eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 37/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2008
371 Gnutzmann Küster Schramm

Visual Culture und Literatur:

2008
Wolfgang Hallet
* Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Wolfgang H ALLET , Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Anglistik, Otto-Behaghel-Str. 10B, 35394 G IE ß EN . E-mail: Wolfgang.Hallet@anglistik.uni-giessen.de. Arbeitsbereiche: Englische Literatur- und Kulturdidaktik, Bilingualer Unterricht, kulturwissenschaftliche Text-, Literatur- und Kulturtheorien. 37 (2008) W OLFGANG H ALLET * Visual Culture und Literatur: Multimodale Romane, Literaturunterricht und Literaturdidaktik Abstract. This essay is an introduction to a new novelistic genre which has emerged over the last twenty years and is characterized by the integration of non-verbal and non-narrative modes into novelistic narration. In the novels that are investigated here, graphics, photographs, diagrams and drawings, but also (the reproduction of) non-novelistic texts like newspaper articles, advertisements, obituaries, handwritten letters or lists and tables form an integral part of the narrative. The visual elements in particular can be regarded as importing visual culture into a conventional literary genre. The essay argues that the multimodal novel mirrors common cultural and signifying practices and that it challenges traditional ways of reading and teaching literary texts in the classroom. Multimodal novels enrich the literary classroom, but reading and teaching them also requires the integration and education of visual, intermedial and transmodal competencies. 1. Der multimodale Roman Seit Jahrhunderten ist die Vorstellung von Literatur und besonders vom Roman mit dem Medium der Schriftsprache und dem rezipierenden Akt des Lesens verbunden. Es erschließt sich daher nicht auf Anhieb, dass, wie im Titel suggeriert, visual culture und Literatur eine Symbiose eingehen. Am verbreitetsten und am populärsten sind in dieser Hinsicht comics, photo-stories oder graphic novels, wobei letztere alle Merkmale von comics aufweisen, aber durch die generische Bezeichnung novel auf ihren Charakter als Einzelwerk verweisen, ihre diesbezügliche Verwandtschaft zum herkömmlichen Roman betonen und sich vom seriellen Charakter der comics abheben. Im Mittelpunkt dieses Beitrags soll aber eine Romangattung stehen, die Weniges mit der graphic novel, dafür aber vieles mit dem herkömmlichen Roman gemein hat und sich dennoch in auffälliger Weise von ihm unterscheidet: Der multimodale Roman. Er hat sich in den letzten zwanzig Jahren in beachtlicher Anzahl herausgebildet, stellt insofern eine erzählerische Innovation und daher auch für die Literaturdidaktik eine Herausforderung dar. Da es sich hierbei in der Literaturwissenschaft und in der Narratologie nicht um einen eingeführten Gattungsbegriff handelt, soll am Anfang dieses Artikels zunächst eine phänomenologische Annäherung stehen: Multimodale Romane verwenden zwar ebenfalls die traditionelle Sprache des Romans mit der Entwicklung einer Erzählung in der Schrift- 142 Wolfgang Hallet 37 (2008) sprache, gleichzeitig aber integrieren sie eine große Bandbreite nonverbaler symbolischer Repräsentationen und nicht-narrativer semiotischer Modi. In solchen Romanen begegnen uns also neben dem verbalen Erzähltext z.B. Fotos, alle Arten von graphischen Repräsentationen, Reproduktionen nicht-narrativer Texte und Genres, Texte in unterschiedlichen Schriftarten und typographischen Stilen, Reproduktionen gedruckter Texte aus anderen Quellen und Dokumente, die verschiedensten Formen nonverbaler Symbole, verschiedene diskursive Modi, etwa Transkriptionen von Konversationen, Dialogen oder Telefongesprächen, und viele andere Formen menschlicher Kommunikation. Das Bemühen in multimodalen Romanen geht dahin, die ursprüngliche symbolische Gestalt nichtnarrativer Formen der Kommunikation weitestgehend (wenngleich natürlich druckgraphisch reproduziert) zu erhalten und sie so auch aus dem linearen Fluss der verbalen Erzählung herauszuheben. Weitere Beispiele für ‚romanfremde‘ und nonverbale Elemente reichen daher vom Einschub persönlicher Briefe (genauer: deren druckgraphischer Reproduktion) oder von Zeitungsartikeln bis hin zu einer vollständigen Collage von Bildern und Fotografien, Reproduktionen von Dokumenten und verschiedenen textuellen Elementen und Gestaltungsmitteln, die es manchmal schwierig machen, einen Text überhaupt als Roman im traditionellen Sinne zu identifizieren. Denn traditionelle Romane würden keine nichtnarrativen Modi integrieren, die deutliche Kennzeichen anderer Gattungen aufweisen. So sind Fußnoten z.B. ein eindeutiges Merkmal akademischer Schreibweise im argumentativen Modus. Ebenso würde man eine Reihe von Familienfotos eher in einem Familienalbum oder einem Sachbuch mit dokumentarischem Charakter erwarten. Neben visuellen Elementen können in einem multimodalen Roman verschiedene Formen von Listen und Tabellen, kartographische Darstellungen in unterschiedlichen Ausprägungen, Diagramme und Statistiken, ja sogar wissenschaftsspezifische Symbolsprachen wie mathematische Formeln oder Algorithmen vorkommen. Außerdem kann der Leser eines multimodalen Romans ganzen Passagen von - identifizierbar unabhängigen Texten - begegnen, die in einer anderen Sprache verfasst sind, sodass Inhalt und Bedeutung im Modus einer Fremdsprache kommuniziert werden und ein Roman zu einem mehrsprachigen Textensemble werden kann. Insgesamt muss die Romanerzählung bei dieser Romanart als die Integration anderer geschriebener und verschiedener nonverbaler Modi in den narrativen Modus des Romans angesehen werden. Die auffälligsten nicht-narrativen Elemente sind aber gewiss visueller Natur, also Fotos, Zeichnungen oder Grafiken, die die Leserin oder den Leser eines Romans mit der Aufgabe konfrontieren, nun sowohl den jeweiligen ‚visuellen Text‘ zu lesen als auch dessen Verbindung mit dem Erzähltext zu verstehen. Auf unerwartete Weise hält so die visual culture Einzug in die Jahrhunderte alte Kultur der verbalen Narration, und der Akt des Lesens wird unversehens mit einem Akt des Sehens und des sehenden Verstehens verbunden, ja vielleicht sogar, wie einige Beispiele im Folgenden zeigen sollen, von diesem abhängig. Diese Verwendung von nonverbalen und nicht-romanhaften Elementen in einem Roman kann, anders als bei herkömmlichen Formen der Illustration oder Bebilderung, nicht als redaktionelle Beigabe verstanden werden, die ein Autor beigefügt hat oder die Visual Culture und Literatur: Multimodale Romane, Literaturunterricht und Literaturdidaktik 143 37 (2008) mit seiner Erlaubnis in einer Romanausgabe oder auf einem Buchcover erscheint. Andererseits kann auch der gelegentliche Gebrauch von Bildern und anderen Formen nonverbaler Repräsentationen oder nicht-romanhafter Modi an sich nicht als ein neues Phänomen angesehen werden. Vielmehr besteht der entscheidende Unterschied in der systematischen und wiederholten Integration nonverbaler und nicht-narrativer Elemente in die Romanerzählung. Dieser systematische Unterschied ist der Grund dafür, warum es sich lohnt, sich mit einem Korpus von Romanen zu beschäftigen, in denen Fotos und alle Arten von visuellen und graphischen Repräsentationen integrative Elemente des narrativen Diskurses sind. In Abschnitt 2 soll an einigen Romanbeispielen näher dargestellt werden, wie sich die Integration visueller und anderer Modi in die Romanerzählung im Einzelnen gestaltet. Zuvor soll noch kurz der Begriff der Multimodalität geklärt werden. Er entstammt einem semiotischen und diskurstheoretischen Ansatz und referiert darauf, dass diskursive Bedeutung stets im Zusammenspiel verschiedener Zeichensysteme und semiotischer Modi entsteht, von denen die verbale Sprache nur einen darstellt und selbst immer nur in einem bestimmten Modus und in einem bestimmten Medium - gesprochen, gedruckt, handschriftlich usw. - realisiert wird. Als prominente Beispiele für kulturell verbreitete multimodale textuelle oder mediale Designs können Illustrierte, Firmensprospekte oder Webseiten gelten, die verschiedene semiotische Modi in einem einzigen textuellen oder medialen Produkt integrieren. Im Gegensatz zu ‚Medium‘ als einem physischen Mittel des Eintrags, der Übermittlung oder der Distribution kommunikativer Inhalte werden als Modi semiotische Ressourcen bezeichnet, die simultan in einem einzigen diskursiven oder sozial-interaktiven Akt realisiert werden können. Solche semiotischen Ressourcen sind sowohl basale Modi wie z.B. Farben oder musikalische Töne als auch textuelle oder mediale Genres und kulturelle Artefakte wie Möbel und andere Objekte, aber auch ganze Räume und alle Arten von sozialen Praktiken (vgl. zu allem: K RESS / VAN L EEUWEN 2001: 21-28, sowie ausführlich H ALLET 2008b und H ALLET 2008c). Hier wird bereits sichtbar, dass sich die in Frage stehenden Romane als diskursive und kommunikative Akte allgemeinen kulturellen Signifikationspraktiken annähern, indem sie die dort geläufige Integration verschiedener Medien und semiotischer Modi in die Generierung kultureller Bedeutung fiktional-narrativ imitieren und modellieren. 2. Beispiele für multimodale Romane: Fictional Autobiographies Prinzipiell unterliegt der multimodale Roman hinsichtlich der gattungstypologischen Bandbreite keinerlei Einschränkungen, sodass also sowohl der Liebesals auch der Kriminal- oder der historische Roman multimodal sein können. Allerdings ist eine gewisse Nähe dieses Romantypus zur biographischen oder autobiographischen Romanerzählung beobachtbar, wenn auch nicht empirisch belegbar. Für den Literaturunterricht ergibt sich aber daraus ein besonderes Augenmerk für den Identitäts- und den Adoleszenzroman, der die Geschichte der Hauptperson und ihres familiären und sozialen Umfeldes nicht nur verbal, sondern auch, quasi nach Art des Familienalbums, visuell erzählt, 144 Wolfgang Hallet 37 (2008) sodass Begebenheiten und ganze Biographien nicht nur erzählt, sondern auch ‚präsentiert‘ werden. Zudem sind diese Beispiele Indizien dafür, dass sich Identitätsprozesse auch in der Lebenswelt nicht nur auf verbale Narration, sondern zu einem erheblichen Teil auch auf andere Modi und vor allem auf visuelle Repräsentationen und (Selbst-)Darstellungen stützen (vgl. genauer H ALLET 2008a). Darauf soll unten in Teil 3 noch näher eingegangen werden. Für den vorliegenden Zweck wurden Beispiele ausgewählt, die dies besonders eindrücklich belegen, die aber auch, wegen der in ihnen enthaltenen Adoleszenz- und Eltern-Kind-Geschichten, für den schulischen Literaturunterricht besonders interessant sind. Aus Copyright-Gründen können die entsprechenden Beispiele für Buchseiten mit Fotos und Bildern hier leider nicht wiedergegeben, sondern nur - auf offensichtlich eher inadäquate Weise - beschrieben werden. 2.1 Michael O NDAATJE : Running in the Family (1982) Michael O NDAATJE s Roman Running in the Family (1993, zuerst 1982) erzählt die Geschichte von der Reise des Erzählers zurück in sein Heimatland Ceylon auf der Suche nach Erinnerungen an seinen toten Vater, den er kaum kannte. In dieser fiktionalen Autobiographie entsteht die Identität des Erzählers aus einem schmerzhaften archäologischen Prozess des Auffindens von Quellen und Zeugen, die Zeugnis geben können von der Vergangenheit des Erzählers und seiner Familie. Es stellt sich jedoch als unmöglich heraus, aus den verschiedenen Hinweisen, Geschichten und Versionen, die dem Erzähler angeboten werden, eine kohärente Erzählung zu konstruieren. O NDAATJE s Roman setzt sich so nicht nur aus einer Vielzahl von mehr oder weniger autonomen Episoden in Form von Kapiteln zusammen, sondern im Lauf seiner Nachforschungen werden dem Erzähler auch verschiedene Versionen der gleichen Geschichte angeboten, die manchmal sogar als eigenständige Erzählungen mit eigenen Erzählern im Roman enthalten sind. Im Fall von O NDAATJE s Roman jedoch bezieht der Erzähler nicht nur die Erzählungen anderer in seine Ich-Erzählung ein, sondern darüber hinaus gibt es eine Vielzahl anderer Modi und Medien, die im Roman präsentiert und in diese fiktionale Autobiographie einbezogen werden, und zwar durch einen Erzähler, der sich selbst eher als Sammler von Belegen und Hinweisen denn als Geschichtenerzähler sieht: Zeitungsausschnitte, Fotos, Gedichte, Lexikonartikel, eine Karte, Transkriptionen von Dialogen, historische Dokumente und unzählige intertextuelle Referenzen oder Zitate aus literarischen oder historiographischen Werken - all diese Elemente sind in seine Selbst-Erzählung integriert (vgl. N EUMANN 2005: 454-455). Ein Blick auf eines der Fotos, das als zentral für die Rekonstruktion der Familiengeschichte anzusehen ist, kann dieses multimodale Verfahren illustrieren. Das Foto trägt den Titel „What we think of married life“ (O NDAATJE 1993: 163) und zeigt die Eltern des Erzählers als Brautpaar in einem Fotostudio, „soberly dressed“ (ibid.: 161). Doch anstatt in angemessener Weise und Würde für ein Hochzeitsfoto zu posieren, sieht man das Paar mit „hideous faces“; das Gesicht des Vaters zeigt „a groan that is half idiot, half shock“, und seine ganz in weiß gekleidete Mutter „has twisted her lovely features and stuck out her upper lip so that her profile is in the posture of a monkey“ (ibid.: 161). An diesem Visual Culture und Literatur: Multimodale Romane, Literaturunterricht und Literaturdidaktik 145 37 (2008) Foto, eines von mehreren im Roman, lässt sich die Bedeutung visueller Elemente in einer Romanerzählung gut verdeutlichen. Zunächst ist bemerkenswert, dass die bildbezogene Beschreibung des Erzählers eher faktenbezogen und deskriptiv ist; abgesehen von einer kurzen Bemerkung unterlässt er es, eine Interpretation oder Bewertung zum Inhalt oder Stil des Fotos zu geben. Die Deutung (besser: Voraus-Deutung) des Fotos wird der Leserin oder dem Leser überlassen. Ein paar Seiten später, in dem Kapitel, das den gleichen Titel trägt wie das Foto, erfährt der Leser, dass die Mutter sich scheiden ließ, ihren Mann und die Familie verlassen hat und nach England gegangen ist. Was also auf den ersten Blick wie ein humorvoller, ironischer Kommentar zur Institution der Ehe aussieht, antizipiert in Wirklichkeit die düstere Zukunft der Beziehung des frisch vermählten Paares und dessen zweifelnde Vorahnung. Zweitens macht das Bild den Bericht des Erzählers über seine Familiengeschichte in einer Weise authentisch, wie es kein verbaler Text kann: Fotos beglaubigen indexikalisch sowohl die ‚wirkliche‘ Existenz der abgebildeten Personen als auch des Fotografen, der sie aufgenommen hat. Das Hochzeitsfoto teilt also dem Leser mit: Diese Menschen haben wirklich gelebt, so haben die Eltern des Erzählers ausgesehen, und das Foto selbst hat eine Geschichte und einen Urheber. Fotos in Romanerzählungen siedeln also die literarischen Figuren eines Romans ‚sichtbar‘ in einer identifizierbaren historisch-realen Welt an und machen so den Erzähler und den Leser gleichermaßen zu ‚Augenzeugen‘: Beide nehmen die gleiche Rolle eines Betrachters ein und sind mit ein und demselben Bild konfrontiert, das der erzählten Welt der Romanfiguren zugehört. Deshalb kann die Fotografie als eines der Elemente angesehen werden, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lassen (vgl. N EUMANN 2005: 455-456). Drittens kann der holistische, direkte Einfluss eines Bildes auf den Leser kaum durch die verbale Erzählung imitiert oder substituiert werden, etwa durch eine im konventionellen Roman häufig zu findende ekphrastische Beschreibung. Bilder und Fotografien im Besonderen bringen Körperlichkeit, Formen, Aussehen, Proportionen und - beim vorliegenden Hochzeitsfoto besonders wichtig - Posen und Körpersprachen ganz anders und unvermittelter zur Geltung als eine noch so subtile verbale Beschreibung es könnte. Bilder und Fotos sind daher mit modus- und medienspezifischen semiotischen Zuschreibungen verbunden. Die Inszenierung kultureller Praktiken und Rituale ebenso wie der Fotografie selbst als bedeutender, seit ihrer Erfindung allgegenwärtiger kultureller Praxis kann in verbaler Form nicht annähernd adäquat kommuniziert werden. Es sollte deutlich geworden sein, dass ein Bild vollständig in die Romanerzählung integriert sein kann, ohne selbst ein narrative zu sein. Dieses Merkmal trifft auch auf alle anderen Modi und medialen Repräsentationen zu, die in dieser Autobiographie enthalten sind. Dadurch inszeniert der Roman einerseits den Versuch des Erzählers, in den Besitz aller nur möglichen Hinweise und Belege zu gelangen, die die Geschichte seines Vaters und seiner Familie erhellen können. Andererseits bedient sich der Roman dadurch kultureller Praktiken, die auch mit anderen Arten historiographischen und historischen Schreibens verbunden sind, wie man sie von Dokumentationen und nicht-fiktionalen Biographien kennt. Wie ein Historiker auch verlässt der Erzähler sich nicht allein auf mündliche Erzählungen seiner Zeugen, sondern er versucht, empirische Beweise für die Fakten und 146 Wolfgang Hallet 37 (2008) Lebensumstände eines Menschen in allen möglichen medialen und materiellen Formen zu finden. 2.2 Mark Haddon: The Curious Incident with the Dog in the Night-time (2003) Es ist bereits deutlich geworden, dass in multimodalen Romanen ein Teil der Beschreibungen und Charakterisierungen, die normalerweise verbal entfaltet werden und auf die Leserinnen und Leser bei der (Re-)Konstruktion der narrativen Welt angewiesen sind, von nonverbalen Darstellungsmodi übernommen wird. In H ADDON s Roman (H ADDON 2004, zuerst 2003) ist diese Öffnung der Romannarration für andere Symbolsprachen und Darstellungsweisen besonders gut beobachtbar. Der Erzähler Christopher Boone, ein fünfzehnjähriger Junge, der im Glauben an den frühen Tod der Mutter bei seinem Vater aufwächst, ist nämlich kein Sammler und Collagist, der Fundstücke und Artefakte in den Roman einfügt; vielmehr verfügt er selbst über eine Vielzahl anderer Symbolsprachen, die er beständig nutzt, um dem Leser Erlebtes, Gesehenes, Entdecktes und bloß Gedachtes in möglichst authentischer, präziser Form zu vermitteln. Dieser Wechsel vom verbalen zu einem nonverbalen Modus wird regelmäßig mit der Formel „It looked like this“ angekündigt. So kommt es, dass das für rot- oder schwarzbunte Kühe typische Fleckenmuster nicht beschrieben, sondern in Form einer vom Erzähler gefertigten Zeichnung wiedergegeben wird (H ADDON 2004: 176). Ähnliche Verfahren wendet Christopher, dessen quest mit der Suche nach dem Mörder eines Hundes als murder mystery beginnt und mit der Suche nach der Mutter als story of identity endet, bei der Wiedergabe von U-Bahn- Beschilderungen und advertisements, von Lageplänen des eigenen Straßenzuges oder eines Zoos, von Sternbildern und Sitzbezügen an (ibid.: 208-211, 46 und 110, 156-157 und 227): Er rekonstruiert und vermittelt all diese Wahrnehmungen graphisch und ist daher nicht nur Erzähler, sondern auch Grafiker und Designer. In diesem Roman wird darüber hinaus eine weitere wichtige kulturelle Funktion des Visuellen deutlich. Es dient nämlich nicht nur der erzählerischen Vermittlung des Geschehens und der story-world, sondern auch der Darstellung des kognitiven (und emotionalen) Verstehens dieser Welt durch den Erzähler. Der eigene Entwurf eines Sternbildes oder die vollständige Wiedergabe eines Entscheidungsalgorithmus (ibid.: 157 und 162-163) repräsentieren nicht die story-world, sondern die mentalen Modellierungen dieser Welt durch den Erzähler, seine individuellen Weisen des world-making und des Denkens (vgl. genauer H ALLET 2008b). Visualisierungen werden damit zu einem Bestandteil von traditionell eher als verbal-narrativ aufgefassten Identitätserzählungen (vgl. H ALLET 2008a: 48-50), und multimodale Romane integrieren Formen und Modi der Bedeutungszuschreibung in die fiktionale Identitätserzählung, die die entsprechenden lebensweltlichen Modi gewiss adäquater modellieren als verbal-narrative Romanerzählungen. Visual Culture und Literatur: Multimodale Romane, Literaturunterricht und Literaturdidaktik 147 37 (2008) 2.3 Jonathan Safran Foër: Extremely Loud & Incredibly Close (2005) Der Protagonist und Ich-Erzähler dieses Romans ist der neunjährige Oskar, dessen Vater bei dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 ums Leben gekommen ist. Er hat dessen letzte vergehende Worte am Ende einer Serie von Telefonanrufen auf dem Anrufbeantworter anhören müssen. Da sein Vater offenbar spurlos in den Asche- und Trümmerbergen verschwunden ist, plagt den Jungen auf traumatische Weise das Nichtwissen darüber, wie sein Vater zu Tode gekommen ist. In seinem Kopf spielt er in mentalen Bildern alle möglichen Todesszenarien wieder und wieder durch, und er weiß, dass diese Todesbilder in seinem Kopf nicht verschwinden werden, wenn und solange er nicht ein gültiges Bild vom Tod seines Vaters findet. Diese inneren Bilder erklären, warum der Junge ein geradezu obsessiver Sammler von Bildern und anderen visuellen Artefakten, wie z.B. einer bunt beschriebenen Seite eines pad of paper aus einem art supply store, Visitenkarten oder screen shots (F OËR 2005: 45-49, 158-159, 241) ist und warum er seine quest durchgehend fotografisch dokumentiert durch die Aufnahme ‚merk-würdiger‘ Details, wie z.B. eines Türknopfes oder eines Elefantenauges auf einem Poster. Auf der Suche nach dem letztgültigen Bild stößt er im Internet auf eine Videosequenz, die den mittlerweile kulturell ikonisierten falling man zeigt (vgl. H OTH 2006), einen Menschen, der sich, wie viele andere, nach dem Einschlag der von den Terroristen gesteuerten Flugzeuge aus einem der Twin Towers stürzt, um dem Flammeninferno zu entgehen. Im Hinblick auf das Vordringen der visual culture in die Romanliteratur ist das in unserem Zusammenhang eigentlich Interessante, dass der Junge an die erlösende Kraft des einen Bildes glaubt und daran, dass nur dieses Bild ihm Verstehen ermöglicht und Sinn zu erlangen verspricht. Denn Oskar entwickelt eine Vision vom Tod seines Vaters in einem sehr wörtlichen Sinne: Er erträumt sich eine andere Realität, in der Menschen nicht von Türmen herunterfallen, sondern statt dessen, nach der Art rückwärts laufender Filmbilder, vom Boden aus nach oben in ihre Büros fliegen, sich an ihren Schreibtisch setzen und zu arbeiten beginnen. Im Buch stellt diese Vision in Gestalt eines flipbook mit einer Serie von Standbildern aus dem Internetvideo das Ende des Romans dar. Der Leser ‚liest‘ dieses Ende der Geschichte also, indem er selbst das Daumenkino in Gang setzt und so den imaginierten Vater des Jungen zum Leben erweckt. So wird in F OËR s Roman die possible world des schwerkraftüberwindenden Aufwärtsfliegens nicht nur in Gestalt von Bildern erzählt, sondern dies geschieht auch durch die Wiederbelebung einer der ältesten Techniken des bewegten Bildes, des Daumenkinos. Gleichzeitig ist diese flipbook-Geschichte die Manifestation der Sinnestäuschung, die alle Film-Medien (movie pictures! ) benutzen. Durch die Einführung dieser visuellen Technologie des bewegten Bildes in die verbale Kunst des Geschichtenerzählens wird also zugleich die Authentizität des Bildes in Frage gestellt: Die Bewegung repräsentiert nicht die Wirklichkeit, sondern ist ein Resultat der Bildkunst, der motorischen Aktivität des Betrachters und der Sinnestäuschung. Gleichzeitig wird das story-telling-Potenzial von Bildern bezeugt und die narrative Macht des Wortes in Frage gestellt. Dadurch werden die Sinnsuche des Individuums und die Konstruktion narrativer Bedeutung als ein multi- 148 Wolfgang Hallet 37 (2008) modaler Prozess repräsentiert, so dass der multimodale Roman auch als ein kulturelles Modell der Multimodalität von Prozessen des meaning making und der Sinnstiftung angesehen werden kann. Insofern ist der Roman eine Parabel auf das visuelle Zeitalter: Wir können nur verstehen, wenn wir Bilder verstehen und Bilder finden, in denen wir unseren Gefühlen und unserem Denken Ausdruck verleihen können. Oskar steht damit stellvertretend für eine ganze Generation junger Menschen, für die Bilder sinnkonstituierende und bedeutungstragende Texte in ihren Alltagsdiskursen darstellen. 2.4 Multimodale Fictional Autobiographies als Cultural Templates Bereits die wenigen Romanbeispiele sollten exemplarisch verdeutlicht haben, worin sich multimodale fictions of identity (zum Begriff vgl. N EUMANN 2008: 57-60) von konventionellen Romanerzählungen unterscheiden: Sie beziehen non-verbale und nicht-narrative Darstellungsmodi und andere symbolische Repräsentationssysteme in die Narration ein und nutzen sie zur narrativen Konstruktion der story-world. Darüber hinaus konstituieren diese anderen Modi und Medien auch die Identität des homodiegetischen Erzählers dieser fiktionalen Autobiographien mit. Wenn es daher zutrifft, dass „on the textual level, novels create new models of narrative and identity“ (ibid.: 58), dann können multimodale fictional autobiographies auch als Modelle lebensweltlicher Identitätserzählungen verstanden werden, in denen Individuen ebenfalls auf die unterschiedlichsten semiotischen Ressourcen, vor allem aber auf visuelle Darstellungsmodi zurückgreifen und visuelle images auch zur Darstellung und zum Ausdruck ihres Selbst benutzen. Dies ist ein starkes Argument für ihre Behandlung im Englischunterricht, denn dann wären multimodal fictions of identity sowohl models von als auch templates, also generische Muster, für die lebensweltlichen Selbsterzählungen junger Menschen. 3. Multimodale Romane im Literaturunterricht Die vorgestellten Romane und zahlreiche weitere Exemplare dieser Romanart sind, wie bereits dargestellt, wegen ihrer neuartigen Narration von Identitätsprozessen repräsentativ für allgemeinere kulturelle Prozesse und Praktiken der Semiosis, die sich als generelle Umorientierung, weg von der alleinigen Nutzung (und Fokussierung) der menschlichen Sprache, hin zu vielfältigen anderen Modi und Medien beschreiben und mit K RESS / VAN L EEUWEN (2001) in folgender Weise auf den Punkt bringen lassen: [M]eaning is made in many different ways, always, in the many different modes and media which are co-present in a communicational ensemble. This entails that a past (and still existent) common sense to the effect that meaning resides in language alone - or, in other versions of this, that language is the central means of representing and communicating even though there are ,extralinguistic‘, ,para-linguistic‘ things going on as well - is simply no longer tenable, that it never really was, and certainly is not now. (ibid.: 111) Visual Culture und Literatur: Multimodale Romane, Literaturunterricht und Literaturdidaktik 149 37 (2008) Im Licht dieser allgemeineren kulturellen Diagnose kommt multimodalen fiktionalen Autobiographien ein besonderer Wert zu, da die Lernenden in ihnen eigene kulturelle und semiotische Praktiken gespiegelt finden, diese verstehen lernen und reflektieren und schließlich als Muster eigener Selbsterzählungen benutzen können. Diese Praxis der Kombination verschiedener Modi und Medien in Selbsterzählungen liegt näher, als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Denn tatsächlich ist die MySpace-Generation längst zu identitätsstiftenden Praktiken der Selbst-Konstruktion, -Darstellung und -Erzählung übergegangen, in der die Sprache mit zahlreichen anderen Modi und Medien kombiniert wird, insbesondere mit Bildern, aber auch mit Tönen, Farben und graphischen Designs von Schriften und ganzen Web-Seiten. Dies wiederum ist nicht bloß ein kommunikationstheoretischer, sondern auch ein sozialpsychologischer Befund: The Internet, in general, and MySpace, in particular, provide a unique forum for adolescent identity development. […] MySpacers supply multiple photographs of themselves and their friends; selfdescription of likes and dislikes, evidence of their tastes in fashion, music, and other media; results of personality quizzes; blogs expressing their views, ideals, and values; and a host of other clues to their adolescent identity. (R OSEN 2007: 64) Aus diesem Grund stellt sich die Frage nach den für das Lesen und Verstehen multimodaler Romane erforderlichen Kompetenzen - literacies - als besonders dringlich dar, denn es handelt sich genau um die literacies, die auch in der Lebenswelt für das Verstehen und aktive Gestalten multimodaler kommunikativer Akte und bedeutungsgenerierender Prozesse erforderlich sind. Sie lassen sich hier nur in einiger Vorläufigkeit skizzieren und charakterisieren, denn auch in der Literaturwissenschaft und in der Narratologie steht die Erforschung der Integration von Bildern und anderen Modi in die Romanerzählung erst am Anfang und ist dort ebenso auf interdisziplinäre Expertise angewiesen wie in der Didaktik (vgl. Teil 4). Auch beschränken sich die folgenden Überlegungen auf visuelle Darstellungen und sparen andere Symbolisierungen - wie z.B. fachsprachliche der Mathematik oder der Geographie - aus, um das Feld einigermaßen übersichtlich zu halten. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das verstehende Lesen von integrierten Bild- Text-Ensembles zwar komplex, in dieser Hinsicht zugleich aber kognitiv, interpretativ und diskursiv äußerst anregend und für den Fremdsprachenunterricht nicht neu ist. Es sei hier z.B. daran erinnert, dass Lothar B REDELLA die Begriffe der Prozessorientierung und der Schüleraktivierung zuerst an einer diaphor genannten Text-Bild-Kombination entwickelt hat (B REDELLA 1987; vgl. H ALLET 2002: 25-26). Auch andere prozessorientierte Ansätze haben wesentlich auf die kognitiv und sprachlich anregende Kraft von Text-Bild- Kombinationen rekurriert (vgl. z.B. G IENOW / H ELLWIG 1996). Nicht zuletzt aber lässt sich die Kombination verschiedener Modi und Medien in einem einzigen kohärenten Romantext als Modellierung des komplexen Zusammenspiels vielfältiger Texte und Medien in kulturellen Zusammenhängen auffassen, auf das der Fremdsprachenunterricht mit ähnlichen Modellierungen einerseits reagiert und andererseits vorbereitet (vgl. H AL - LET 2002: 56-101). Daher handelt es sich im Grunde um genau jene wertvollen multitextuellen Arrangements, die für die Entwicklung intertextueller, intermedialer und transmodaler Bedeutungskonstruktion im Fremdsprachenunterricht erforderlich sind. 150 Wolfgang Hallet 37 (2008) Was bedeutet das im Einzelnen für Text-Bildrelationen im multimodalen Roman? Zunächst einmal liegt es auf der Hand, dass die im Roman enthaltenen Bilder und visuellen Darstelllungen ‚gelesen‘, verstanden und interpretiert werden müssen, eben so, wie verbale Textsegmente auch. Dieses Lesen visueller Texte ist für sich genommen bereits eine hohe Anforderung. Denn zum einen müssen Bilder hinsichtlich ihres Inhaltes in einem Akt kulturellen Sehens dekodiert und verstanden werden. Damit werden die kulturellen Implikationen der dargestellten Menschen und Objekte, ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen, ihre Standorte und ihre kulturellen Kontexte entschlüsselt. Visuelle Darstellungen müssen aber auch bildästhetisch gelesen werden können, damit die jeweils spezifischen Darstellungsweisen und ästhetischen Arrangements der Bildzeichen erfasst werden. Darüber hinaus lässt sich am Beispiel des falling man aus dem Roman F OËR s, aber auch des Hochzeitsfotos in Running in the Family leicht einsehen, dass auch Bilder, um verstanden zu werden, der historischen und kulturellen Kontextualisierung bedürfen (vgl. H ALLET 2008d: 177-179). Zusammengenommen lassen sich das kulturelle, das bildästhetische und das kontextualisierende Sehen als visual literacy definieren. Zweitens müssen in einem Akt der intermedialen Relationierung die jeweiligen Text- Bild-Relationen im multimodalen Roman erkannt und verstanden werden. Sie können der vielfältigsten Art sein und hier nicht im Einzelnen beschrieben werden; stattdessen muss hier auf die systematischere Beschreibung an anderer Stelle (H ALLET 2008a) verwiesen werden. Es gibt Bilder und Fotos, auf die im verbalen Fließtext keinerlei Bezug genommen wird, sodass die Konstruktion einer Text-Bild-Relation vollständig dem Leser überlassen wird; häufiger jedoch haben im multimodalen Roman Fotografien und andere Bilder sehr konkrete Bedeutungen und Funktionen in der Erzählhandlung, ja sogar eine eigene Geschichte: Sie lassen sich, oft über mehrere diegetische Ebenen hinweg, einzelnen Figuren, Situationen und Begebenheiten zuordnen und bilden oft, wie man am Beispiel von O NDAATJE oder F OËR erahnen kann, sogar den Kern, um den die Romanerzählung kreist. Drittens - und das ist die eigentliche Herausforderung an die Leserinnen und Leser multimodaler Romane innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers - muss auf der Grundlage der Deutungen einzelner verbaler und nonverbaler, vor allem visueller Elemente des Romans und ihrer vielfältigen Beziehungen untereinander zunächst ein Gesamtnarrativ erzeugt werden. Dem Leser oder der Leserin obliegt es also letztlich, aus den verschiedenen Modi und Medien ein kohärentes Textganzes zu konstruieren, das dann den eigentlichen Gegenstand weiterführender Deutungen und Interpretationen darstellt. Lesen ist also ein transmodaler Akt, in dem narrative Bedeutung aus einer kognitiven Synthese der symbolischen Repräsentationen der verschiedensten Art entsteht. In dieser Hinsicht ähnelt das Lesen eines multimodalen Romans dem Lesen eines Hypertextes (vgl. H ALLET 2002: 102-132). Man erkennt, dass die Anforderungen an das Lesen multimodaler Romane der Komplexität dieser Narrative entsprechen und eine Menge Prozesse und Fähigkeiten ins Spiel bringen, die beim Lesen konventioneller Romane gar nicht vorkommen. Erkennbar ist aber auch, dass das Lesen eines Romans damit den interpretativen und bedeutungserzeugenden Tätigkeiten sehr nahe kommt, die von Individuen auch in lebensweltlichen Visual Culture und Literatur: Multimodale Romane, Literaturunterricht und Literaturdidaktik 151 37 (2008) Kontexten ausgehen und verlangt werden. Darin liegt der eigentliche didaktische Wert des multimodalen Romans. 4. Neue Herausforderungen für die Literaturdidaktik: Intermediales und transmodales Lesen Multimodale Romane erinnern uns daran, dass auch im Fremdsprachenunterricht Lernende wie Lehrende lernen müssen, Bilder zu ‚lesen‘, sich in Bildern auszudrücken, ihr Zusammenspiel mit anderen Texten und Modi zu verstehen und zu nutzen und sie als Elemente größerer Diskurse zu begreifen: Kulturelle Bedeutung entsteht aus dem komplexen Zusammenspiel von Bildern, Texten, Tönen, Farben und - natürlich - kulturellen Praktiken. Im multimodalen Roman kulminieren damit Anforderungen an das fremdsprachliche Lehren und Lernen, die uns gar nicht so unbekannt sind, die aber im Hinblick auf die von den Lehrenden wie von den Lernenden zu erwerbenden Kompetenzen noch nicht in ihrer Tragweite erkannt sind. Das beginnt zunächst mit der Öffnung des Kommunikationsbegriffs hin zu einem Verständnis von Diskurs, in dem kulturelle Bedeutung aus dem Zusammenspiel visueller, verbaler und anderer symbolischer Kulturen resultiert. Mitspieler in solchen Diskursen - also die Lernenden - müssen Kompetenzen in diesen verschiedenen Symbolsprachen erwerben und sie lebensweltlich nutzen können. Die Fremdsprachendidaktik muss sich also, wie es sich gegenwärtig immer eindringlicher andeutet, Fragen der visual culture und des Erwerbs von visual literacy widmen und Konzepte für deren Integration in das unterrichtliche Handeln entwickeln (vgl. dazu z.B. die Beiträge in S EIDL 2007 sowie von B LELL / H EBLER , K OLLENROTT und H ALLET in M ÜLLER -H ARTMANN / S CHOCKER - VON D ITFURTH 2008). Zweitens müssen die mit der intermedialen Relationierung von Bildern und Texten verbundenen kognitiven und diskursiven Anforderungen und Prozesse besser erforscht, verstanden und didaktisch modelliert werden. Die Grundlage dafür bildet die Erkenntnis, dass Narrativität als kognitives Schema medienunabhängig ist und dass Bilder daher in narrative Texte und ihre Deutung überführt werden können und umgekehrt (vgl. W OLF 2002). Die dazu notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten sind im Fremdsprachenunterricht seit langem erfordert, z.B. in der täglichen Arbeit mit mannigfach bebilderten Lehrwerken, aber nie systematisch berücksichtigt worden (vgl. dazu H ALLET 2006). Es darf aber nicht, wie es oft geschieht, unterstellt werden, dass die Transformation von Bildern in fremdsprachliche Texte unproblematisch ist und der Intuition der Lernenden überlassen werden kann. Vielmehr handelt es sich um eine zu erwerbende und einzuübende Kompetenz, die auch, wie oben dargestellt, für die Identitätsprozesse junger Menschen und für die Reflexivität kulturellen Handelns essenziell ist. Dies impliziert, dass in der Lehrerbildung entsprechende didaktische Kompetenzen ausgebildet werden müssen. Drittens muss angesichts der Multimodalität von Erzähltexten literaturdidaktisch das Verständnis vom Leseprozess medial und modal geöffnet und rekonzeptualisiert werden. 152 Wolfgang Hallet 37 (2008) Denn textuelle Bedeutung wird hier transmodal konstitutiert, und die herkömmliche Interpretation, die sich auf den in der menschlichen Sprache verfassten Erzähltext verlässt, greift zu kurz und ist dem multimodalen Text inadäquat. Dem multimodalen Roman entspricht die transmodale Textinterpretation, in die neben den Bilddeutungen auch die Deutung anderer textueller Segmente wie z.B. enzyklopädischer Sachtexte, Briefe, mathematischer Problemlösungen (prominent in H ADDON 2004) oder kartographischer Abbildungen Eingang finden. Hierin liegen erhebliche, noch nicht bearbeitete Herausforderungen für die Literaturdidaktik, die hinsichtlich des Zusammenspiels von Bild und Wort durch die Anknüpfung an die Errungenschaften der Bilderbuchdidaktik und der Didaktik des Filmverstehens angegangen werden können. Für die Lernenden stellen sich die Anforderungen vielleicht als gar nicht so ungewohnt dar, weil sie vermutlich die Nähe der Erzählweise multimodaler Romane zu ihren eigenen signifying practices intuitiv erfassen. In Internetforen und Hypertexten, aber auch in Illustrierten und Magazinen sind multimodale Designs allgegenwärtig; und in scrap books und auf eigenen Webseiten, in Internetforen und blogs, in Selbstbeschreibungen und alltäglichen self-narratives beziehen junge Menschen neben der menschlichen Sprache wie selbstverständlich andere Modi und Medien ein. Von daher mögen sie die Erzählweise multimodaler Romane als geradezu natürlich und ‚normal‘ empfinden, während literaturwissenschaftlich gebildete Lehrende vornehmlich deren Innovationsgehalt und die damit verbundenen ungewohnten Anforderungen wahrnehmen. Diesen ‚Vorsprung‘ der multimodal sozialisierten Internetgeneration gilt es in der Literaturdidaktik und im Literaturunterricht zu nutzen. Literatur B REDELLA , Lothar (1987): „Die Struktur schüleraktivierender Methoden. Überlegungen zum Entwurf einer prozeßorientierten Literaturdidaktik“. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 34.3, 233-248. F OËR , Jonathan. Safran (2005): Extremely Loud & Incredibly Close. London: Penguin. G IENOW , Wilfried / H ELLWIG , Karlheinz (1996): „Prozeßorientierung - ein integratives fremdsprachendidaktisches Konzept“. In: Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 30 (H. 21), 4-11. H ADDON , Mark (2004) [2003]: The Curious Incident of the Dog in the Night-time. London: Vintage. 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