eJournals Colloquia Germanica 48/4

Colloquia Germanica
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2015
484

Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil

2015
Helga Kraft
Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 293 Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil Helga Kraft University of Illinois at Chicago Abstract: Kafka’s literary expression of the comic side of life as a protection from existential threats attracted world-wide a great number of comic artists to his texts. Kafka himself resorted to visualization by drawing caricatures in simple lines when language failed. The relationship between literature and comics is addressed by Nicolas Mahler in his Franz Kafkas nonstop Lachmaschine . In this comic book, people’s vague knowledge of Kafka as well as academic approaches to his works are satirized. A brief survey of a number of Kafka comics—such as the biography Kafka , Der Process and Das Schloss — exemplify the different styles of adaptation. A detailed analysis of Moritz Stetter’s comic adaptation Das Urteil nach Franz Kafka follows. A focus on the central tree metaphor in this book illustrates that comic art has opened new artistic dimensions, which may lead to a better understanding of Kafka and bring his texts closer to a new generation. Keywords: Franz Kafka, kafkaesk, Adaption, Comics, Komik, Ironie Der Ausdruck „kafkaesk“ ist im Laufe der Zeit weltweit zum Ausdruck eines Lebensgefühls avanciert, das über Kafkas Werk hinaus verweist. Man bezeichnet damit eine Situation, in der die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, Menschen in ihrer Wahrnehmung verunsichert werden und sich von anonymen Mächten so sehr bedroht fühlen, dass sie unfähig werden, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Auch wenn sich die Bedeutung „kafkaesk“ längst von ihrem Namensgeber abgelöst hat, so ruft sie doch immer wieder die Erinnerung an den Autor wach: „Kafka fungiert mittlerweile als popkulturelles Icon, dessen Bild (sowohl in medialer als auch in symbolischer Hinsicht) in vielfältigster Weise reproduziert wurde: Sein Leben wurde ebenso behandelt und stilisiert wie sein Werk“ (Wintersteiger n. pag.). 294 Helga Kraft Wenn der Begriff „kafkaesk“ als Schlüssel zur Interpretation von Kafkas Werk benutzt wird, erfasst er immer nur Teile des Werkes und verdeckt, dass es in Kafkas Texten über die Thematisierung von Angst und Bedrohung hinaus auch eine ungewöhnliche Art von Ironie und Komik gibt. Es ist überliefert, dass Kafka in der Runde von Freunden oft heiter und witzig war. Sein Freund Janouch hat erzählt, dass Kafka sich vor Lachen kaum halten konnte, als er aus seinem Text In der Strafkolonie vorgelesen hat, in dem es in hohem Maße gewalttätig und ungerecht zugeht (Rehberg 116). In einem Gespräch mit Janouch soll Kafka über einen Schriftsteller, den die beiden Freunde gerade gelesen hatten, gesagt haben: „Er ist so lustig, dass man fast glauben könnte, er habe Gott gefunden“ ( Janouch 111). Auf die Nachfrage von Janouch: „Das Lachen ist für Sie also ein Zeichen von Religosität? “ habe Kafka geantwortet: „Nicht immer. In einer so gottlosen Zeit muß man aber lustig sein. Das ist Pflicht. Die Schiffskapelle spielte auf der untergehenden Titanic bis zum Ende. Man entzieht damit der Verzweiflung den Boden“ ( Janouch 111). Ein anderes Mal soll Kafka geäußert haben, dass sein Lachen eine Betonmauer sei, was die Deutung nahelegt, dass das Lachen ihm Schutz vor der Ausweglosigkeit im Leben bot, die er oft spürte. Ironische und komische Schreibweisen ermöglichten es ihm, die bedrohlichen Aspekte und die Paradoxien der menschlichen Existenz in grotesken und absurden Szenarien auszuphantasieren und abzuwehren. Wahrscheinlich ist es die abgründige Komik in vielen Kafka-Texten, die gerade auf Comic-Künstler einen unwiderstehlichen Reiz ausgeübt hat, seine Werke zu adaptieren. In der germanistischen Forschung ist die Frage von Komik bzw. Ironie bei Kafka nicht neu. So weist Erica Weitzman in ihrer Studie Irony’s Antics. Walser, Kafka, Roth, and the German Comic Tradition darauf hin, dass Kafkas Werke von einer „comic irony“ durchdrungen seien (Weitzman 187) und stellt fest, dass der Autor das Komische in „the very order of things and the history of humankind itself “ (143) lokalisiert habe. Sie entdeckt in Kafkas Stil das Performative: „If comic is play with non-sense in the strict meaning of the term, then the history of humankind is nothing more or less than the playing-out of its own original non-sense in an eternally varying parade of forms“ (Weitzman 143). Kafka bestätigt diese Ansicht gewissermaßen, wenn er die rhetorische Frage stellt, „wie könnten Narren müde werden? “ (Kafka 1994, 120). Inzwischen sind weltweit mehr als zwei Dutzend Comic-Adaptionen von Kafka-Texten auf dem Markt, die bei dem Schriftsteller und Kritiker Thomas von Steinaecker jedoch auf prinzipielle Ablehnung stoßen: „Es scheint schwierig, Kafkas Texte in Bildgeschichten zu verwandeln. Zu fantasielos, zu flach, zu eindimensional - Comics und Graphic Novels konnten Kafkas labyrinthische Sprache bisher nicht adäquat übersetzen“ (Steinaecker n. pag.). Meines Erachtens gibt es jedoch durchaus eine Reihe von Komik-Künstlern, denen es ge- Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 295 lungen ist, die Ambivalenzen der Kafkaschen Texte zu visualisieren und auf Momente hinzuweisen, die der Rezeption der Texte neue Dimensionen eröffnen können. Sie bauen eine delikate geografische und zeitliche Brücke zwischen den absurden Zuständen und Zusammenhängen in den Texten von Kafka und der damaligen und heutigen Gegenwart. Die Comics entdecken - wie Wintersteiger in Hinsicht auf die Adaption des Amerika -Romans von Casanave und Cara bemerkt hat - dass „die Inszenierung des Kafka’schen Stoffes eindeutige Züge des frühen Slapstickkinos“ (n. pag.) aufweist. Als weiteres Merkmal der besonderen Eignung des Comics für die Umsetzung Kafka’scher Texte gilt, dass er das gestische Potential der Schriftzeichen betont und diese sozusagen als einen „Protagonisten auftreten lässt“ (Wintersteiger n. pag.). Die sprachliche Bildlichkeit der Texte Kafkas kann durch die Comic-Adaptionen eine Aktualität erhalten, die durch ihre Verbindung von Wort und Bild eine neue Generation anzusprechen vermag. Das Komische bei Kafka ist seit längerem Gegenstand der Forschung. In seiner Interpretation der Romane Das Schloß und Der Proceß befasst sich Friedrich detailliert mit dem Aspekt des Komischen (Friedrich 2009, 19-44). In den letzten Jahren wird auch die Comic Novel zunehmend als ein interessantes Genre erkannt, das zwischen Text und Bild vermittelt. Es gibt mehrere umfangreiche Studien zum Comic-Roman, und der Comic gilt inzwischen als ernst zu nehmender Forschungsgegenstand in der Germanistik (Hohlbaum 434-35). In einer umfangreichen Studie Kafka im Comic (2015) beschäftigt sich Christopher Hohlbaum ausführlich mit fast allen bis dahin veröffentlichten Kafka-Adaptionen. Neben der intensiven Analyse des Comics Die Verwandlung von Crumb und Mairowitz (Hohlbaum 92-301) geht er auch kurz auf rund ein Dutzend anderer Comics von Kafka-Texten ein und untersucht sie in Hinsicht auf Kategorien wie Rahmenstrategie, Raum, Zeit, Bewegung, Stil/ Farben, Blickführung und Narration. Von besonderem Interesse ist dabei ein Buch mit Comics des österreichischen Comiczeichners Nicolas Mahler. Es trägt den kryptischen Titel Franz Kafkas nonstop Lachmaschine (2014). Dem Comic getreu ist der Titel als Gag bewusst irreführend, da weder Kafkas Leben noch dessen Texte visualisiert werden. Der Bezug zu Kafka wird durch Spaßfiguren hergestellt: Im gezeichneten Prolog - in dem der Autor sich selbst als dünnes Strichmännchen mit langer Nase darstellt - trifft dieser seine Nachbarin, eine biedere, rundlich gemalte Hausfrau, die auf den Titel seines neuen Buches, Franz Kafkas nonstop Lachmaschine , eingeht - in dem sie ja selbst vorkommt - wenn sie sagt: „Bei Comics fällt mir als erstes immer Kafka ein. Der hat recht liebe Figuren erfunden“ (9). Liebe Figuren? Augenzwinkernd zeigt Mahler hiermit, dass die Idee der ‚Hochliteratur‘, zu der Kafka ja zählt, bei ihr nicht angekommen ist. Noch übler: Sie verwechselt Kafka 296 Helga Kraft mit Kauka, d. h. mit Rolf Kauka (1917-2000), dem bekannten deutschen Comic- Designer der populären Fix und Foxi -Heftchen und vieler anderer für Kinder im Disney-Stil verfasster Comics, die in Deutschland Bestseller geworden sind. Im ganzen Buch glänzt Kafka durch Abwesenheit, außer im Anhang, wo Mahler Kafka-Figuren in Kauka-Stil nachahmt (Mahler 111), darunter Gregor Samsa als Käfer aus Kafkas Die Verwandlung , der als trügerischer Blickfang auch auf die Titelseite gesetzt ist. Auf diese Weise deutet Mahler kritisch und witzelnd auf Qualitätsunterschiede hin, die innerhalb des Comics-Geschäfts bestehen, und zeigt, wie die Aufmerksamkeit potentieller Leser zu erhaschen ist. Sowohl Mahler als auch die anderen Comic-Künstler nehmen in ihren Remakes auf Kafkas Wünsche keine Rücksicht. Dieser untersagte bekanntlich seinem ersten Verleger von Die Verwandlung , mit dem Bild eines Käfers auf dem Umschlag des Buches zu werben. Mahler geht es in seinem Buch u. a. um die Frage, wie Literaturcomics in der Kritik aufgenommen werden und bei wem die Deutungshoheit liegt. Er mokiert sich z. B. über wissenschaftliche Studien, indem er das Buch wie einen Forschungsbericht seriös in Kapitel einteilt sowie Fußnoten und einen Anhang hinzufügt. Mit dem Namen Kafka im Titel evoziert und relativiert Mahler medienwirksam die sogenannte hohe Literatur, deren Bewertung und Kanonisierung von Experten bestimmt wird. Er macht sich in betont schnoddriger Weise über die akademischen Interpreten und deren enge Maßstäbe für Kunst lustig. Die Germanisten siedelt er sogar in der Hölle an, wie ein Cartoon auf Seite 49 (Kapitel 8) des Buches zeigt: Was da aus dem sogenannten Höllen-Gulli herausragt und wie ein Wurm aussieht, ist ein Germanist, der als Merkmal seiner kränkelnden Zunft einen langen Schal mehrfach um den Hals geschlungen trägt. Den Vertreter der bildenden Künste hingegen malt er klein und dick und gibt ihm das Aussehen eines Gartenzwergs, der als Symbol des Spießbürgers gilt. Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 297 298 Helga Kraft Die Vertreter beider Forschungsrichtungen geben sich arrogant. Der Kunstexperte fragt zweifelnd in Bezug auf den Comic, „[…] ist es Kunst? “ (Mahler 51) und der Germanist fragt, „[…] ist es Literatur? “ (55). Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 299 Die Strichfigur von Mahlers eigenem Ich im Buch weist zunächst auf die Produktionsbedingungen seines Metiers hin und sagt dann: „Das Entscheidende am Comic ist die Erzählung, der Rhythmus, die Leerstellen, die Lesbarkeit bzw. Unlesbarkeit […] und die Gags“ (Mahler 52). Das klingt wie eine ernst zu nehmende Aussage, die von dem Kunstexperten jedoch sogleich ins Komische gezogen wird, wenn dieser antwortet, „Da muss ich zu Haus nachschaun, was Baudrillard dazu meint“ (52). Den Gag noch auf die Spitze treibend heißt es in einer Fußnote, „[…] hier könnte auch stehen: Foucault / Barthes / Deleuze“ (52). Die Ironie des Comic-Künstlers in Bezug auf Interpretationen richtet sich offensichtlich gegen die selbstbezogenen Experten. Mahler hingegen hat gute Gründe selbstbewusst zu sein, denn er hat bedeutende Auszeichnungen für sein Werk erhalten, z. B. den ‚Preis der Literaturhäuser‘ 2015 für Der Mann ohne Eigenschaften. Graphic Novel nach Musil . Ein Kritiker weist 2013 darauf hin, dass „[…] Mahler in seinen eigenwilligen Comics die Vorlagen nie einfach bebildert, sondern durch seine Darstellung neu interpretiert. Keine Literaturadaption also, eher eine Literaturaddition - mit dem zusätzlichen Summanden Comic“ (Platthaus n. pag.). Das Besondere an Mahlers Kreuzung von klassischer Literatur und Comic liegt darin, dass seine Zeichnungen dem elementaren Strichmännchen-Gekritzel von Kafka selbst ähnlich sind. Friederike Fellner hat den Zeichnungen aus Kafkas eigener Hand eine umfassende Studie gewidmet und auf den engen Zusammenhang zwischen Schreiben und Zeichnen bei Kafka hingewiesen, wenn sie die These vertritt: „Dass das Schreiben des Prager Schriftstellers von seiner Rahmung - dem Zusammenspiel von Instrumentalität, bzw. Technologie, Gestik und der Semantik des Schreibens - abhängig ist, reflektieren auch seine Zeichnungen“ (Fellner 121). Es kommt also nicht darauf an, wie kunstfertig im traditionellen Sinne gezeichnet wird, sondern wie das Ganze zusammenwirkt. Auch die Komparatistin Monika Schmitz-Emans sieht die simplen Zeichnungen von Kafka als Grundzeichen, die wie Worte oder Buchstaben in der Schrift variiert werden und gewissermaßen als Bildertext zu lesen sind (Schmitz-Emans 175). Wie in jeder Kunstrichtung muss bei einer Comic-Veröffentlichung nicht nur die Qualität, sondern auch die Attraktivität für den Kunst- und Literaturmarkt berücksichtigt werden. Natürlich besteht kein Zweifel daran, dass unendlich viel mehr Fix und Foxi -Hefte von Kauka verkauft wurden, als z. B. die Kafka-Adaptionen, auch wenn diese unter Kennern durchaus Kultstatus genießen. Zu nennen sind hier insbesondere die Koautoren Mairowitz/ Crumb, Mairowitz/ Jaromír 99, Mairowitz/ Montellier, Corbeyran/ Horne und Ricard/ Maël, wobei der eine für den Text und die/ der andere für die Zeichnungen verantwortlich ist. Mehr oder weniger sind alle Comics in Schwarz-Weiß gezeichnet, wohl um das 300 Helga Kraft Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 301 Dunkle des Schriftstellers zu betonen. Eine viel gepriesene Werkbiographie von Mairowitz und Crumb erschien ursprünglich bereits 1993 auf Englisch als Kafka for Beginners. Die Qualität und Popularität des Buches haben sich durch viele Neuveröffentlichungen bestätigt, 2013 ist es auf Deutsch unter dem Titel Kafka erschienen. Hier erhalten die Protagonisten in den Texten das Aussehen von Kafka selbst, und das Buch wurde von der Kritik als eine gelungene Mischung von Leben und Werk gelobt: Wir finden auch den ‚Prozess‘, ‚Der Bau‘, ‚Ein Hungerkünstler‘, ‚Das Urteil‘, ‚Das Schloss‘, ‚In der Strafkolonie‘ und ‚Amerika‘ grandios in Szene gesetzt und man fühlt sich, auch wenn man die literarischen Vorlagen bisher nicht gelesen hat, umfassend informiert. Mairowitz und Crumb beweisen Gefühl für das Wesentliche der Geschichten, für die Essenz - und was könnte sich besser zur Darstellung dieser Essenzen eignen als die Illustration? (Weigand n. pag.) Mairowitz greift in seinem Comic selbst den Ausdruck „kafkaesk“ auf, wenn er schreibt: „‚Kafkaesk‘ heißt meist: voller Schreckensvorstellungen und bitterer Seelenqualen. […] Aber mögen Kafkas Geschichten noch so grausig sein, so sind sie fast alle gleichzeitig komisch“ (Mairowitz/ Crumb 25). Das Komische im Ernsten prägt auch den Malstil von Crumb. Ein Beispiel ist eine gezeichnete Szene, die einen historischen Sprung ins Heute macht und in der Leute auf einer Party über das Kafkaeske sprechen. Als Gag ist Kafka selbst dabei, der sich jedoch abwendet und sich die Ohren zuhält. 302 Helga Kraft In Mairowitz/ Montelliers Der Process und in Das Schloss von Mairowitz/ Jaromír 99 sind zwar die Protagonisten, Josef K. und K., dem Dichter selbst sehr ähnlich gezeichnet, jedoch geht es in erster Linie nicht um das Leben, sondern um eine Einführung in die Werke Kafkas, wie Mairowitz, der die Texte ausgewählt hat, ausführt: „[…] der Zweck [dieser Comics] bestand darin, junge Leser an große Namen wie Franz Kafka […] heranzuführen“ („Genau das ist Kafka“ n. pag.). Da der Name Kafka zwar vielen bekannt ist, seine Texte aber nur von wenigen gelesen werden, erscheinen solche Einführungen durchaus sinnvoll. Es stellt sich aber die Frage, wie kreativ die Comic-Autoren eigentlich mit den Texten umgehen dürfen, ohne die Ästhetik und Intention der jeweiligen ‚Vorlage‘ aus dem Blick zu verlieren. Was jedoch die Zeichnungen von Der Process anlangt, die von Montellier stammen, ist sich die Kritik darin einig, dass auch die nicht in Kafkas Text selbst enthaltenen Elemente gelungen sind: Montellier hat die Graphic Novel sehr surreal, fließend und filigran gezeichnet. […] Zwischen den sehr realistischen Zeichnungen fließen immer wieder die Motive eines grotesk lachenden und scherzenden Skelettes mit Kerze und Messer in den Händen sowie einer Uhr mit in die Bilder ein. Und surreale Bilder, die eine nackte Frau, die aus einem Skelett erwächst, die eine Kerze in der Hand trägt und aus deren Hut wiederum eine Uhr schlüpft, unterstreichen auch teils das Absurde an der ganzen Handlung - […]. Dadurch wird das Paradoxe, das Deterministische und Resignative klar demonstriert. (Dingeldey n. pag.) Es gab jedoch auch kritische Stimmen, die sich von der oberflächlichen Symbolik abgestoßen fühlten: „[…] andere Motive, wie Phallussymbole am Bildrand, untermalen die sexuelle Konnotation, wenn etwa K. diverse Frauen zu benutzen versucht. Dadurch ergeben sich aber auch einige Probleme, die die Handlung zu sehr fixieren“ (Dingeldey n. pag.). Bei der graphischen Umsetzung von Kafkas Das Schloss von Jaromír 99 (Pseudonym des tschechischen Künstlers Jaromír Svejdik) ist dies anders. Die Zeichnungen sind holzschnittbzw. scherenschnittartig gehalten. Die Geschichte, die in eine dumpf-düstere Atmosphäre getaucht ist, mutet wie ein Märchen für Erwachsene ohne Happy End an. Sie zeigt kaum die subtile Ironie und Komik von Kafka. Der Historiker und Politologe Philip Dingeldey bemerkt: Die Umsetzung dieser Graphic Novel ist komplett anders als beim „Process“. Die Zeichnungen sind weniger filigran, weniger realistisch, bleiben düster, fast nur konturenhaft und grob. Auf Lautmalerei bzw. andere Stilmittel und Effekte wird größtenteils verzichtet. Alles bleibt abstrakter, reduzierter. Vor allem die Düsternis der Zeichnungen vermittelt hier dem Leser die beklemmende Stimmung um das Schloss und das verschneite, (sozial) kalte Dorf. (Dingeldey n. pag.) Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 303 Etwas detaillierter soll noch auf eine neuere Kafka-Adaption mit dem Titel Das Urteil. Nach Kafka eingegangen werden, die 2015 von dem Comiczeichner Moritz Stetter veröffentlicht wurde und auch in den zuletzt veröffentlichten Comic-Studien noch nicht behandelt worden ist. Stetter verzichtet auf jegliche Personenähnlichkeit mit Kafka und lässt das Biografische konsequent in den Hintergrund treten. Da er fast den gesamten Wortlaut der Originalgeschichte einbezieht, ohne eigene Worte hinzuzufügen, kann Kafka als Koautor gelten. Stetters zeichnerischer Stil kann nicht mit Mahlers witzigen Strichmännchen 304 Helga Kraft Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 305 verglichen werden. Obgleich sein Buch aus oft minimal ausgeführten Personen, Objekten und Landschaften besteht, strahlen diese starke Emotionen aus und können entsprechende Reaktionen bei Leser/ innen auslösen. Während sich bei den beiden Comic-Adaptionen der Romane die Frage aufdrängt, nach welchen Gesichtspunkten die wenigen Originaltexte aus den umfangreichen Texten ausgewählt worden sind, fragt man sich in Stetters Fall, warum einige Stellen aus der relativ kurzen Erzählung Das Urteil nicht aufgenommen wurden. Bei den Passagen, die weggelassen werden - es handelt sich um wenig mehr als zehn Prozent des Textes - geht es vor allem um Wiederholungen. Ihre Aussparung verändert oder verfälscht also nicht den Text des Autors. Stetter bebildert oder illustriert die Erzählung nicht, sondern es gelingt ihm, eine eigenständige, visuelle Adaption zu schaffen. Auch das Ironisch-Komische hat er nicht unterschlagen. Es leuchtet ab und zu auf, z. B. wenn der Vater zu einem Baby schrumpft, oder winzig mit wehendem Nachthemd und entblößtem Hinterteil an der Uhrenkette der ihn in dieser Szene bevormundenden riesigen Figur des Sohnes hängt. Stetters Leistung besteht meines Erachtens darin, dass er nicht nur die äußeren Realitätsmerkmale der Geschichte, sondern auch die innere Gefühlsebene des Protagonisten Georg Bendemann visuell umsetzt. Da in Kafkas Texten fast immer eine sehr persönliche Wahrnehmung der äußeren Welt durch die Protagonisten ausgedrückt wird, die im Gegensatz zu einer objektiven Außenperspektive steht - also um Reflexionen eines inneren Zustandes in der Auseinandersetzung mit den Ansprüchen der Gesellschaft - müssen Comiczeichner Wege finden, diese Problematik bildlich umzusetzen. In einer Rezension von Ute Friedrich wird Stetters Leistung wie folgt beschrieben: Stetter schafft […] zwei Bildebenen, die nebeneinander bestehen bzw. zunehmend ineinander verwoben werden. Auf diese Weise eröffnet er zwar nicht direkt einen neuen Deutungshorizont, er verstärkt jedoch das Gefühl der Verunsicherung eindrücklich, das auch beim Lesen der Kafkaschen Erzählung vorherrscht. […] Zentral für seine Adaption ist das Motiv des Baums. Wurzelartige Verflechtungen ziehen sich als optische Strukturen durch den gesamten Comic. (Friedrich 2015, n. pag.) Interessanterweise kommen Bäume in Kafkas Das Urteil aber gar nicht vor! Um diesen merkwürdigen Widerspruch angemessen würdigen zu können, ist ein Blick auf die Baummetaphern bei Kafka und in einem Kafka-Comic von Peter Kuper hilfreich. Stetters Baummetaphorik kommt nicht von ungefähr, zweifellos kennt er Kafkas Aphorismus „Die Bäume“, der 1903/ 04 entstanden ist, aber erst 1913 veröffentlicht wurde, im gleichen Jahr wie die Erzählung Das Urteil. Der Text ist so kurz, dass er in voller Länge zitiert werden kann: „Die Bäume. Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee, und mit kleinem Anstoß 306 Helga Kraft sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar“ (Kafka 1994, 89). In einem anderen Aphorismus spricht Kafka davon, dass der Mensch wertvolle und tiefe Einsichten ins Leben erhalten könne, wenn er über Bäume sowohl aus christlicher wie kabbalistischer Sicht nachsinne: Es gibt für uns zweierlei Wahrheit, so wie sie dargestellt wird durch den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens . Die Wahrheit des Tätigen und die Wahrheit des Ruhenden. In der ersten teilt sich das Gute vom Bösen, die zweite ist nichts anderes als das Gute selbst, sie weiß weder vom Guten noch vom Bösen. Die erste Wahrheit ist uns wirklich gegeben, die zweite ahnungsweise. Das ist der traurige Anblick. Der fröhliche ist, dass die erste Wahrheit dem Augenblick, die zweite der Ewigkeit gehört, deshalb verlischt auch die erste Wahrheit im Licht der zweiten. (Kafka 1953, 109) Es ist durchaus möglich, dass Kafka in seinen Baumvorstellungen durch seine kabbalistischen Studien beeinflusst worden ist (Alt 582). Sein Schreiben drückt durchgängig eine tiefe Unsicherheit zwischen seiner gelebten Weltlichkeit und dem verlorenen Glauben aus. Die Kabbala stellt durch den Lebensbaum Sephirot begrifflich und bildlich eine Auswahl der göttlichen Schöpfung aus dem Nichts dar und offenbart als Aspekt der Natur auch die Göttlichkeit, die menschliche Seele, sowie den geistigen Pfad in der Fortentwicklung des Menschen (Fortune). Die höchste Stufe ist die Erkenntnis. Gershom Scholem schreibt über Kafkas Gespaltenheit in einem Brief: I later [found in Franz Kafka] the most perfect and unsurpassed expression of this fine line [between religion and nihilism], an expression which, as a secular statement of the Kabbalistic world-feeling in a modern spirit, seemed to me to wrap Kafka’s writings in the halo of the canonical. (qtd. in Biale 32) Im zitierten Aphorismus „Die Bäume“ von Kafka sind diese schon zu Stämmen, man könnte sagen zu Bauholz denaturiert, doch werden sie explizit mit Menschen verglichen („wir sind wie Baumstämme“) und erlauben so einen Vergleich mit den Stammbäumen der Familie und weiterhin der gesamten menschlichen Familie ( Jagow 406). Der amerikanische Comiczeichner Peter Kuper hat diesen Aphorismus in einem vierseitigen Comic in schwarz-weiße Bilder verwandelt (Kuper 47-52), der 1995 in den USA und 1997 in Deutschland erschienen ist. Während Stetter dem Text fehlende Bäume visuell hinzufügt, zeichnet Kuper gar keine Bäume, obgleich sie in Kafkas Titel explizit genannt werden. Es ist unklar, ob Kuper bzw. Stetter wussten, dass Kafka sich mit verschiedenen Religionen auseinandergesetzt und sich intensiv mit der Kabbala beschäftigt hat. Bei Kuper sind die Bäume zu Hochhäusern, zu Betonbäumen mutiert. Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 307 308 Helga Kraft Sie deuten unmissverständlich auf den Stand einer Gesellschaft hin, die aus der Natur herausgefallen ist. Sie ragen weit über die Menschenmassen hinaus, die im Comic klein und ohne Identität auf den Straßen wimmeln. Kuper deutet einen dichten Verkehr an, von dem auch am Ende von Kafkas Das Urteil die Rede ist. Da es zu Kafkas Zeiten kaum dichte Ansammlungen von Wolkenkratzern gegeben hat, spielt Kuper offensichtlich auf zukünftige Entwicklungen an. In einer sterilen, versteinerten Landschaft kauert eine ältere männliche, in sich versunkene Gestalt, die verletzlich wirkt und Züge des Mannes vom Lande im Roman Der Proceß trägt. Diese Figur wird überragt von einem von Kuper erfundenen riesigen, furchterregenden Polizisten, der mit geballter Eisenfaust fast wie ein Roboter anmutet, auf einem der Panels die Größe der Hochhäuser annimmt und den nun auf dem Boden liegenden Mann mit einem mächtigen Knüppel erschlägt. Dieser wird am Ende tot weggetragen, was ebenfalls in Kafkas Aphorismus nicht vorkommt. Der Comiczeichner konkretisiert hier offensichtlich Kafkas Todesfantasien, die sich in Der Proceß , Die Verwandlung und Das Urteil finden, wo die Protagonisten von höheren Autoritäten umgebracht werden, bzw. selbst den Tod suchen. Kupers Zeichnungen ignorieren durchweg den Wortlaut des Aphorismus - z. B. ist auch kein Schnee zu sehen; doch die Kälte der Obrigkeit ist durchgängig spürbar. Der Zeichner liefert eine eigenständige Interpretation, die eine im Text unausgesprochene Bedeutung artikuliert. Mit den beiden auseinanderklaffenden Bedeutungsebenen von Text und Bild werden die Comicleser/ innen animiert, ihre eigene Interpretation hinzuzufügen. Gerade in der Aktivierung der Leser/ innen liegt der besondere Wert von guten literarischen Comics, die den literarischen Ursprungstext nicht verzerren oder schädigen, sondern ihn um eine neue visuelle Ebene bereichern. Stetters Ansatz unterscheidet sich von dem von Kuper, denn er integriert Kafkas Das Urteil fast vollständig in seinen Comic und weist der Baummetapher einen prominenten Platz zu. Sie wird zum Hauptakteur seiner Comicversion . Wenn man an den Aphorismus „Die Bäume“ und die zitierten Überlegungen Kafkas zu Bäumen denkt, wird deutlich, dass Stetter ein wesentliches Element in Kafkas Denksystem erkannt hat, obgleich der Baum in Kafkas Urteil fehlt. Die Titelseite von Stetters Comics zeigt den Schatten zweier Bäume. Da ist zum einen der schmächtige Baumschatten, den der Protagonist Georg Bendemann wirft. Er selbst steht so weit oben auf der Titelseite, dass sein Kopf nicht mehr zu sehen ist. Zum anderen dominiert ein kräftiger, bedrohlich schwarzer Schatten die ganze Seite, der mutmaßlich einer höheren Autorität gehört und dem Sohn kaum Platz lässt. Doch Stetter wagt sich weit über Crumb, Kuper, Montellier, Jaromír 99 und andere Zeichner hinaus, denn er bringt, wenn auch sparsam, Farbe in den Comic ein. Auf der ersten Seite sehen wir eine lange Allee mit jungen Bäumen in hellgelbem Sonnenlicht, die gerade Knospen angesetzt Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 309 haben. Diese freundlich anmutende Umgebung reflektiert eine gewisse Selbstgewissheit des Protagonisten, die er zunächst noch besitzt. Aber schon zwei Seiten später betrachtet er verunsichert einen dunklen, kahlen und knorrigen Baum vor einer Stadtlandschaft, die wenig Anheimelndes hat. Das helle Sonnengelb auf den Panels zu Anfang, die Aufbruch und eine positive Entwicklung versprechen, wechselt bald in eine matt-rötliche Färbung. Die wenigen blässlichen und sparsam aufgetragenen Farben haben eine starke Symbolkraft: Gelb verbreitet Erwartung, das satte Grün erinnert an Träume und Fantasien, das Rötlichbraune weckt Assoziationen an das Ungemütliche und Unwirtliche, das Rot signalisiert Chaos und Katastrophen, das Schwarze verbreitet Schrecken und das Weiße evoziert die Vorstellung einer beängstigenden Leere. Wenn man der Interpretation des Religionswissenschaftlers Karl Erich Grözingers folgt, steht „rot für Gottes strenges Gericht, weiß für seine Liebe und Gnade“. Er bezieht sich hierbei auf Gershom Scholem und die Interpretation von Farben in der Kabbala (Grözinger 130). Während Georg noch den unwirtlichen, entlaubten Baum vor einer Fluss- und Stadtlandschaft ansieht, denkt er schuldbewusst an seinen Freund, der sich in Russland in Not befindet und den er lange nicht kontaktiert hat. Bildlich wächst aus dem Kopf des Protagonisten nun lianenhaft ein kräftiges tropisches Baumgrün, vor dem der Oberkörper seines vermeintlichen Freundes eingezeichnet ist. Ein paar Seiten weiter mutiert das Grün zum Bart des Freundes, den er zu seiner Hochzeit einladen will. Auf den folgenden Seiten überwuchert das üppige Grün der fremden Umgebung des Freundes auch Georgs Welt. Das Undifferenzierte der tropischen Wucherungen - oder sollte man sagen, der wuchernden kreativen und abstrakten Phantasie, in die Georg sich verstrickt - lassen seinen zwielichtigen Gemütszustand erkennen, sowie die Fragwürdigkeit seiner Behauptungen über seine Freundschaft und seine Ambivalenz dem Vater und der Heirat gegenüber. Zurück in der Realität mit gelbem Hintergrund werden die zartgrünen Frühlingsbäume auf Georgs mentalem Weg visuell zu gemauerten Schornsteinen. Eine Realität hinter der Realität dringt somit aus dem Innern der Figur des Protagonisten, für den der Comiczeichner die Welt so malt, wie Georg sie fühlt. So verwandelt sich der schwarze Fabriksmog, der aus den Schornsteinen steigt und die Angstsituation des jungen, überforderten Kaufmanns widerspiegelt, in einen giftig-ungesunden Wald mit fast tiefschwarz wehenden Baumkronen. Stetter visualisiert aber auch Georgs Erfolgsphantasien und seine sexuellen Wünsche, um sie sogleich wieder in Zweifel zu ziehen. Die Heirat, die Georg schon geplant hat, würde ihn an die Fabrik des Vaters - die Stetter angsteinflößend in ihrer kalten Technik fast wie in Chaplins Film Moderne Zeiten darstellt - und damit an die von ihm gefürchtete Gesellschaft und Familie ketten. 310 Helga Kraft Eine Sexszene vor gelbem Hintergrund zeigt zunächst zwei nackte Leiber im Liebesspiel auf einem Bett, um dann - unerwartet - daneben Georgs übergroße Fäuste zu präsentieren, die Wut und Abneigung signalisieren. Dass hier Franz Kafka und seine Verlobte Felice Bauer gemeint sind, ist schon daran zu erkennen, dass das bekannte Verlobungsfoto der beiden in gleicher Pose an der Wand hängt, die Gesichter jedoch total ausgelöscht sind. Auf diese Weise werden biografische Elemente minimal angedeutet (Stetter 15), die Ambivalen- Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 311 zen, die Kafka sozialen und erotischen Bindungen gegenüber empfand, jedoch explizit herausgearbeitet. Offensichtlich steht die Beziehung zur Braut und zur Sexualität im Konflikt mit Georgs Sehnsucht nach dem exilierten Freund, der für ihn - wie es visuell angedeutet ist - Kreativität und ein geistig aktives Leben bedeutet. Zu Beginn des Textes wird Georg Bendemann von Kafka als ein Mann gezeichnet, der den Vater zu entmachten und mit einer Heirat eine gesellschaftlich anerkannte Position zu erringen sucht. Stetter zeichnet Georg jedoch nicht als einen erfolgreichen Geschäftsmann, sondern durchweg als einen verunsicherten Jüngling, der ganz und gar nicht wie Kafka aussieht. Es fällt auf, dass die Gesichtszüge des Freundes in Russland visuell nur dann sichtbar werden, wenn er allein auf einem Panel erscheint (Stetter 8-9); wenn Georg und sein Freund zusammentreffen, ist das Gesicht des Freundes stets unkenntlich (z. B. 19). Manchmal wird er dunkel als Scherenschnitt dargestellt (34); eine Ausnahme bildet nur das Panel, das der Vater imaginiert (29). Durch Hut und Bart wird der Freund stets als Fremder und Reisender gekennzeichnet. Stetters Zeichnungen deuten darauf hin, dass hier zwei Figuren eine Identität teilen, wie es auch Kafkas Text nahelegt. Durch sein Engagement im Geschäft und seine Heiratspläne sieht Georg sich irrtümlicherweise nahe am Ziel seiner Wünsche, die Stelle des Vaters einzunehmen. Dieser ist jedoch keineswegs so kränklich und senil, wie Georg dies wünscht. Auf der anderen Seite ist Georg in seinem Machtbegehren durchaus gespalten, er fühlt sich dem sensiblen Freund verbunden, der sich in der Gesellschaft, die der Vater vertritt, nicht zurechtfinden kann. Stetter setzt die Baummetapher besonders für das Spannungsverhältnis zwischen Vater und Sohn ein (20). 312 Helga Kraft Wenn Kafkas Text davon spricht, dass Georg ins Zimmer des Vaters gehen will, steht Stetters Georg plötzlich vor einem knorrigen, dunklen, fast farblosen Baum ohne Blätter, der trotzdem riesig und vielfach verzweigt vor schwarzem Hintergrund aufragt. Dies deutet an, dass der Vater bzw. die Gesellschaft trotz fehlender Vitalität noch immer stärker als der schmächtige Sohn sind. Vor dem Baum und vor dem Vater wirkt die Georg-Figur winzig und verloren. Offensichtlich fühlt sich der Sohn bedroht und hat Angst vor den Furcht einflößenden väterlichen Instanzen. Durch seine Realität geht ein Riss, der an Büchners berühmte Erzählung Lenz erinnert. Zunächst findet sich neben Georgs Kopf ein rötlich kolorierter Fleck, von dem sich spinnenartig schwarze Risse ausweiten. Deutet dieses Rot auf das kabbalistische „Gottesgericht“? Ein paar Seiten später erscheinen die gleichen Risse auch auf Georgs Stirn. Es ist endgültig etwas gerissen. Stetter zeichnet den Protagonisten konsequenterweise dann auch gespalten, indem er ein Panel mit dem Bild seines Kopfes zerschneidet und diesen auseinanderklaffen lässt (16). Dadurch wird so etwas wie Wahnsinn sichtbar. Dann folgen noch acht Seiten surrealistischer Anklagen des Vaters gegen ihn, höllisch rötlich und schwarz koloriert, wobei der Vater ihn als gefährlichen Rivalen wörtlich zum Tode verurteilt (42). Gegen Ende des Buches drängt sich wieder verlockend die Gegenwelt - die tropisch grünen Bäume, die mit dem Freund und seiner wuchernden Phantasie assoziiert sind - in Georgs Imagination hinein. Er geht in diesem Dschungel dem Freund entgegen, der erstmalig nicht mehr dunkel, sondern als weiße Figur gezeichnet ist und aus den Baumkronen schließlich ins Schwarze fällt: das Ende ist vorprogrammiert (34). Ist dies das kabbalistische Weiß der Gnade, und das farblose Schwarz des Nichts? Der Fall des Freundes zieht Georgs Sturz in den Fluss nach sich. Im Gegensatz zum fallenden, imaginierten geistigen Freund acht Seiten vorher, der weiß erschien, ist die stürzende Figur Georgs schwarz gezeichnet; sie ist das Negativbild, die andere, dunkle Seite seiner gespaltenen Persönlichkeit. Anstatt am Ende den „unendlichen Verkehr“ zu bebildern, von dem in Kafkas Text die Rede ist - und den Kuper visualisiert hat - platziert Stetter als letztes Bild stattdessen noch einmal einen riesigen, total zerzausten Baum, der nun recht gebrechlich scheint und jeden Moment abzuknicken droht. Der Zeichner signalisiert auf diese Weise, dass es auch um die Gesellschaft, in welcher der Vater eine Machtinstanz war, schlecht bestellt ist. Stetter schafft damit eindrucksvolle neue Bilder und aktualisiert in genialer Weise Das Urteil für eine junge Generation von Leser/ innen, die Kafkas Angstbilder in der heutigen globalen Gesellschaft gut verstehen können. Kafka in Comics. Unter besonderer Berücksichtigung von Moritz Stetters Das Urteil 313 314 Helga Kraft Works Cited Alt, Peter-André. Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie. München: C. H. Beck, 2005. Biale, David. “A Letter from Gershom Scholem to Zalman Schocken, 1937.” Gershom Scholem: Kabbalah and Counter-History . Cambridge, MA : Harvard UP , 1982. Corbeyran, Eric und Richard Horne. Die Verwandlung von Franz Kafka . Trans. Kasi Wilksen. München: Knesebeck, 2013. Dingeldey, Philip J. „Kafka im Comic.“ Titel. Kulturmagazin 17. Sept. 2014. Web. 8. Juli 2015. Fellner, Friederike. Kafkas Zeichnungen . Paderborn: Wilhelm Fink, 2014. Fortune, Dion. The Mystical Qabalah. York Beach, ME : Samuel Weiser, 2000. Friedrich, Ute. „Komik - Comic. 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