Sprachen lernen“ der Textorschule Frankfurt am Main. 18 Crin-Blanc, von Albert L AMORISSE , Films Montsouris 1952. - Das Buch zum Film: Albert L AMORISSE & Denys Colomb DE D AUNANT , Crin-Blanc. Paris: Hachette 1954. Mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotos. - Aus dem Film ist ein Buch von René G UILLOT mit dem gleichen Titel hervorgegangen, zuletzt Paris: Hachette Jeunesse 2001. 37 (2008) aus, dieses häufig auf Empfehlung ihrer Lehrerinnen. Auf die Auswahl literarischer Texte haben Lehrerinnen und Eltern nach unseren Befragungen kaum Einfluss. 16 3.4 Eine Unterrichtsreihe mit Crin-blanc - Film und Buch 17 Ich referiere eine mehrwöchige Unterrichtsreihe einer dritten Klasse über den Film Crin- Blanc von Albert L AMORISSE und ein aus dem Film hervorgegangenes Buch. 18 Ort des Geschehens ist die Camargue im Rhone-Delta, eine der wenigen europäischen Landschaften, in der Wildpferde leben. Im Mittelpunkt von Film und Buch stehen ein 15jähriger Junge mit Namen Folco und ein wilder Hengst, den man Crin-Blanc (Weiße Mähne) nennt. Crin-Blanc ist der Leithengst einer frei lebenden Herde. Eines Tages wird er gefangen. Er leistet aber Widerstand gegen jede Zähmung, bis es dem Fünfzehnjährigen gelingt, seine Freundschaft zu erobern. Von ihm lässt er sich schließlich zähmen. Es entsteht eine Freundschaft zwischen Mensch und Tier. Die Unterrichtsreihe verlief folgendermaßen: Tägliches Pensum war eine kurze Sequenz des Films, die allerdings erst zum Schluss der Stunde gezeigt wurde. Vorher wurde im Klassengespräch an den aus den vorhergehenden Stunden bekannten Zusammenhang erinnert, sodann der Inhalt der neuen Sequenz erzählt und schließlich ein Textausschnitt aus dem Buch gemeinsam gelesen. Der idealtypische Stundenverlauf sah so aus: Der bisher bekannte Inhalt des Films wird von den Schülern gemeinsam ‚rekonstruiert‘, das heißt nacherzählt; die Lehrerin stellt ergänzende Fragen korrigiert gegebenenfalls inhaltlich falsche Äußerungen. Es werden Vermutungen über den Fortgang der Handlung geäußert. Die Lehrerin erzählt sodann das Geschehen des neuen Ausschnitts. Fotos werden gezeigt und besprochen. Kopien mit dem gelegentlich gekürzten Text des Buches werden verteilt; sie sind zurückhaltend annotiert. Der Text wird still gelesen. Einige Schüler lesen einzelne Abschnitte des Textes laut vor. Schüler stellen Fragen zu einzelnen Wörtern oder Phrasen. Auf Arbeitsblättern - die gelegentlich auch als Hausaufgabe bearbeitet werden sollen - werden Ergebnisse festgehalten. Die Vorführung des Filmausschnitts ist der Höhepunkt der Stunde und zugleich der Anknüpfungspunkt für die kommende Stunde. Die Unterrichtsreihe forderte und aktivierte eine große Zahl unterschiedlicher Sprachhandlungen: Hörendes Verstehen, das heißt der Lehrerin bei der Erzählung folgen, den Mitschülern zuhören, beim Anschauen des Films den Text verstehen; Hör-Seh-Verstehen (vgl. hierzu S CHWERDTFEGER 2007), z.B. beim Anschauen der Filmsequenzen, während 224 Herbert Christ 19 Zum Lesen in allen seinen Formen s. den Überblick in E HLERS (2007). 20 Der Bericht ist unveröffentlicht. Für den Bericht erhielt die Autorin im Jahr 2007 den Hans-Eberhard Piepho Preis in der Kategorie „Schulpraktische Arbeit“. Anschrift der Autorin: Evangelische Grundschule Potsdam, Große Weinmeisterstraße, 14469 Potsdam. yvetteknorr@gmx.de. 37 (2008) der Erzählungen der Lehrerin, die sowohl von Bildern wie auch von Gestik, Mimik und Körpersprache gestützt wurden; Bilder und Bildsequenzen verstehen und darüber sprechen; Gehörtes aufnehmen, behalten und darüber sprechen; Gesehenes und Gehörtes in den Zusammenhang der Erzählung einbringen; Lesen: überfliegendes Lesen, selektives, genaues Lesen, laut vorlesen 19 ; Fragen stellen, auf Fragen antworten; dialogisch - mit den Mitschülern und der Lehrerin - sprechen; argumentierend reden und schreiben; mündlich erzählen, Erzähltes aufschreiben; Notizen machen, Arbeitsblätter bearbeiten. Erst aus den Sprachhandlungen entsteht für die Schüler das literarische Werk - in diesem Fall bestehend aus Film und Buch. Es erschließt sich nicht allein aus der unmittelbaren Begegnung - aus einer bloßen Konfrontation und auch nicht allein aus der persönlichen Beschäftigung mit Buch, Bildern und Film. Aus den Sprachhandlungen - vor allem den ‚veröffentlichten‘, d. h. den an der Wandtafel oder auf Arbeitsblättern festgehaltenen oder im Tagebuch aufgeschriebenen und somit allen Lernenden mitgeteilten - bilden sich die Figuren der Handlung plastisch heraus, mit ihnen wird der Ort der Handlung wahrgenommen, der Verlauf der Handlung erkannt. Diese Sprachhandlungen sind jeweils komplex, nur selten als einzelne Fertigkeiten beschreibbar. Sie werden von der Lehrerin gesteuert, was nicht ausschließt, dass einzelne Schüler durch ihre Äußerungen, Fragen und Einwände Handlungssequenzen initiieren, die für den gesamten Handlungsablauf bedeutsam werden. Dieser aktive Zugang zur Literatur - aktiv durch wechselnde Sprachhandlungen - ist (wie im ersten Abschnitt ausgeführt) ganzheitlich, persönlich, elementar und spielhandelnd. Er nimmt den Text (in diesem Fall ist es ein Multitext) nicht als Objekt, das zu begreifen und zu analysieren ist, sondern als Ereignis. Das Ereignis wird erlebt, indem die Schüler es selbst hervorbringen. 3.5 Kinder hören/ lesen einen literarischen Text und spielen Theater - The Gruffalo Ich führe als letztes Beispiel ein Theaterprojekt auf der Basis eines Berichts von Yvette K NORR (2007) an. 20 Die Autorin schreibt: Das Theaterprojekt The Gruffalo entstand auf Initiative der Kinder. Im Rahmen der ‚storytime‘ im Englischunterricht wurde den Kindern das Buch The Gruffalo […] in Fortführung der Thematik ,The parts of the body‘ vorgestellt. Ziel war es, sie mit authentischen englischen Texten in Kontakt zu bringen. Es stellte sich heraus, dass nicht wenige Kinder die Geschichte vom Gruffalo bereits in Deutsch kannten, zum Teil den Text des deutschen Buches auswendig aufsagten und begannen, das ‚Gruffalo-Lied‘ […] in Deutsch zu singen. (K NORR 2007: 2) Die Kinder hörten die Geschichte zuerst vom Band und betrachteten dabei die Bilder einer großformatigen Buchausgabe. Die Figur des Gruffalo - eines Monsters - erregte besonderes Interesse und musste genau beschrieben werden. Dieses Monster ist die Phan- Literatur und Sprachenwachstum. Zur Bedeutung literarischer Texte ... in der Grundschule 225 37 (2008) tasiegestalt einer kleinen Maus, die sie zu ihrer Verteidigung gegen ihre natürlichen Feinde (Füchse, Eulen, Schlangen) erfindet und mit der sie ihnen Angst macht. Aber im Verlauf der Erzählung erscheint das Phantom wirklich, und die kleine Maus muss sich seiner erwehren, was ihr durch List gelingt. Eine Skizze des Gruffalo, die von der Lehrerin mit dem nötigen Vokabular beschriftet war, wurde ausgemalt. Danach wurde der Gruffalo-Song geübt. He’s the Gruffalo, Gruffalo, Gruffalo. He’s the Gruffalo He has knobbly knees And turned-out toes And a poisonous wart At the end of his nose. He’s the Gruffalo, Gruffalo, Gruffalo. He’s the Gruffalo His eyes are orange His tongue is black He has purple prickles All over his back. (D ONALDSON / S CHEFFLER 1999) Die anderen Tiere, die in der Geschichte mithandeln, mussten nicht gesondert erklärt, sondern nur im Bild gezeigt werden: Mice, foxes, owls, snakes. Der Text der Erzählung ist auch für Anfänger nicht schwer zu verstehen. Die wenigen, sich in den einzelnen Abschnitten wiederholenden Sprechakte und ihr sprachlicher Ausdruck werden rasch erfasst: Begrüßung und Verabschiedung (hello, goodbye), Frage nach den Absichten und Antwort (Where are you going to? I am going to have a breakfast/ lunch/ tea with ...), Einladung (Come and have breakfast/ lunch/ tea with me/ us), Beschreibung des Gruffalo (He has terrible tusks, etc.). (K NORR 2007: 3) So kamen auch die Szenen des Theaterstücks mit wenigen Redemitteln aus, die von Szene zu Szene nur gering variierten. Die größten Sprech- und Spielleistungen wurden von den Darstellern der Maus verlangt, die in jeder Szene präsent ist. Die Lehrerin bemühte sich, alle Kinder mitspielen zu lassen. „Die Zahl der Kinder machte es möglich, die Gruppe zu teilen und in zwei Gruppen zu spielen. Trotzdem mussten die Rollen mehrfach besetzt werden“ (K NORR 2007: 4). Die Einteilung in zwei Gruppen und die Mehrfachbesetzung der Rollen innerhalb der Gruppen hatten zur Folge, dass „Variationen des Textes entstanden“ - eine von der Spielleiterin tolerierte (vielleicht auch gern gesehene) Entwicklung; zeigte sie doch, dass die Kinder sich und ihre Sprache in den vorgegebenen Rahmen einbrachten. „Die Kinder wählten ihre Rollen selbst. Dies war durchaus nicht unproblematisch, da sich Kinder, denen das Sprechen eher schwer fällt, für die Hauptrolle ‚Maus‘ entschieden. Deshalb wurde in einer Gruppe die Mausrolle geteilt“ (K NORR 2007: 4-5). Es stellte sich heraus, dass einige Kinder nicht nur ihre eigenen Rollen lernten, sondern sich den gesamten Text einprägten und andere Kinder beim Lernen des Textes unterstützten. 226 Herbert Christ 21 Scene I: Mice and Foxes; Scene II: Mice and Owls; Scene III: Mice and Snakes; Scene IV: Mice and Gruffalo; Scene V: Mice, Gruffalo and Snakes; Scene VI: Mice, Gruffalo and Owls; Scene VII: Mice, Gruffalo and Foxes. 22 Die Lehrerin merkt an: „Der Fokus des Englischunterrichts in der Jahrgangsstufe 3 liegt an der Schule auf gesprochenem Englisch. Das Schreiben fand und findet nur punktuell statt“ (K NORR 2007: 3). 23 Siehe dazu das in Fußnote 5 [S. 214] zitierte Diktum von W EINRICH . 24 Das trifft in noch stärkerem Maße auf die nach eigener Aussage auf Output orientierten „Bildungsstan- 37 (2008) Der Szenenplan 21 gab den Kindern ein Gerüst vor, das ihnen das Lernen der Texte erleichterte. So lernten sie ihre Rollen durch gemeinsames wiederholtes Hören und Nachsprechen. Erst als weitgehend Textsicherheit gegeben war, erhielten die Kinder die Textheftchen für die jeweilige Gruppe. 22 (K NORR 2007: 5) Hören und Nachsprechen waren also die herausragenden Sprachtätigkeiten. Das Theaterprojekt The Gruffalo ist in den regulären Unterricht thematisch eingebunden. Das Thema The parts of the body wird mit Hilfe der Arbeit an einem literarischen Text wieder aufgenommen und weiter geführt. Es geht also um Festigung und Erweiterung eines Wortfeldes. Das geschieht mit der Rezeption eines Erzähltextes und seiner Umformulierung in einen Theatertext sowie die Vorbereitung und sprachliche Realisierung einer Theateraufführung. Die Kinder hörten und lasen ansatzweise einen authentischen Text und erarbeiteten mit der Lehrerin eine szenische Fassung. Aus der Rezeption erwuchs allmählich Produktion, und zwar kooperativ. An der produktiven Phase wurden alle Kinder mit unterschiedlichen Aufgaben beteiligt. Sie unterstützten sich wechselseitig beim Erlernen der zu sprechenden Texte. Dabei hatten sie eine gewisse Freiheit der sprachlichen Gestaltung. Für die Aufführung mussten Masken hergestellt werden. Inwieweit die Kinder dabei beteiligt waren, wird im Projektbericht nicht mitgeteilt. 4. Sprachenwachstum bei der Arbeit mit literarischen Texten Im einleitenden Abschnitt war von den didaktischen Potenzialen literarischer Texte die Rede. Auf Grund dieser ihrer spezifischen Potenziale werden sie im Fremdsprachenunterricht der Grundschule gelesen und gehört und gehen Kinder und Lehrerinnen mit ihnen um. Zu den Potenzialen gehört ihre Widerständigkeit: die ‚authentischen‘ Texte fügen sich nicht schlank und glatt und ohne Widerstand in ein Curriculum ein 23 , es sei denn sie werden angepasst. Ein weiteres Potenzial ist, dass sie Freude machen und von Kindern gern gehört und gelesen werden. Für die Arbeit mit literarischen Texten brauchen die Lernenden und Lehrenden Freiräume - Freiräume für die angemessene Rezeption und Freiräume für die Lust des Umgangs mit ihnen. Denn sie zu rezipieren, ob hörend-verstehend oder lesend-verstehend, ob als mündliche oder schriftliche Texte, braucht viel Zeit. Der Rezeption kommt daher ein stärkeres Gewicht zu als im auf sprachlichen Ausdruck fokussierten Fremdsprachenunterricht, wie wir ihn spätestens seit der kommunikativen Wende kennen. 24 Der literarische Literatur und Sprachenwachstum. Zur Bedeutung literarischer Texte ... in der Grundschule 227 dards“ zu. Zur Kritik der Bildungsstandards s. B AUSCH [et al.] (2005). 37 (2008) Unterricht fördert die rezeptiven Kompetenzen in besonderem Maße. Und er fördert den lustbetonten Umgang mit Sprache. Wir erleben also bei der Beschäftigung mit literarischen Texten eine Aufwertung der Sprachaufnahme. Das wurde an allen Beispielen, die wir angeführt haben, deutlich. Nicht nur sprachliche Bezeichnungsmittel müssen hörend und lesend verstanden und zum Teil im Gedächtnis behalten werden, in die eigene Sprache, d. h. in die eigene Fremdsprache, aufgenommen werden, sondern die Texte werden als Ganze rezipiert. Dabei fällt der Blick auf ihre Form und öffnet sich das Ohr für ihren Klang. Ein Gedicht wird anders rezipiert als eine Erzählung, ein Lied anders als ein Filmausschnitt. Was ästhetisch auffällig ist - z. B. als Stilmerkmale, Reime oder literarische Figuren - wird wahrgenommen und in der Regel besser behalten als Unauffälliges. Das Auffällige wird gelegentlich in den eigenen Sprachgebrauch übernommen. Die Betonung der Rezeption bedeutet keineswegs, dass der Ausdruck gering geschätzt wird. Die Sprachaufnahme steht zwar am Anfang und beansprucht Konzentration, aber sie verdrängt darum den Ausdruck und die Entwicklung der produktiven Kompetenzen nicht. Diese kommen nicht erst nach vollendeter Rezeption zur Geltung, werden also nicht ans Ende der rezeptiven Beschäftigung mit Texten verbannt. Verlangsamte Sprachaufnahme rückt die Sprachproduktion nicht in den Hintergrund oder unterdrückt sie gar, sondern sie verlangt eine andere Anordnung der Sprachproduktion. Denn die Sprachaufnahme selbst ist schon ein aktiver Vorgang. Wenn Schüler aufmerksam zuhören, dann sind sie nicht passiv. Sie reagieren beim Hören und Lesen durchaus. Wenn sie einen Text lesen, dann konzentrieren sie sich auf die Lektüre, denken aber dabei laut nach. Sie wollen und sollen und können sich nicht sogleich zusammenhängend äußern. Daher werden einige der produktiven Kompetenzen mit einer gewissen Verzögerung geübt. Zum Beispiel: Dem Lesen von Texten folgt das laute Vorlesen mit gemessenem Abstand. Erst nach dem mündlichen Nacherzählen folgt der schriftliche Ausdruck z.B. in Form von schriftlichen Nacherzählungen oder Kommentierungen (Beispiele in C HRIST 2005). Wir haben an den beispielhaft vorgestellten Szenarien gesehen, dass Ausdruck nicht nur in sprachlichen Äußerungen besteht, sondern dass er sehr viel breiter gelagert ist. Der Ausdruck umfasst gerade bei jungen Personen, die spontaner reagieren als ältere, alles, was der Körper hergibt: Sprache und Körpersprache, Mimik, Gestik, bildhafte Gestaltung, szenische Darstellung, Lachen, Weinen, Ausrufe. Ich erinnere noch einmal an H ELLWIG s Diktum vom Spielhandeln, unter das sich alle diese Ausdrucksformen subsumieren lassen (H ELLWIG 1995: 36). Auch der sprachliche Ausdruck im Umgang mit Literatur ist sehr breit angelegt. Weder beschränkt er sich auf Inhaltsangabe und Kommentar noch stehen diese beiden Sprachhandlungen im Mittelpunkt des literarischen Unterrichts der Grundschule. Er verfügt über eine große Palette von Ausdrucksmöglichkeiten, elementaren und komplexen. Im mündlichen Bereich findet man auf dieser Palette Einwortsätze, Wiederaufnahme von Gehörtem, Nachsprechen, Fragen stellen, auf Fragen der Lehrerin antworten, Singen und Mitsingen, 228 Herbert Christ 25 So lautet der Titel des Friedrich-Jahresheftes 2008 (Jahresheft XXVI/ 2008), herausgegeben vom Friedrich Verlag, in Zusammenarbeit mit Klett. 37 (2008) eine Meinung äußern, jemandem widersprechen, einen auswendig gelernten Text aufsagen, an einer Aufführung mitwirken, Erzählen und Nacherzählen. Im schriftlichen Bereich wird auf der Wandtafel Gelerntes festgehalten, von der Tafel abgeschrieben, werden Wörter in ein Lückendiktat eingefügt, Namen im Text unterstrichen, Textteile vorgelesen, Notizen gemacht, Tagebücher geführt, Wandzeitungen oder Klassenzeitungen kollektiv geschrieben. Die Sprachtätigkeiten, die im Umgang mit literarischen Texten sowohl in der Rezeption wie in der Produktion gefordert werden, sind monologische wie dialogische, sowohl im Bereich der Mündlichkeit wie der Schriftlichkeit. Der einzelne Lerner muss sich sowohl selbsttätig mit dem Text befassen, wie er sich mittätig - im Kollektiv, in der Partnerarbeit, in der Kleingruppe oder in der gesamten Klassengemeinschaft unter Anleitung der Lehrerin - damit beschäftigt. Und in genau dieser doppelten Weise wird er darauf reagieren. Das heißt aber auch, dass das literarische Projekt jeden Schüler und jede Lehrerin persönlich auf eigene Weise fordert und folglich auch anders fördert. Die zu vermutende Ungleichheit des Lernfortschritts wurde schon erwähnt. Mit dieser Feststellung geht die Forderung einher, dass diese unvermeidliche Ungleichheit im Curriculum zu kompensieren ist. Oben wurde dazu ein Vorschlag gemacht: Was von allen zu lernen ist, muss festgestellt und überprüft werden. Ebenso wichtig ist aber alles, was ein jeder, eine jede für sich lernt. Oder um es plakativ zu sagen: Individuell lernen - kooperativ arbeiten 25 , damit sich alle bestmöglich sprachlich entwickeln. Wenn aber mit literarischen Texten individuell gelernt und kooperativ gearbeitet wird, wie das in den Szenarien exemplarisch beschrieben ist, dann wirft das auf die Texte ein besonderes Licht: Sie verändern sich, sobald sie Gegenstände des Unterrichts werden. Um es im Bilde zu sagen: Sie verändern sich unter den Blicken und in den Ohren der Schüler. Die Texte erhalten durch ihre Vermittlung im Unterricht eine neue Qualität. Sie entfalten sich durch den Unterricht und im Unterricht. Schüler und Lehrer stellen sie in einen kommunikativen Zusammenhang, in dem dann die Frage der Originalität und der Authentizität nur eine relative Bedeutung hat. Für die jugendlichen Leser in der Frankfurter Französischen Bibliothek, für Kinder, die sich mit einem Gedicht die starken deutschen Verben einprägen, für die Darsteller der Maus oder des Gruffalo in Potsdam, für die Schüler, die Folco und Crin-Blanc in Buch und Film erleben, werden diese literarischen Werke ihre Werke, die sie tatsächlich erst durch ihre Sprachtätigkeit in ihren Bewusstseinshorizont und in ihre Sprache übernehmen. Das Erlernen dieser Sprachtätigkeiten oder dieser Kompetenzen macht ihr Sprachenwachstum aus, ihren Lernfortschritt in allen für sie relevanten sprachlichen und die Sprache begleitenden Kompetenzbereichen. Literatur und Sprachenwachstum. Zur Bedeutung literarischer Texte ... in der Grundschule 229 37 (2008) Literatur B AUSCH , Karl-Richard / B URWITZ -M ELZER , Eva / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2005): Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht auf dem Prüfstand. Tübingen: Narr. 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