eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 38/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
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2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2009
381 Gnutzmann Küster Schramm

Bildungsrelevante Inhalte beim fremdsprachlichen Lernen und interkulturellen Verstehen

2009
Lothar Bredella
* Korrespondenzadresse: Prof. (em.) Dr. Lothar B REDELLA , Justus-Liebig-Universität Gießen, Anglistik, Teaching English as a Foreign Language, Otto-Behaghel-Str. 10B, 35394 G IE ß EN . E-mail: Lothar.Bredella@anglistik.uni-giessen.de Arbeitsbereiche: Literaturtheorie, Literaturdidaktik, Interkulturelles Verstehen. 38 (2009) L OTHAR B REDELLA * Bildungsrelevante Inhalte beim fremdsprachlichen Lernen und interkulturellen Verstehen Abstract. In the last decades foreign language learning has neglected content for various reasons. One of them is the concentration on learning strategies. Yet successful foreign language learning and intercultural understanding need content that is more than mere material for language acquisition. What kind of content, though, is needed to make it educationally significant? In the first part of my paper I argue in favour of content a) that enables students to make an experience that changes their world views, b) that encourages them to act creatively, and c) that addresses their values and motivates them to reflect on them. In the second and third part of my paper I shall refer to a teaching unit on the Civil Rights Movement in the United States that provides such a content. 0. Vorbemerkungen Wiederholt wird auf die Geringschätzung der Inhalte im Fremdsprachenunterricht hingewiesen. In der ersten Leitfrage zur 29. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts (2009) ist die Rede von der „inhaltsleeren Sackgasse“ des Fremdsprachenunterrichts. Gegen diesen Vorwurf kann man einwenden, dass beim Fremdsprachenlernen zwangsläufig Inhalte ins Spiel kommen, so dass ein Fremdsprachenunterricht ohne Inhalt gar nicht möglich ist. Auch wenn diese Entgegnung richtig ist, bleibt die Frage offen, welche Bedeutung den Inhalten zukommt. Werden sie nur zur Erläuterung herangezogen oder geht von ihnen eine herausfordernde Wirkung aus, die zum Gebrauch der Fremdsprache motiviert und bildungsrelevante Erfahrungen ermöglicht? Wenn man sich unter dieser Fragestellung dem Fremdsprachenunterricht nähert, erscheint die Ausrichtung an Lernstrategien die Tendenz zu fördern, Inhalte nur als Übungsmaterial zu betrachten. Im Mittelpunkt stehen Lernstrategien, die man mit beliebigen Inhalten üben und erwerben kann, wobei sich die Frage, ob sie dem jeweiligen Gegenstand angemessen sind oder ihn verfehlen, nicht stellt. Ich will diese Auffassung von Lernstrategien an einem Beispiel aus dem einflussreichen Buch von Rebecca L. O XFORD Language Learning Strategies verdeutlichen. Die Lernstrategie „directed attention“ und „selective attention“ kann mit folgenden Inhalten erworben werden: In reading, Emily decides to pay close attention to the way characters in her German short story bring conversations to a close and how they use polite phrases. In reading a Tolstoy novel in 124 Lothar Bredella 38 (2009) Russian, Cloë focuses on the names and tries to remember who’s who - sometimes a tall order! Bertolt decides to focus on the way in which the French past tense forms are used in front-page articles in Le Monde (O XFORD 1990: 154). Sicherlich kann man eine deutsche Kurzgeschichte daraufhin lesen, wie die Charaktere eine Unterhaltung beenden, und bei einem Roman von Tolstoi auf die Namen achten, um sie sich einzuprägen, aber für den Literaturdidaktiker reicht eine solche Begründung nicht aus. Hier stellt sich die Frage, wozu wir literarische Texte lesen und worin ihr ästhetisches und existenzielles Potenzial liegt. Es geht um ihren Inhalt bzw. Gehalt. Erst wenn man diese Fragen beantwortet, lässt sich auch die Frage stellen, welche Methoden und Strategien für die Lektüre und Interpretation literarischer Texte angemessen sind. Bei O XFORD stellt sich diese Frage nicht, weil Inhalte immer nur als Übungsmaterial in Erscheinung treten und von ihnen keine Herausforderungen ausgehen, die zu einer Reflexion über die eingesetzten Strategien führen könnten. Diese Kritik richtet sich natürlich nicht gegen Lernstrategien generell, sondern nur gegen ihre Verselbstständigung gegenüber den Inhalten. Bei O XFORD entsteht der Eindruck, dass Lernende selbstbestimmt handeln, wenn sie über möglichst viele Lernstrategien verfügen und somit ihren Gegenstand beherrschen. Eine solche Auffassung von Selbstbestimmung ist jedoch, wie wir sehen werden, unzulänglich. Zur Selbstbestimmung kommt es nur, wenn wir uns von Inhalten irritieren und herausfordern lassen. Die Geringschätzung von Inhalten, dem sog. Input, wird bei den von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten Bildungsstandards besonders deutlich. Der Fremdsprachenunterricht soll effektiver werden, indem die Aufmerksamkeit vom Input auf den Output gelenkt wird: In der Expertise zu den Bildungsstandards heißt es: Sie [die Bildungsstandards] legen fest, welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben haben sollen. Die Kompetenzen werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können (BMBF 2003: 9). Es ist sicherlich erstrebenswert, die erwarteten Kompetenzen möglichst präzise zu beschreiben und zu überprüfen. Aber lässt sich Bildung überhaupt mit den Begriffen In- und Output erfassen, und kann man sie so standardisieren, dass sie outputorientiert in Tests überprüft werden kann? In der Expertise wird zwar gesagt, dass Kompetenzen weiterhin auf Bildungsziele bezogen sein sollen, aber es wird sogleich hinzugefügt, dass Bildungsziele oft utopisch und unrealisierbar seien, so dass bei ihnen „ein schreiendes Missverhältnis“ (ibid.: 62) zwischen Anspruch und Realität besteht. Das führt zu einem ungelösten Widerspruch innerhalb der Bildungsstandards. Einerseits soll nicht auf Bildungsziele verzichtet werden, und andererseits soll nur zugelassen werden, was mit Hilfe von Leistungserhebungen und Testverfahren überprüft werden kann. L ADENTHIN / R EKUS weisen in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Band Werterziehung als Qualitätsdimension von Schule und Unterricht darauf hin, dass Bildungsstandards dazu führen, dass die Auseinandersetzung mit Werten und Wertentscheidungen ausgeklammert wird, weil sie nicht outputorientiert erfasst werden kann: Bildungsrelevante Inhalte beim fremdsprachlichen Lernen und interkulturellen Verstehen 125 1 Dass die Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts an der kommunikativen Kompetenz auch zu anderen Zielsetzungen führen kann, zeigen die Beiträge in dem von Michael L EGUTKE (2008) herausgegebenen Band Kommunikative Kompetenz als fremdsprachliche Vision. 38 (2009) Gerade die neue Konzentration der Schulen auf formale Kompetenzen, auf Bildungsstandards, ausgelöst durch Lernstandserhebungen und zentrale Prüfungen, führen dazu, dass die Erziehungsaufgabe vernachlässigt wird. Kann man den Erfolg von Erziehung am Output messen? (L ADEN - THIN / R EKUS 2008: 2) Problematisch ist an den Bildungsstandards nicht, dass Leistungen überprüft werden, sondern ihre Konzeption von Bildung, die Leistungen von Inhalten trennt und sie standardisiert und damit die Auseinandersetzung mit ihnen ausblendet. Die Bildungsstandards im Fremdsprachenunterricht beziehen sich auf den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen, der ebenfalls die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf formale Kompetenzen lenkt. Wie Manfred R AUPACH ausführt, verweist er zwar auf weitgefasste Erziehungsbzw. Bildungsziele, aber es kommen „fast ausschließlich linguistisch definierte Kategorien zum Tragen“, so dass „ganze Bereiche, die für das schulische Fremdsprachenlernen relevant sind, wie etwa die Literatur oder die Landeskunde, nur in Form allgemeiner Kompetenzbeschreibungen vorkommen“ (R AU - PACH 2003: 160). Michael B YRAM und Veronica E SARTE -S ARRIES (1991) zeigen auf, dass eine Trivialisierung der Inhalte des Fremdsprachenunterrichts mit der Begründung des „Fremdsprachenunterrichts für alle“ nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt. Wie sollte man diesen Unterricht begründen? Die alte Begründung, dass Fremdsprachenlernen dazu befähigen soll, die großen Texte der fremden Kultur zu lesen und an Diskursen über sie teilzunehmen, schien nicht mehr möglich. Da bot sich unter den veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg (zum ersten Mal in der Geschichte konnten breite Schichten ins Ausland reisen) als neue Begründung an, Schüler darauf vorzubereiten, dass sie die zukünftigen Situationen als Touristen sprachlich bewältigen können. Das hatte zur Folge, dass stark ritualisierte Sprechakte wie nach dem Weg fragen, eine Fahrkarte kaufen, ein Zimmer reservieren in den Mittelpunkt gerückt wurden. In diesem Konzept der kommunikativen Kompetenz als oberstem Lernziel des Fremdsprachenunterrichts liegt nach B YRAM und S ARTE -S ARRIES eine Auffassung von Sprache als „language for survival“ zugrunde. 1 Die neue Begründung des Fremdsprachenunterrichts hatte auch Auswirkungen auf die Landeskunde. Die Aufmerksamkeit wurde nicht länger auf bedeutende historische Ereignisse, sondern auf Sehenswürdigkeiten für Touristen gelenkt. Literarische Texte sind im Rahmen dieser Begründung irrelevant, weil Touristen selten in die Situation kommen werden, über literarische Texte in der Fremdsprache zu reden. Für B YRAM und E SARTE -S ARRIES ist es von entscheidender Bedeutung, an welchem Bild des Lerners sich der Fremdsprachenunterricht orientiert. Deshalb ändern sich Ziele und Inhalte des Fremdsprachenunterrichts, wenn er sich nicht länger am Touristen, sondern am Migranten ausrichtet. Mit dieser Veränderung hängt auch zusammen, dass die kommunikative durch die interkulturelle Kompetenz als oberstem Lernziel ersetzt wurde, 126 Lothar Bredella 2 Vgl. zur Diskursfähigkeit H ALLET (2007, 2008) und die Diskussion um Inhalte im Fremdsprachenunterricht in dem von B REDELLA / H ALLET (2007) herausgegebenen Band Literaturunterricht, Kompetenzen und Bildung. 3 Ähnlich wie bei F RANKFURT gehen nach D EWEY Werte aus der kritischen Reflexion unserer Wünsche hervor. Er unterscheidet zwischen dem, was faktisch „desired“ wird und dem, was der Handelnde nach einer kritischen Reflexion als wünschenswert („desirable“) betrachtet (s. J OAS 1999: 169). 38 (2009) weil Migranten in einer ganz anderen Weise als Touristen an der fremden Kultur interessiert sind. Sie wollen an den Diskursen in der fremden Kultur teilnehmen. Was für Migranten gilt, kann aber generell als Ziel für den interkulturell ausgerichteten Fremdsprachenunterricht gelten. Bildung besteht in der Kompetenz, an wichtigen Diskursen in der fremden und eigenen Kultur teilnehmen zu können. Auf die Bedeutung der Diskursfähigkeit als einem wesentlichen Lern- und Erziehungsziel im Fremdsprachenunterricht hat Wolfgang H ALLET nachdrücklich hingewiesen und damit auch die Diskussion um Inhalte im Fremdsprachenunterricht neu belebt. 2 In Teil 2 und 3 werde ich die Aufmerksamkeit auf Diskurse innerhalb der Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 1950er und 1960er Jahren lenken. Diese Diskurse sind sowohl für das Verständnis der USA als auch für das Amerikabild der Deutschen von entscheidender Bedeutung und regen zu einer Reflexion über das eigene Selbst- und Weltverständnis an. Bevor ich mich der Unterrichtseinheit zuwende, werde ich in Teil 1 aufzeigen, was bildungsrelevante Inhalte kennzeichnet. 1. Merkmale bildungsrelevanter Inhalte In einem viel beachteten Essay „Freedom of the will and the concept of the person“ stellt sich Harry G. F RANKFURT die Frage, was wir unter einer Person verstehen. Nach seiner Sicht unterscheiden sich Menschen von Tieren dadurch, dass sie nicht nur Wünsche haben, sondern bestimmte Wünsche haben wollen bzw. nicht haben wollen. Sie nehmen zu Wünschen Stellung und bewerten sie. Daher haben sie nicht nur „first-order“, sondern auch „second-order desires“: Besides wanting and choosing and being moved to do this or that, men may also want to have (or not to have) certain desires and motives. They are capable of wanting to be different, in their preferences and purposes, from what they are. Many animals appear to have the capacity for what I shall call ‚first-order desires‘ or ‚desires of the first order‘, which are simply desires to do or not to do one thing or another. No animal other than man, however, appears to have the capacity for reflective self-evaluation that is manifest in the formation of second-order desires (F RANKFURT 2007: 12). 3 Die hier von F RANKFURT skizzierte Situation scheint mir entscheidend für eine angemessene Auffassung von Bildung. Der Mensch ist nicht nur ein Bündel von Kompetenzen, sondern entwickelt eine Identität, indem er sich zu ihnen in Beziehung setzt und sie bewertet. Er besitzt „the capacity for reflective self-evaluation“, die es in Bildungsprozessen zu stärken gilt und die nicht outputorientiert getestet werden kann. Insofern ignorieren die Bildungsstandards, was wesentlich für Bildung ist. In Taking Ourselves Bildungsrelevante Inhalte beim fremdsprachlichen Lernen und interkulturellen Verstehen 127 38 (2009) Seriously. Getting It Right führt F RANKFURT aus, wie bedeutsam die Bewertungen unserer Gefühle und Einstellungen für unsere Identität und unser Selbst- und Weltverständnis sind: Taking ourselves seriously means that we are not prepared to accept ourselves just as we come. We want our thoughts, our feelings, our choices, and our behavior to make sense. We are not satisfied to think that our ideas are formed haphazardly, or that our actions are driven by transient and opaque impulses or by mindless decisions. We need to direct ourselves - or at any rate to believe that we are directing ourselves - in thoughtful conformity to stable and appropriate norms. We want to get things right (F RANKFURT 2006: 2). Zum menschlichen Selbstverständnis gehört die Einstellung, dass man die Dinge richtig machen will. Daraus ergibt sich auch der Streit darüber, was richtig ist. Mit dieser Einstellung hängt aufs engste zusammen, dass wir unsere Situationen, in denen wir stehen, und die damit zusammenhängenden Gedanken, Wünsche und Emotionen interpretieren. Der Mensch ist in den Worten von Charles T AYLOR „a self-interpreting animal“ (T AYLOR 1999: 45). Diese Fähigkeit zur Interpretation, um den Sinn von Situationen zu verstehen, muss Bildung in den Mittelpunkt rücken. Hier liegt auch der Unterschied zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Naturwissenschaftler können ihre Gegenstände von außen beschreiben und gesetzmäßige Zusammenhänge über sie aufstellen. Sie müssen nicht darauf achten, wie diese Gegenstände sich selbst verstehen. Der Stein, der fliegt, stellt keine Theorie über sein Fliegen auf. Kulturwissenschaftler müssen jedoch beachten, wie Menschen sich selbst verstehen und wie sie ihre Handlungen interpretieren. Menschen werden nicht nur von Wünschen erster Ordnung beherrscht, sondern entwickeln Wünsche zweiter Ordnung. Das ist die Voraussetzung für Freiheit und Selbstbestimmung. Um über Wünsche und Gefühle erster Ordnung reflektieren zu können, muss man sie artikulieren können. Deshalb ist diese Kompetenz ein wesentliches Moment von Bildung. Damit tritt die expressive Sprachfunktion in den Vordergrund, die besondere Anforderungen stellt. Wünsche und Gefühle liegen in unserem Inneren nicht einfach vor, so dass wir sie nur in Worte fassen müssen. Sie sind oft diffus und entziehen sich einer eindeutigen Festlegung. Insofern ist der Versuch, sie in Worte zu fassen, ein kreativer Akt, bei dem sich Spielräume für Interpretationen, wie T AYLOR ausführt, eröffnen: „Much of our motivation - our desires, aspirations, evaluations - is not simply given. We give it a formulation in words or images. Indeed, by the fact that we are linguistic animals, our desires and aspirations cannot but be articulated in one way or another“ (ibid.: 36). Das bedeutet jedoch nicht, wie einige postmoderne Denker behaupten, dass Gefühle erst entstehen, wenn wir sie artikulieren, so dass wir selbst darüber entscheiden können, was wir fühlen wollen. Eine solche Auffassung verfehlt, dass sich Gefühle wie auch Emotionen aus der Interaktion mit der Welt ergeben, die wir nicht unter Kontrolle haben. Deshalb können Interpretationen unserer Gefühle und Emotionen mehr oder weniger erhellend sein: „There are more or less adequate, more or less truthful, more self-clairvoyant or self-deluding interpretations“ (ibid.: 38). An diesen Überlegungen wird deutlich, wie wichtig die expressive Sprachfunktion ist. In Herders Sprachauffassung steht sie im Mittelpunkt. Sie bringt etwas zur Darstellung, was erst voll erkennbar wird, indem es 128 Lothar Bredella 38 (2009) artikuliert und vergegenwärtigt wird. Deshalb kann J OAS über die Sprachauffassung Herders sagen: „Der sich ausdrückende Mensch wird selbst vielmehr von seinem Ausdruck immer wieder überrascht und findet den Zugang zu seinem ‚Innenleben‘ erst durch eine Reflexion auf das eigene Ausdrucksgeschehen“ (J OAS 1996: 119). Der sich ausdrückende Mensch steht jedoch nicht nur für sich selbst, sondern wendet sich auch an andere, so dass die expressive Sprachfunktion auf die appellative bezogen ist. Wir wollen andere von unseren Interpretationen überzeugen. T AYLOR greift die Unterscheidung zwischen „first-order“ und „second-order desires“ auf, um eine weitere einzuführen, nämlich die zwischen schwachen Wertungen („weak evaluations“) und starken Wertungen („strong evaluations“). Von schwachen Wertungen spricht er, wenn wir herausfinden wollen, wie wir unterschiedliche Wünsche miteinander vereinbaren können. So können wir beschließen, erst zum Schwimmen und später zum Essen zu gehen, um uns beide Wünsche zu erfüllen (s. T AYLOR 1999: 16). Bei starken Wertungen geht es jedoch nicht darum, wie unterschiedliche Wünsche miteinander in Einklang gebracht werden können, sondern vielmehr um die Entscheidung darüber, welche wir billigen oder missbilligen. Hier brauchen wir ein ganz anderes Vokabular. T AYLOR zählt einige der Begriffe auf, die hier eine Rolle spielen: „higher and lower, virtuous and vicious, more or less fulfilling, more or less refined, profound and superficial, noble and base“ (ibid.). Um starke Wertungen zu verstehen, können wir unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf den einen Wert, sondern müssen sie auch auf die Werte, die mit ihm verbunden sind, lenken. Um zu verstehen, was eine mutige Handlung ist, müssen wir nicht nur wissen, was Mut ist, sondern auch, was Feigheit ist und welche Rolle Mut und Feigheit in dem jeweiligen Weltbild spielen (s. ibid.: 19). Das ist bereits eine wirksame Strategie für interkulturelles Verstehen: Wir müssen einen bestimmten Sinnhorizont rekonstruieren. Die Überlegungen zu den Spannungen zwischen „first-order“ und „second-order desires“, zum Menschen als „self-interpreting animal“ und zu starken Wertungen sind erste Hinweise zur Bestimmung bildungsrelevanter Inhalte. In Experience and Education (1938/ 2002) setzt sich D EWEY mit der Frage auseinander, die uns hier beschäftigt. Die fortschrittliche Erziehung seiner Zeit fordert, dass Inhalte in den Hintergrund treten, weil sie Heranwachsende in ihrer Selbstbestimmung beeinträchtigen und sie auf vorgegebene Wertvorstellungen verpflichten. Inhalte, so lautet der Vorwurf, haben die Funktion, die Heranwachsenden in die bestehende Gesellschaftsordnung zu integrieren und Selbstbestimmung zu verhindern. D EWEY tritt entschieden für Selbstbestimmung ein, bezweifelt jedoch, dass sie erreicht wird, indem auf relevante Inhalte verzichtet wird. Das Einüben von formalen Kompetenzen kann genauso „ein starres Verhaltensschema“ (D EWEY 2002: 235) bewirken wie das Aneignen vorgegebener Inhalte. Um die unfruchtbare Diskussion zwischen Inhalten und formalen Kompetenzen zu überwinden, führt D EWEY den Begriff der Erfahrung ein. Dieser Begriff ist für sein Denken von zentraler Bedeutung. Das wird schon an dem Titel Experience and Education deutlich, und experience steht auch im Titel seiner großen Werke Experience and Nature und Art as Experience. Im letzteren erläutert er, was es bedeutet, eine Erfahrung zu machen. Wer eine Erfahrung macht, tritt aus dem Fluss der Erfahrungen heraus und sieht die Welt anders. Diese Erfahrung prägt Bildungsrelevante Inhalte beim fremdsprachlichen Lernen und interkulturellen Verstehen 129 4 Vgl. die Kritik von Arno C OMBE an Entwicklungsaufgaben in der Bildungsgangdidaktik, die nicht berücksichtigen, was den Lernenden widerfährt und damit Erfahrungskrisen, Störerfahrung, Grenzen der eigenen Kompetenzen und Bruchlinien der Erfahrung ausblenden (in B REDELLA 2007b). 38 (2009) sich in sein Gedächtnis ein, weil sie ihm die Welt in einem neuen Licht erscheinen lässt. Modell für das Verstehen einer Erfahrung ist für D EWEY die ästhetische Erfahrung, weil in ihr zur Entfaltung kommt, was in der täglichen Lebenswelt oft abgebrochen wird und sich nicht voll entfalten kann (vgl. D EWEY 1958: 56). Die ästhetische Erfahrung spricht den ganzen Menschen an. Sie ist holistisch: „It is not possible to divide in a vital experience the practical, emotional, and intellectual from one another and to set the properties of one over the characteristics of the others“ (ibid.: 55). In der ästhetischen Erfahrung kommt es zu einer intensiven Interaktion zwischen Objekt und Subjekt. In ihr wirkt das Objekt auf das Subjekt ein, aber nicht im Sinne einer mechanischen Wirkung, sondern in dem Sinne, dass es angesprochen wird und darauf antwortet. In der täglichen Erfahrung wird diese Dynamik oft unterbrochen, während sie sich in der ästhetischen Erfahrung voll entfalten kann. Das wird auch deshalb möglich, weil sich das Subjekt in der ästhetischen Erfahrung dem Gegenüber voll aussetzen kann. Derjenige, für den ein Schauspiel aufgeführt wird, ist Zuschauer und muss bzw. darf nicht handelnd in das Geschehen eingreifen. Diese Zuschauerhaltung erlaubt jedoch nicht nur emotional engagiertes Mitgehen, sondern auch Distanz und Reflexion. Wir sind in das Geschehen involviert und können es überschauen und erkennen. Diesen zweiten Aspekt betont D EWEY ausdrücklich: „An object is peculiarly and dominantly esthetic, yielding the enjoyment characteristic of esthetic perception, when the factors that determine anything which can be called an experience are lifted high above the threshold of perception and are made manifest for their own sake“ (ibid.: 57). Die ästhetische Erfahrung involviert den Rezipienten und ermöglicht Distanz und Reflexion, so dass man beobachten kann, wie man etwas erfährt und was diese Erfahrung konstituiert. Es sei hier nur erwähnt, dass wir als Lehrende auf dieses Potenzial der ästhetischen Erfahrung bei der Rezeption literarischer Texte achten müssen. Das kann natürlich nur geschehen, wenn wir literarische Kompetenz nicht auf das Identifizieren von Stil- und Strukturmerkmalen reduzieren. D EWEY spricht dann von „academic criticism“, der die Lebens- und Bildungsrelevanz literarischer Texte gar nicht in den Blick bekommt. Eine Erfahrung machen bedeutet für D EWEY , wie wir gesehen haben, dass sie unsere Weltsicht verändert. Darin ist eine Einsicht enthalten, die es D EWEY ermöglicht, unser „In-der-Welt-sein“ (D EWEY 2002: 247) neu zu konzipieren. Wer eine Erfahrung macht, dem widerfährt etwas, und das impliziert, dass er die Welt, in der er lebt, nicht völlig unter Kontrolle hat. Wir sind nicht in der Welt, wie die Farbe in der Dose, sondern wir interagieren mit ihr. Wir erleben sie als freundlich oder feindlich. Diese Einsicht lässt die Auffassung von Selbstbestimmung fragwürdig werden, die diese Interaktion nicht beachtet und davon ausgeht, dass Selbstbestimmung bedeutet, dass sich der Mensch allein aus sich selbst bestimmt. 4 Als eine weitere Konsequenz aus der Einsicht in die Struktur der Erfahrung ergibt sich für D EWEY eine Kritik am rationalen Handlungsmodell, nach dem wir zunächst außerhalb der Handlungssituation unsere Ziele und Strategien bestimmen, 130 Lothar Bredella 5 Vgl. zum Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung B REDELLA (2009). 38 (2009) um sie dann in ihr zu testen. Übrigens liegt das rationale Handlungsmodell auch der Anwendung von Lernstrategien bei O XFORD zugrunde. Für D EWEY erfasst es jedoch nicht, wie wir von der jeweiligen Situation, in der wir handeln, bestimmt werden. Daher stellt er dem rationalen das kreative Handlungsmodell gegenüber, das besagt, dass wir auf das, was uns widerfährt, kreativ antworten müssen. J OAS beschreibt das kreative Handeln bei D EWEY in folgenden Worten: Umgangssprachlich sagen wir, man ‚gerate‘ in eine Situation, sie ‚widerfahre‘ uns, sie stoße uns zu und wir sähen uns ‚vor sie gestellt‘. Damit drücken wir aus, daß die Situation etwas ist, das unserem Handeln (oder Lassen) vorausgeht, dieses aber auch herausfordert, weil sie uns ,angeht‘, uns interessiert oder ,betrifft‘ (J OAS 1996: 235 f). In dem kreativen Handlungsmodell müssen wir Ziele und Strategien ständig neu aufeinander beziehen. Wie schon angedeutet, verändert die Einsicht in die Struktur der Erfahrung, dass wir Selbstbestimmung dialektisch bestimmen müssen und nicht vergessen dürfen, dass wir in eine Welt hineingeboren werden, die vor uns da war und die uns bestimmt. In Sich bestimmen lassen: Ein revidierter Begriff von Selbstbestimmung betont Martin S EEL , dass wir nur sinnvoll von Selbstbestimmung reden können, wenn wir uns bestimmen lassen. Er nähert sich dem revidierten Begriff von Selbstbestimmung, indem er sich mit den Auffassungen von Selbstbestimmung bei Hume, Kant, Hegel, Heidegger und Nietzsche auseinander setzt und betont, dass Selbstbestimmung „auf einer sondierenden Unterscheidung von Möglichkeiten“ (S EEL 2002: 287) beruht. Und diese Möglichkeiten eröffnen sich nur demjenigen, der sich von den Situationen, in denen er steht, ansprechen und herausfordern lässt: Wer überhaupt etwas bestimmen will, sei es in theoretischer und praktischer Absicht, muss sich in mehrfacher Hinsicht bestimmen lassen durch die Materie, durch das Medium und durch das Motiv seiner Bestimmung. Jede erkennende Festlegung muss auf das eingehen, was jeweils Gegenstand ihrer Erkundung ist. (ibid.) Selbstbestimmung setzt voraus, dass man „ansprechbar und damit: irritierbar - durch die Welt, die anderen und sich selbst“ bleibt (ibid.: 295). Deshalb brauchen wir bildungsrelevante Gegenstände. Unter einer anderen Perspektive kann man sich der Selbstbestimmung dadurch nähern, dass man lernt, nach den Wünschen zu handeln, die man billigt und die somit mit dem eigenen Selbst- und Weltverständnis vereinbar sind. 5 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Inhalte bildungsrelevant sind, a) wenn sie uns anregen, Wünsche, Bedürfnisse und Emotionen zu artikulieren und den Spannungen zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung nachzugehen, und b) wenn sie uns etwas Neues erfahren lassen, das unsere Sichtweisen irritiert und uns die Welt unter einer anderen Perspektive sehen lässt. Diese Überlegungen zu bildungsrelevanten Inhalten will ich mit einigen Hinweisen zu einer Unterrichtseinheit über die Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1950er und 1960er Jahre konkretisieren. Im Mittelpunkt der Unterrichts- Bildungsrelevante Inhalte beim fremdsprachlichen Lernen und interkulturellen Verstehen 131 38 (2009) einheit steht die Autobiografie von Melba P ATTILLO B EALS Warriors Don’t Cry. Melba ist eine der neun schwarzen Schülerinnen, die in dem Schuljahr 1957/ 1958 die Central High School in Little Rock, Arkansas, unter dem Schutz von Soldaten besuchte. Präsident Dwight D. Eisenhower hatte 1000 Soldaten der 101st Airborne Devision nach Little Rock gesandt, nachdem sich der Gouverneur von Arkansas, Orval Faubus, geweigert hatte, die Schüler zu beschützen. Doch zuvor will ich in Teil 2 auf den historischen Kontext hinweisen. Für das interkulturelle Verstehen ist konstitutiv, dass wir den fremden Kontext rekonstruieren (vgl. B REDELLA [et al.] 2000 und B REDELLA 2007a). 2. Rekonstruktion der historischen Situation 1896 hatte der Supreme Court im Fall Plessy vs. Fergusson die Rassentrennung in den Südstaaten nach dem Grundsatz separate but equal als verfassungskonform anerkannt. Zu dieser Formulierung kommt es, weil das 13. Amendment der amerikanischen Verfassung von 1865 die Sklaverei verbietet und das 14. Amendement von 1868 festlegt, dass alle Bürger der USA gleiche Rechte besitzen. Separate but equal soll daher zum Ausdruck bringen, dass die Rassentrennung das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz nicht verletze. Immer wieder haben Organisationen der Schwarzen gegen diese Entscheidung protestiert. 1954 hebt der Supreme Court im Fall Brown vs. Board of Education of Topeca das Urteil von 1896 als verfassungswidrig auf. Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Bürgerrechtsbewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Rassentrennung und die damit verbundene Diskriminierung von Schwarzen zu überwinden. Wichtig für die Schüler ist aber nicht nur, dass sie die historische Situation rekonstruieren, sondern auch, dass sie erfassen, wie die Betroffenen als „self-interpreting animals“ sie einschätzen. Daher finden sich in den Zusatzmaterialien auch Äußerungen von Betroffenen. Eine von ihnen lautet: My inner emotions must have been approximate to the Negro slaves, when they first heard about the Emancipation Proclamation. Elation took hold of me so strongly that I found it very difficult to refrain from yielding to an urge of jubilation. […]. On this momentous night of May 17, 1954, I felt that at last the government was willing to assert itself on behalf of first-class citizenship, even for Negroes. I experienced a sense of loyalty that I never felt before (in M ARTIN 1998: 36). Es gibt aber auch Äußerungen von Schwarzen, die das Urteil des Supreme Court nicht begrüßen, weil die Integration den Weißen aufgezwungen werden muss und weil man sich damit denen aufdrängt, die einen nicht wollen. Die Anthropologin und Schriftstellerin Zora Neal H URSTON schreibt: „How much satisfaction can I get from a court order for somebody to associate with me who does not wish me near them? “ (H URSTON in M ARTIN 1998: 33). Äußerungen dieser Art sind wichtig, weil sie verhindern, was beim interkulturellen Verstehen leicht geschieht, dass Menschen auf ihre kulturelle oder ethnische Identität reduziert werden und ihre persönliche Identität aus dem Blick gerät. Vielleicht wird man gegen die vorliegende Unterrichtseinheit über die Bürgerrechtsbewegung einwenden, dass sie zu einem negativen Amerikabild beitrage und damit 132 Lothar Bredella 38 (2009) gerade interkulturelles Verstehen behindere. Das scheint mir jedoch nicht der Fall zu sein. Sie zeigt vielmehr ein ambivalentes Amerikabild, wie es in den Worten von Melba zum Ausdruck kommt, die über die Ereignisse in Little Rock sagt: „I felt proud and sad at the time. Proud that I lived in a country that would go this far to bring justice to a Little Rock girl like me, but sad that they had to go to such great lengths“ (P ATTILLO B EALS 1995: 95). Die Schwarzen erfahren bei ihrem Prostest gegen die Rassentrennung nicht nur den hasserfüllten Widerstand der Weißen, sondern erfahren auch, dass sie von Weißen unterstützt werden. Weiße Richter entscheiden gegen den Gouverneur von Arkansas. Ein weißer Schüler rettet Melba das Leben, als er ihr den Schlüssel seines Autos zuwirft, in dem sie fliehen kann. Der für Melbas Sicherheit verantwortliche Soldat Danny, der sie mehrmals durch sein entschlossenes Eingreifen rettet, ist ein Weißer und wird von Weißen beschimpft, weil er sie beschützt. Auch zeigt die Bürgerrechtsbewegung, dass das Bewusstsein von Menschen verändert werden kann. 1957 verwehrt Gouverneur Faubus den schwarzen Schülern den Zugang zur Central High School; 1987 werden sie von Gouverneur Bill Clinton in dieser Schule willkommen geheißen. 1997 erfolgt die Einladung in die Schule durch Bill Clinton als Präsidenten der Vereinigten Staaten. Insofern gehört zum interkulturellen Verstehen auch die Einsicht in die Veränderbarkeit von Kulturen. Zu den Zusatzmaterialien für die Rekonstruktion der historischen Situation gehören Reden von Martin Luther King und Malcolm X. King hielt die ausgewählte Rede 1955 am Beginn des Busboykotts in Montgomery, Alabama. In ihr sucht er diejenigen, die sich dem Boykott anschließen, auf den Wert der „non-violence“ zu verpflichten. Malcolm X dagegen lehnt in den beiden ausgewählten Auszügen die Aufforderung zur „non-violence“ als kriminell ab und fordert zur „self-defense“ auf. Bevor ich mich dem Konflikt zwischen „non-violence“ und „self-defense“ zuwende, will ich aufzeigen, wie King diejenigen, die an dem Busboykott teilnehmen, von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns zu überzeugen sucht. Wer an ihm teilnimmt, handelt in Übereinstimmung mit der Entscheidung des Supreme Court von 1954, in Übereinstimmung mit der amerikanischen Verfassung und der christlichen Religion: „And we are not wrong, we are not wrong in what we are doing. If we are wrong, then the Supreme Court of this Nation is wrong. If we are wrong, the Constitution of the United States is wrong. If we are wrong, God Almighty is wrong“ (King zitiert in C ARSON [et al.] 1991: 50). Diese Worte zeigen, wie wichtig das Selbstverständnis der Handelnden ist und dass King es versteht, die expressive und appellative Sprachfunktion erfolgreich einzusetzen. Wie kann es jedoch innerhalb der Bürgerrechtsbewegung dazu kommen, dass der Begriff der „non-violence“ so unterschiedlich interpretiert werden kann? Aus der Sicht von King verspricht diese Strategie Erfolg, weil die weiße Mehrheit es nicht hinnehmen wird, wenn sie in den Medien sehen, wie gewaltfrei protestierende Schwarze zusammengeschlagen werden. Sie werden daher die Gesetze, die ihrem eigenen Selbstverständnis widersprechen, verändern. Malcolm X betrachtet jedoch „non-violence“ als kriminell, weil sie Weißen die Botschaft vermittelt, dass Schwarze sich nicht wehren, wenn sie zusammengeschlagen und getötet werden: „If that’s how ‚Christianity‘ is interpreted, if that’s what Gandhian philosophy teaches, well, then I will call them criminal philoso- Bildungsrelevante Inhalte beim fremdsprachlichen Lernen und interkulturellen Verstehen 133 38 (2009) phers“ (Malcolm X 1965: 484). Malcolm X plädiert daher für „self-defense“ und macht sich über das Ziel der Bürgerrechtsbewegung, die Rassentrennung zu überwinden, lustig: „It’s the only revolution in which the goal is a desegregated public toilet; you can sit down next to white folks - on the toilet. That’s no revolution“ (Malcolm X in B REITMAN 1990: 9). „Non-violence“ und „self-defense“ sind aber nicht nur Strategien, mit denen King und Malcolm X die Abschaffung von Diskriminierung erreichen wollen, sondern auch Werte, die auf ein unterschiedliches Selbst- und Weltverständnis hinweisen. Für King bringt es zum Ausdruck, dass die Vertreter der Bürgerrechtsbewegung ihren Gegnern moralisch überlegen sind: My friends, don’t let anybody make us feel that we ought to be compared in our actions with the Ku Klux Klan, or with the White Citizen’s Councils. There will be no crosses burned at any bus stop in Montgomery. There will be no white persons pulled out of their homes and taken out to some distant road and murdered (King in C ARSON [et al.] 1991: 49). „Non-violence“ ist aber nur ein Wert, wenn er Weiße zu beeindrucken vermag und sie sich mit den Schwarzen solidarisieren. Wenn diese Reaktion ausbleibt, erscheint „nonviolence“ in der Tat kriminell. Aber auch die Aufforderung zur „self-defense“ ist kriminell, wenn Schwarze nicht die Mittel besitzen, um sich wirkungsvoll verteidigen zu können (s. B REDELLA 2002a: 119-122). Es liegt hier im Sinne von D EWEY eine kreative Handlungssituation vor: King und Malcolm X stehen in Situationen, die sie nicht unter Kontrolle haben und in denen sie auf die jeweiligen Herausforderungen kreativ antworten müssen. 3. Die Autobiografie Warriors Don’t Cry Melba Beals ist eine der neun Schülerinnen, die ausgewählt wurden, um die Central High School in Little Rock, Arkansas, zu besuchen und damit die Integration von schwarzen Schülern in weißen Schulen einzuleiten. Was sich dabei abspielte, hat nationale und internationale Aufmerksamkeit gewonnen. Am 2. September 1957, an dem die neun Schüler aufgenommen werden sollten, hatten sich Integrationsgegner versammelt, um die schwarzen Schüler am Betreten der Schule zu hindern. Zudem setzte Gouverneur Faubus 250 Soldaten der Nationalgarde ein, um den schwarzen Schülern den Zugang zur Schule zu verweigern. Eine der Schülerinnen, die nicht davon unterrichtet wurde, dass man unter den gefährlichen Bedingungen nur gemeinsam unter dem Schutz von Vertretern der Schwarzen zur Schule gehen sollte, näherte sich allein der Schule und geriet in den weißen Mob. Die Soldaten vor der Schule helfen ihr nicht, als der Mob sie angreift. Da die Auseinandersetzung um die Integration viele Journalisten angezogen hatte, gingen die Bilder von dem Angriff des Mobs auf die Schülerin um die Welt und zeigten ein rassistisches Amerika, das im Kalten Krieg den Anspruch erhob, sich für die Freiheit einzusetzen. In den nächsten Tagen erreichten die Vertreter der Schwarzen vor Gericht, dass Gouverneur Faubus den neun Schülern den Zugang zur Central High School am 23. 134 Lothar Bredella 38 (2009) September gewähren müsse. An diesem Tag zog er jedoch die Soldaten der Nationalgarde ab und überließ dem weißen Mob das Feld. Mit diesem Schachzug wollte er beweisen, dass die Integration nicht gegen den Willen der Mehrheit der weißen Bevölkerung durchzusetzen sei. Doch gefährdete er damit das Leben der neun Schüler und ihrer Begleiter. Als Präsident Eisenhower realisiert, dass Gouverneur Faubus nicht bereit ist, den Gerichtsbeschluss auszuführen, sendet er 1000 Soldaten der 101st Airborne Devision nach Little Rock, die am 24. September dafür sorgen, dass die neun Schüler die Schule betreten können. Gouverneur Faubus kommentierte die Anwesenheit der Soldaten in Little Rock in einer Radioansprache mit folgenden Worten: „We are now an occupied territory. In the name of God, whom we all revere, in the name of liberty we hold so dear, in the name of democracy which we all cherish, what’s happening in America“ (P ATTILLO B EALS 1995: 91). Die Ereignisse in Little Rock beschwören eine Verfassungskrise zwischen dem Gouverneur und dem Präsidenten herauf. In der Autobiografie Warriors Dont’ Cry wird von den historischen Ereignissen berichtet (es finden sich in ihr auch Ausschnitte aus Zeitungen und Radiosendungen). Entscheidend ist jedoch, dass die Autorin darstellt, wie sie die Ereignisse erlebt und dabei ihre Gefühle, Gedanken und Handlungsmotive artikuliert, und zwar mit einer Differenziertheit und Komplexität, wie dies in interpersonalen Begegnungen und Interviews nicht möglich ist. Für Autobiografien und literarische Texte ist somit der Bezug auf die erlebende Person konstitutiv. Sie stellen in konkreten Handlungsvollzügen dar, was Menschen widerfährt und wie sie darauf antworten. Damit werden die Leser angeregt, das Dargestellte auf ihre konkreten Lebensbezüge und ihre Kultur zu beziehen. Daher könnte eine Form von Aufgaben darin bestehen, dass die Schüler die Frage beantworten: Was hätte ich in bestimmten Situationen an Melbas Stelle gedacht und gefühlt? Wie hätte ich an ihrer Stelle gehandelt? Auf diese Weise können die Schüler etwas über sich selbst entdecken und sich fragen, welches Licht die in der Autobiografie dargestellte Welt auf ihre Welt wirft? Eine andere Form von Aufgaben, die die Schüler besonders in den Interaktionsprozess involvieren können, kann darin bestehen, dass sie bestimmte Leerstellen füllen. Melba schreibt in ihrem Tagebuch: „If only he [Gouvernor Faubus] will listen to me one minute, I can make him understand there is nothing so bad about me that he shouldn’t allow white children to go to school with me“ (ibid.: 61). Das, was Melba ihm sagen will, wird in dem Text nicht ausgeführt. Daher die Aufgabe an die Schüler: Was könnte sie ihm sagen, und wie würde er wohl darauf reagieren? Was zeigen die von den Schülern geschriebenen Texte: Wie wird Melba beschrieben? Kann sie sich gegen den Gouverneur behaupten? Wie verhält sich der Gouverneur? Arrogant oder verständnisvoll? Welche Argumente bringt Melba für die Aufhebung der Rassentrennung vor? Spricht sie von ihren persönlichen Hoffnungen, die sie mit der Aufhebung der Rassentrennung verbindet und von denen sich die Weißen nicht zu fürchten brauchen? Wie würde wohl der Gouverneur reagieren, wenn Melba ihn mit den folgenden Worten aus der „Declaration of Independence“ konfrontierte: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness“. Es sind diese Werte, die zum amerikanischen Selbstverständnis gehören, auf die sich die Bürgerrechts- Bildungsrelevante Inhalte beim fremdsprachlichen Lernen und interkulturellen Verstehen 135 6 Weitere Aufgaben in B REDELLA (2002b, 34-36). 38 (2009) bewegung beruft und die auch Melbas Denken und Handeln ganz entscheidend bestimmen. Ich habe hier einige Aufgaben erwähnt 6 , die helfen können, das Potenzial der Autobiografie zu entfalten. Aber man darf sie auch nicht überschätzen, sondern sollte darauf vertrauen, dass Schriftsteller geschickt darin sind, ihre Rezipienten in das Geschehen zu involvieren. Es wäre fatal, wenn Schüler den Eindruck gewönnen, dass ihnen erst Aufgaben gestellt werden müssen, bevor sie Autobiografien und literarischen Texte verstehen können. In der Einleitung habe ich aufgezeigt, dass in bildungspolitischen Veröffentlichungen der Gegenwart bildungsrelevante Inhalt keine Rolle spielen und zugunsten formaler Kompetenzen, die outputorientiert in Tests überprüft werden, abgewertet werden. In Teil 1 habe ich Merkmale bildungsrelevanter Inhalte hervorgehoben. Inhalte sind bildungsrelevant, wenn sie Schüler anregen, ihre Wünsche und Emotionen und die Spannungen zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung zu artikulieren. Auf diese Weise können sie ihre Urteilskraft schärfen und ihre individuelle Identität ausbilden. Damit treten die expressive und appellative Sprachfunktion in den Mittelpunkt, die in den outputorientierten Bildungsstandards kaum beachtet werden. Inhalte sind ferner bildungsrelevant, wenn durch sie die Schüler herausgefordert und irritiert und damit zum kreativen Handeln motiviert werden. In Teil 2 und 3 zeige ich bei den Hinweisen zur Unterrichtseinheit über die Bürgerrechtsbewegung auf, wie die ausgewählten Texte bildungsrelevant werden können, indem die Schüler den historischen Kontext rekonstruieren, unterschiedliche Sichtweisen erschließen und zu ihnen Stellung nehmen, wobei sie Bezüge zum eigenen Selbstverständnis und zur eigenen Kultur herstellen. Es ist eine wesentliche Aufgabe der Didaktik des fremdsprachlichen Lernens und des interkulturellen Verstehens, die Bildungsrelevanz ihrer Gegenstände zu erhellen. Eine weitere Aufgabe besteht darin, Methoden und Aufgaben zu entwickeln, die es möglichen, deren Potenzial zur Entfaltung zu bringen. Literatur BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Bonn. B REDELLA , Lothar (2002a): Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen: Narr. B REDELLA , Lothar (2002b): „Die Autobiografie Warriors Don’t Cry“. 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