eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 39/1

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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2014
391 Kettemann

Christine Schwanecke, Intermedial Storytelling. Thematisation, Imitation and Incorporation of Photography in English and American Fiction at the Turn of the 21st Century. (Studies in English Literary and Cultural History 52) Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2012.

2014
David Klein
Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 1 99 Christine Schwanecke, Intermedial Storytelling. Thematisation, Imitation and Incorporation of Photography in English and American Fiction at the Turn of the 21 st Century. (Studies in English Literary and Cultural History 52) Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2012. David Klein Auf ihre umfangreiche Studie zum Intermedial Storytelling in der englischen und US-amerikanischen Erzählliteratur um die Wende zum 21. Jahrhundert stimmt die Verfasserin ein mit einem Spiel. Zu lesen ist zu Beginn ein Bibelzitat aus dem ersten Evangelium nach Johannes: „Im Anfang war das Wort.“ Blättern wir weiter, eröffnet sich unserem Blick ‘Fleischgewordenes’ in Form einer doppelseitigen Photocollage, die sich aus zweimal fünfunddreißig Einzelbildern zusammensetzt, die ihrerseits auf jeder Einzelseite zu je zwei weiteren Gruppen geordnet sind. Es sind dies Bilder, wie wir sie aus den Nachrichten, dem Fernsehen oder der gedruckten Presse kennen: Soldaten auf dem Schlachtfeld in Afghanistan, die Explosion einer Atombombe, John F. Kennedy am Rednerpult, die beleuchteten Straßen einer chinesischen Metropole, winkende Politiker, lächelnde Berühmtheiten, ein freundlich grüßender Dalai Lama, ein die Zunge bleckender Albert Einstein und dazwischen Kunstwerke, Gemälde, architektonische Meisterleistungen. Was wir sehen sind Bilder, die, mehr als nur Photographien, zugleich ‘Bilder’ unser Welt und Wirklichkeit sind. In dieser schier überwältigenden Fülle stehen die Einzeldarstellungen jedoch nicht allein. Bisweilen gehen sie einen sonderbarem Dialog mit benachbarten Abbildungen ein: So grenzt die Hand Gottes, die sich in Michelangelo Buonarottis sixtinischem Deckenfresko zart nach der Hand Adams ausstreckt, direkt an eine Photographie des Eiffelturms, der sich in hellem Mittagslicht gen Himmel reckt. So versucht Marilyn Monroe das Aufflattern ihres weißen Kleides in der berühmten U-Bahn-Szene aus Billy Wilders The Seven Year Itch (1955) dort kokett zu unterbinden, wo ein anderer, kälterer Wind auf dem Großen Sankt Bernhard den roten Umhang Napoleon Bonapartes und die wallende Mähne seines Schimmels in Jacques Luis Davids monumentalen Feldherrenbildnis (1800) bergauf treibt. Auch gleicht das charakteristische Winken Queen Elizabeth II dem ausgestreckten Arm der ‘benachbarten’ Freiheitsstatue, das gelbe Muster des Kostüms der First Lady der gelb-schillernden Zeichnung einiger angrenzender Tropenfische, und auf den qualmenden Nordturm des World Trade Centers am 11. September 2001 antwortet ein seltsam zergliederter, eine Treppe hinabsteigender Akt aus dem Atelier eines derjenigen Künstler, die sich dereinst ‘Futuristen’ nannten und rebellisch die Zerstörung der Bibliotheken und Museen gefordert hatten. Wenngleich also jedes der Bilder in Schwaneckes expositorischer Collage ein in sich geschlossenes Geschehen zeigt, so zeigt es doch immer auch auf andere Bilder und generiert auf diese Weise einen Sinnüberschuss, der selbst zwar nicht mehr zu sehen ist, wohl aber im Raum ‘dazwischen’ - im ‘inter’ - erahnbar wird: Die Sprachlosigkeit des photographischen Mediums ist im Rezensionen 100 Begriff, sich im syntaktischen Bilderverbund selbst aufzugeben. 2 Die Photographie - so scheint es - steht kurz davor, zur Schrift oder gesprochenen Sprache zu werden. Sie ahmt sie nach, nimmt Anleihen bei ihrem Schwestermedium, tut so, als sei sie etwas, das sie nicht ist. Vielleicht verweisen auf diesen Umstand noch die einzig verbliebenen Schriftzeichen in der Photocollage 3 , eckig umklammerte syntaktische Ellipsen, Auslassungszeichen also, die die beiden Bilderblöcke auf jeder der beiden Seiten ein weiteres Mal im oberen Drittel durchschneiden. In ihrer Funktion nicht Anwesendes anzuzeigen, verweisen auch sie auf jenen Raum in dem sie selbst stehen, auf jenes ‘inter’ also. Was dort im Begriff ist, sich zu materialisieren, kann in den Bildern nicht mehr festgestellt werden, umkreist diese jedoch wie jener Wind, der Marylin Monroe durch den Rock fährt und Napoleons Umhang in Bewegung versetzt. Dieser Wind ist wie ein ‘Sinn’, der nur dort aufblitzt, wo die Bilder versuchen, Schrift zu werden. Er kann nur zwischen ihnen erahnt, nicht aber in ihnen festgestellt werden, weswegen er abflaut, wo nur eines der Bilder alleine steht: „The image“, so heißt es mit Roland Barthes auf der darauffolgenden Seite, „is peremptory, it always has the last word.“ Die Betonung liegt in diesem Fall - so ließe sich spekulieren - auf dem Singular, dem the. Was hier als Präsenz und Absenz der Schrift in einem photographischen Artefakt erahnbar wird, dem spürt Schwanecke in umgekehrter Blickrichtung in zwölf eindrucksvollen Einzelanalysen englischsprachiger Romane der letzten zwanzig Jahre nach. Werden in der expositorischen Kollage Photographien zur Schrift, so geht es - vereinfacht gesagt - in der Folge um das Verhältnis erzählender Literatur zur Photographie. Gerechtfertigt erscheint ein solches Unterfangen - wie die Vf. darlegt - angesichts der immensen Proliferation photographischer Artefakte, die der Digitalisierungsschub ab den 1990er Jahren in den untersuchten Kulturräumen mit sich gebracht hat. Denn hier eröffnet sich ein Experimentierfeld, das für Schreibende und Photographierende gleichermaßen neue Möglichkeiten bereithält und die konventionellen Grenzen der jeweiligen Zeichenverbundsysteme erneut zum Gegenstand spielerisch-literarischer Verhandlung macht. Ausgangspunkt der Studie bildet also zunächst ganz allgemein die Frage, wie weit der Einfluss des immer deutlicher sich ausbreitenden photographischen Mediums auf die erzählende Literatur reicht: Reagieren narrative Texte auf die rasche Verbreitung und Ubiquität photographischer Artefakte nach dem Digitalisierungsschub der 90er Jahre? Und wenn ja, mit welchen Mitteln? Inwieweit kann ein narrativer Text überhaupt ‘photographisch’ sein, ohne dabei seine Narrativität aufzugeben? Ab wann darf eine Photographie als ‘narrativ’ betrachtet werden, ohne dabei zum narrativen Text zu werden? Und inwieweit können hybride Gattungen oder Texte, die andere, nicht-verbale Medien in sich aufnehmen oder sie ‘verschlingen’, wie Schwanecke in Anlehnung an Virginia Woolf formuliert (5), Geschichten erzählen? 2 Zur Frage, ob die Photographie eine Sprache ist, vgl. Barthes (1961/ 1982: 9-24). 3 Abgesehen von denjenigen Schriftzeichen, die in vereinzelten Photos zu finden sind. Rezensionen 101 All dies sind Fragestellungen, die in den Bereich der Intermedialitätsforschung fallen. Um sie beantworten zu können, bedarf es methodischer Vorüberlegungen. Schwanecke geht hier behutsam und konsequent vor und nähert sich dem Begriff der Intermedialität zunächst über die für ihren besonderen Fall am intermedialen Dialog beteiligten Agenturen ‘Medium’, ‘Photographie’ sowie ‘literarischer bzw. narrativer Text’. Ein Medium begreift Vf. mit einer Definition von Werner Wolf (2002: 13) als je nach Konvention und Gebrauch verschiedenes Mittel der Kommunikation. Es ist somit stets funktional gebunden an historische und soziale Faktoren, die materielle und semiotische Aspekte seines Gebrauchs gleichermaßen regeln. ‘Medium’ ist vor diesem Hintergrund also keine feststehende Größe, sondern ein „Kompaktbegriff“ (13), der semiotische Systeme wie die gesprochene oder geschriebene Sprache, materielle oder technische Kanäle wie Druck-, Daten- oder Funktechnik, soziale Faktoren wie Produktionsbedingungen, Distributionswege und Rezeptionsgewohnheiten, sowie konkrete Artefakte wie Filme, Opern, Texte oder Photographien gleichermaßen umfasst. Was narrative Texte oder die Photographie als Medium auszeichnet, kann also nur im breiteren Kontext der genannten Faktoren beantwortet werden. Dasselbe gilt für mögliche Momente von Intermedialität, die Vf., erneut mit Werner Wolf (2002: 16), als Momente der Transgression konventionell verschiedener Mediengrenzen definiert. Trägt man der Mehrdimensionalität des zugrunde liegenden Medienbegriffs Rechnung, so wird schnell deutlich, dass mediale Transgressionen nur insoweit nachweisbar sind, als feststeht, was diesseits und was jenseits der unterschiedlichen Mediengrenzen liegt, sprich: was Photographie als ‘Photographie’ und was Narrativität als ‘Narrativität’ kennzeichnet. Was die Photographie betrifft, mangelt es bis heute an einer allgemein akzeptierten Theorie, weswegen Vf. aus einer Vielzahl verschiedener Ansätze gezielt die für das eigene Vorhaben wichtigsten Eigenschaften versammelt. Dies geschieht stets in Rückbindung an die Aspekte des Kompaktbegriffs Medium: In materieller Hinsicht ist die Photographie ein graphisches Bild, das sich durch das Vorhandensein einer räumlichen Begrenzung und spezifische kompositionelle Aspekte auszeichnet. Anders als die Sprache ist die Photographie nicht-linear bzw. atemporal. In semiotischer Hinsicht ist sie, mit Roland Barthes, zudem bestimmt von einem Paradox, insoweit sie zwei Botschaften beinhaltet, von denen die eine, codierte, sich erst auf Grundlage der anderen, nicht-codierten, entwickelt (vgl. 33). Dies führt zu einer grundsätzlichen Polysemie der Photographie, zumal die Grenze zwischen codierter und nicht-codierter Botschaft oft schwer zu ziehen ist. Darüberhinaus ist der semiotische Status der Photographie insoweit unbestimmt, als sie Symbol, Index und Ikon zugleich ist (vgl. 32f). Was zuletzt ihre konventionellen Produktions- und Rezeptionsgewohnheiten betrifft, wird ihr häufig reine Objektivität zugesprochen, da das, was sie zu sehen gibt, mit Sicherheit einmal so gewesen ist, wie Vf. erneut mit Roland Barthes formuliert (vgl. 33). Was die Eigenschaften narrativer Texte anbelangt, greift Vf. auf die kognitive Narratologie zurück. Grundlage für das Vorhandensein von Narrativität bildet hier zuvorderst ein kognitiver Modus des Rezipienten, der Erfahrungen Rezensionen 102 im Hinblick auf ein spezifisch narratives Makro-Schema hin verarbeitet, das sowohl in der Realität als auch in künstlerischen Artefakten vorkommen kann (vgl. 36). Ausgelöst wird ein solcher Modus durch besondere Stimuli, welche ihrerseits entweder werkextern verankert sein können wie in den individuellen Rezeptionsgewohnheiten, oder werkintern vorliegen können wie in Form von Genrebezeichnungen oder eines voice overs im Film. Die werkinternen Stimuli oder „micro-frames“ (37) sind es sodann, die aus einem Kunstwerk ein spezifisch narratives machen. Vf. nennt diese mit Bezug auf Gerald Prince ‘Narrateme’ (vgl. 37) und unterteilt sie sodann in solche inhaltlicher, syntaktischer und qualitativer Art. Inhaltliche Narrateme sind Elemente und Eigenschaften der Geschichts- oder histoire-Ebene wie Zeit, Raum, Figur, physische oder mentale Handlungen (vgl. 39). Syntaktische Narrateme fallen in den Bereich der Vermittlungs- oder discours-Ebene 4 wie Chronologie, Selektion, Teleologie Kausalität u.a., während sich qualitative Narrateme auf eine „Sinndimension“ (40, Wolf 2002a: 44) beziehen, die über das Dargestellte hinausgeht, wie beispielsweise der nicht mehr explizierte Reifeprozess einer Figur. Spielt letztere Kategorie im Hinblick auf intermediale Fragestellungen nur eine untergeordnete Rolle, so sind es vor allem inhaltliche und syntaktische Narrateme, die bei der Identifikation und methodischen Abgrenzung medialer Transgressionen in Erzähltexten behilflich sein sollen. Denn entscheidend ist, dass Narrateme im Sinne mentaler Mikroschemen (vgl. 44) sowohl transgenerisch als auch transmedial sind (vgl. 35f sowie 41f). Narrativität kommt damit nicht mehr exklusiv Erzähltexten zu, sondern kann - je nach Grad der relativen Häufigkeit oder Dominanz entsprechender Stimuli - kognitiv in solchen Gattungen oder Medien aktualisiert werden, die traditionell nicht als narrativ gelten wie beispielsweise das Drama oder die Photographie. Analog gilt dasselbe für entsprechende, die Photographie evozierende Mikroschemen, die Vf. ‘Photoreme’ nennt und die sich durch Visualität, Begrenztheit, Atemporalität, Polysemie, Objektivität u.ä. auszeichnen. Je höher ihre Anzahl und je prototypischer ihre Okkurrenzen, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Medium oder Zeichensystem ‘Photographie’ bei der Rezeption makroschematisch aktiviert wird. Die Grenze, die zwischen den beiden Medien verläuft, ist damit fließend. Dies ist dort von besonderer Relevanz, wo Narrateme und Photoreme in einem singulären Zeichenverbundsystem vorliegen wie beispielsweise in einem Erzähltext ohne Abbildungen, der dennoch Strukturen oder Eigenheiten der Photographie nachahmt. Für einen solchen Fall schlägt Irina Rajewsky den Begriff der ‘intermedialen Bezugnahme’ vor (vgl. Rajewsky 2002: 17), den Vf. zusammen mit dem Begriff der ‘Medienkombination’ (im Sinne einer Kombination zweier konventionell distinkter Zeichenverbundsysteme in einem singulären Artefakt) übernimmt (vgl. 19f) und in ein eigenes Stufenmodell integriert (vgl. 48). Die intermediale Bezugnahme lässt sich darin entweder durch die Thematisierung der Photographie auf Inhaltsebene (A) oder 4 Zur Unterscheidung von histoire und discours vgl. Genette (1972/ 2011) sowie weiterführend Rimmon-Kenan (1983). Rezensionen 103 durch ikonische Imitation auf Vermittlungsebene (B) realisieren. Unterschieden werden hier wie dort je zwei weitere Abstufungen: Im ersten Fall wird die bloße Thematisierung der Photographie von zunehmend strukturellen Bezügen auf Inhaltsebene abgegrenzt (A1/ A2) und im zweiten Fall wird die sporadische Evokation des photographischen Mediums von einer solchen abgehoben, die auf allen Textebenen vorliegt (B1/ B2). Ist das Maß an Intermedialität im Bereich der intermedialen Bezugnahme fließend und je abhängig von Anzahl und Markiertheit der Photoreme bzw. Narrateme, so bildet die Medienkombination in Schwaneckes Schema eine gesonderte Klasse (C), zumal hier zwei konventionell distinkte Zeichenverbundsysteme in einem hybriden Artefakt vorliegen. Auch hier wird ein weiteres Mal unterschieden und zwar zwischen solchen hybriden Texten, die durch semiotische Heterogenität (C1) gekennzeichnet sind, und solchen, in denen semiotische Homogenität (C2) überwiegt. Je ausgewogener das Verhältnis zwischen Photographie und Text in Bezug auf Quantität und Sinnkonstitution, desto deutlicher die semiotische Homogenität des entsprechenden Artefakts (vgl. 52). Zwar scheint sich die Photographie der Narrativität in besonderem Maße zu widersetzen, sie kann dennoch ein entsprechendes mentales Schema auslösen, wie Vf. anhand des Kuleshov-Effekts illustriert (53f). Das Stufenmodell erlaubt eine sinnvolle Systematisierung jüngerer und jüngster intermedialer genres. Jeder der im zweiten Teil der Arbeit untersuchten Erzähltexte findet darin seinen Platz. Wenngleich sich also die Bezüge der zwölf analysierten Werke untereinander auf den ersten Blick nicht erschließen, so laufen sie hier in einem neuralgischen Punkt zusammen und werden strukturell aufeinander beziehbar. Auch dienen die unterschiedlichen Abstufungen des Modells als Spielanordnungen, die Analysevorgaben machen und dabei die Funktionsstelle jeder Einzelanalyse im Gesamtzusammenhang der Arbeit erleichtern. Die Veränderungen prototypischer medialer Strukturen werden so auf einen Blick sichtbar. Dem Schema gemäß befasst sich Schwanecke zunächst mit solchen Texten, in denen Photographie zwar allein auf der Inhaltsebene vorkommt, hier jedoch eine zunehmende dominante Rolle spielt, angefangen bei Don De Lillos Mao II (1991) weiter über Paul Austers Leviathan (1992) und Kate Atkinsons Behind the scenes at the Museum (1995) bis zu Penelope Livelys The Photograph (2003). Ob die allein inhaltlichen Bezüge zur Photographie hier einen Fall der Intermedialität darstellen, darf, wie Vf. selbst anmerkt, zwar in Frage gestellt werden (vgl. 60). Die besondere Funktion, die die Photographie in den genannten Texten einnimmt, ist jedoch, so Vf. weiter, für die Handlungswelt strukturgebend. Denn wie in den Einzelanalysen deutlich erkennbar wird, nimmt die Photographie hier gerade im Hinblick auf Figurenzeichnung, Geschichtsverständnis, Identitätsbildung, Mediengebrauch, Gedächtnisfunktion und Wirklichkeitskonstruktion eine Sonderstellung ein. Oft bildet sie die Schnittstelle, an der die entscheidenden Konfliktlinien verlaufen, wie dies beispielsweise in Mao II im spiegelbildlichen Einsatz des Mediums durch Pressewesen einerseits und Terroristen andererseits erkennbar wird. Die Möglichkeiten der Imitation der Photographie (im Sinne einer intermedialen Bezugnahme) sind mannigfaltig, wie Vf. in einem weiteren Schritt Rezensionen 104 zeigt. Sie erstrecken sich von der Nachahmung materieller Aspekte mittels Typographie wie den rechteckigen Textblöcken in Beryl Bainbridges Master Georgie (1998), bis zur Evokation photographischer Produktions- und Rezeptionsweisen wie Helmuts ‘photojournalistischem Blick’ in Rachel Seifferts The Dark Room (2001), der von einem objektiven Beschreibungsmodus und dominant parataktischem Satzbau begleitet wird. Sie zeigen sich sodann in der Evokation ästhetischer Aspekte des Mediums wie beispielsweise dem lückenhaften Handlungsverlauf, der episodischen und randomisierten Handlungsstruktur sowie den Kapitelanfängen in medias res in Gail Jones Sixty Lights (2004). Und sie zeigen sich, neben anderen Erscheinungsformen, durch „primacy of vision“ und „absence of sound“ (102) wie bei der figuralen und narrativen Wirklichkeitskonstruktion in Salman Rushdies The Ground Beneath Her Feet (1999). Je deutlicher und häufiger entsprechende Verfahren zur Anwendung kommen - so die These - ,desto wahrscheinlicher werden die Texte als ‘photographische’ rezipiert, wenngleich Photos darin nicht physisch präsent sind. In einem letzten Schritt untersucht Schwanecke Texte, in denen beide Zeichenverbundsysteme anwesend sind, sich in Funktion und Dominanz jedoch zunehmend durchdringen. Bilder sind hier imstande, die Schrift zu unterbrechen, sie zu konterkarieren oder das fortzusetzen, was sie sagt. Sie bilden damit neben der Schrift eine weitere sinngebende und interpretationssensible Ebene. Je offener entsprechend vielschichtige Sinnstrukturen sind, desto mehr steht der Rezipient in der Pflicht, sich an der Vervollständigung der dargestellten Welten zu beteiligen. So können Photos narrative Funktionen übernehmen, wie beispielsweise die Figurenzeichnung in Leanne Shaptons Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, Including Books, Street Fashion, and Jewelry (2009), oder zur Konstitution von Raum und Zeit beitragen wie in Aleksandar Hermons The Lazarus Project (2008). Auch können Photos anstelle der Schrift über psychische Zustände informieren, die nicht mehr versprachlicht werden können (vgl. 158f, 165), wie in Jonathan Safran Foers Extremely Loud & Incredibly Close (2005), wo sie gar bei der narrativen Konstruktion von Kausalitätsketten zum Einsatz kommen (vgl. 176). Gerade der offene aber subtile Widerspruch zwischen dem, was die Photos ‘sagen’ und dem, was die Schrift sagt, wie ihn Carol Shields in The Stone Diaries (1993) praktiziert, ist, wie Schwanecke zeigt, unweigerlich gekoppelt an Momente der Metaierung und einer Reflexion über die jeweiligen an der Semiose beteiligten Zeichensysteme. Momente der Intermedialität sind damit potentiell auch Momente der Medienreflexion. Gerade bei letztgenanntem Aspekt zeigt sich das besondere Potenzial intermedialer Kunst: Sie erkundet den Einfluss der Medien auf das Individuum und die Gesellschaft, auf Freiheit und Einschränkungen, Macht und Unterwerfung. Sie erlaubt in letzter Konsequenz eine Neubewertung der hauchzarten Zeichentextur, mit der sich eine Gesellschaft ‘umkleidet’ (184). Dies zu zeigen, gelingt Schwanecke in den pointierten Einzelanalysen in unterschiedlichsten Varianten und Spielarten. Ihr ist damit eine höchst innovative und originelle Studie gelungen. Ohnehin ist eine systematische Beschreibung in- Rezensionen 105 termedialer Beziehungen zwischen Photographie und Literatur lange überfällig gewesen. Zweifel ließen sich allenfalls anmelden, was den Rekurs auf die kognitive Narratologie im methodischen Teil betrifft. Denn hier stellt sich die Frage, inwieweit die Öffnung des Begriffs des Narrativen in transmedialer, transgenerischer und transdisziplinärer Hinsicht (36) sinnvoll ist. Zwar sind Momente von Narrativität aus kognitiver Perspektive ubiquitär. Die konzeptionelle Rückbindung intermedialer Fragestellungen an ein kognitives Schema führt jedoch nicht nur zurück zu einem „reader-based or reception-centred approach“ (36, Anm. 49), sondern bringt an manchen Stellen auch begriffliche Vermengungen mit sich, in denen medientheoretische Feinheiten in Gefahr geraten, nivelliert zu werden. Der Bildklassifikation W. J. T. Mitchells beispielsweise, der gemäß graphische Bilder (zu denen auch die Photographie gehört) von optischen, perzeptuellen, mentalen und verbalen abzugrenzen sind 5 , hält Vf. aus kognitiver Perspektive entgegen, dass das, was beim Betrachten eines Photos verstanden und wahrgenommen würde, sich von Betrachter zu Betrachter stark unterscheide (vgl. 30). Aus diesem Grund seien graphische Bilder den mentalen ähnlicher als auf den ersten Blick anzunehmen sei. Die Klassifikation Mitchells sei also nur bedingt anwendbar. Hier sind jedoch Einwände anzumelden. Denn gerade in der klaren Trennung zwischen unterschiedlichen Bildklassen, wie sie Mitchell vorschlägt, wird ein Horizont erkennbar, an dem sich die mögliche Komplexität der Photo- Sprache-Beziehung abzeichnet: Bleiben graphische von mentalen Bildern aus heuristischen Gründen streng unterschieden, so ist ein Photo in dem Moment kein ‘Photo’ mehr, wo ein Betrachter es anschaut oder darüber spricht. Es ist stattdessen zunächst ein perzeptuelles, sodann ein mentales und zuletzt ein verbales Bild. Dasselbe gilt für mehrere Betrachter, die sich über ein Photo austauschen. Auch sie reden (möglicherweise mittels verbaler Bilder) über mentale Bilder und im eigentlichen Sinn nicht über Photos. Es stellt sich damit erneut die Frage, was es bedeutet, ‘wie’ ein Photo zu ‘sprechen’ und, ob dies überhaupt machbar ist und nicht von vornherein an der Sprache scheitern muss. 6 Treibt man die Klassifikation Mitchells also auf die Spitze, so werden die sprachlichen Möglichkeiten intermedialer Bezugnahmen im Sinne 5 Zu den optischen Bildern gehören Spiegelungen oder Projektionen, zu den perzeptuellen gehören Wahrnehmungsdaten; mentale Bilder sind Träume, Erinnerungen oder Ideen, während verbale Bilder Metaphern oder Beschreibungen sind. Vgl. 30 sowie Mitchell (1986/ 1987: 10). 6 Vielleicht schreibt Roland Barthes aus diesem Grund über die Photographie: „[...] la photographie serait la seule à être exclusivement constituée et occupée par un message ‘dénoté’, qui épuiserait complètement son être; devant une photographie, le sentiment de ‘dénotation’, ou si l’on préfère, de plénitude analogique, est si fort, que la description d’une photographie est à la lettre impossible; car décrire [Herv. im Original] consiste précisément à adjoindre au message dénoté, un relais ou un message second, puisé dans un code qui est la langue [...]: décrire, ce n’est donc pas seulement être inexact ou incomplet, c’est changer de structure, c’est signifier autre chose que ce qui est montré“ (Barthes 1961/ 1982: 12). Und wenig später heißt es: „Si [...] il n’y a pas de perception sans catégorisation immédiate, la photographie est verbalisée dans le moment même où elle est perçue; ou mieux encore: elle n’est perçue que verbalisée [...]“ (ebd. 21). Rezensionen 106 der sprachlichen Imitation photographischer Kommunikation verschwindend klein. Sie werden dann bestenfalls erahnbar anhand von Momenten der Störung, der Reibung, der Paradigmatisierung 7 und der atemporalen Dysfunktionalität temporaler Sprache. Sie blitzen dort auf, wo die sprachliche Vermittlung an ihre Grenzen stößt, sie kündigen sich dort an, wo simulierte oder reale Medien in der Konkurrenz um Deutungs- und Bedeutungshoheit ihre je eigene Medialität hervorkehren. 8 Beschreiben ließen sich derartige Momente möglicherweise systematisch im Rahmen einer ‘konventionellen’ oder strukturalistischen Erzähltheorie, die Narrativität zuvorderst an das Vorhandensein einer fiktiven Sprechinstanz im Sinne eines Erzählersubjekts bindet. Dessen ungeachtet jedoch ist Schwaneckes Studie zum Intermedial Storytelling ein wichtiger und äußerst lesenswerter Beitrag zu einem sich zunehmend profilierenden Forschungszweig. Die hier genannten Einwände sind daher in erster Linie Aufforderungen zur produktiven Fortsetzung der wissenschaftlichen Diskussion. Bibliographie Barthes, Roland (1961/ 1982). L’obvie et l’obtus. Essais critiques III. Paris: Seuil. Genette, Gérard (1972/ 2011). Die Erzählung. München: Funk. Mahler, Andreas (2012). “Probleme der Intermedialitätsforschung. Medienbegriff - Interaktion - Spannweite.” Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaften 44/ 3-4. 239-260. Mitchell, W. J. T. (1986/ 1987). Iconology: Image, Text, Ideology. Chicago: U of Chicago P. Rajewsky, Irina (2002). Intermedialität. Tübingen & Basel: Francke. Rimmon-Kenan, Shlomith (1983). Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London: Routledge. Warning, Rainer (2001). “Erzähen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexplosion.” Romanistisches Jahrbuch 52. 176-209. Wolf, Werner (2002). “Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer Intermedialen Erzähltheorie.” In: Vera Nünning/ Ansgar Nünning (eds.). Erzähltheorie Transgenerisch, Intermedial, Interdisziplinär. Trier: WVT. 23-104. David Klein Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland 7 Zum Begriff des Erzählens im Paradigma vgl. Warning (2001). 8 Vgl. in diesem Zusammenhang Mahler (2012: 257ff.).