eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 33/1

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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Die Entstehung des Literarischen in den westlichen Kulturen bedarf der Erklärung. Der vorliegende Rezensionsaufsatz greift die von Verena Olejniczak Lobsien und Eckhard Lobsien in drei umfangreichen, ineinandergreifenden Bänden vorgetragene These vom Zusammenhang philosophischer Skepsis und literarischen Imaginierens auf, indem er zunächst den Gedankengang der Einzelbände eingehend würdigt und ihn sodann auf andere Phänomene und Theorien literarischer Emergenz zu öffnen sucht.
2008
331 Kettemann

Skepsis – Imagination – ‘Kultur’

2008
Andreas Mahler
Aus Anlass von Verena Olejniczak Lobsien (1999). Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur. Nikolaus von Kues, Montaigne, Shakespeare, Cervantes, Burton, Herbert, Milton, Marvell, Margaret Cavendish, Aphra Behn, Anne Conway. München: W. Fink; Verena Oleniczak Lobsien/ Eckhard Lobsien (2003). Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert. München: W. Fink; Eckhard Lobsien (2003). Imaginationswelten. Modellierungen der Imagination und Textualisierungen der Welt in der englischen Literatur 1580-1750. Heidelberg: Winter. (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. 19). AAA - Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik Band 33 (2008) Heft 1 Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionsartikel Skepsis - Imagination - ‘Kultur’. Zu Genealogie und Funktion des Literarischen in Früher Neuzeit Andreas Mahler Die Entstehung des Literarischen in den westlichen Kulturen bedarf der Erklärung. Der vorliegende Rezensionsaufsatz greift die von Verena Olejniczak Lobsien und Eckhard Lobsien in drei umfangreichen, ineinandergreifenden Bänden vorgetragene These vom Zusammenhang philosophischer Skepsis und literarischen Imaginierens auf, indem er zunächst den Gedankengang der Einzelbände eingehend würdigt und ihn sodann auf andere Phänomene und Theorien literarischer Emergenz zu öffnen sucht. 1. Der Frühneuzeitforschung ist ein Triptychon geschenkt. Es ist ein Triptychon der Möglichkeit. Der linke Flügel zeigt die Geburt der Literatur aus dem Geist der Skepsis; der rechte behauptet ihre Apologie aus den unabweisbaren Belegen ihrer Potenz; das Zentralbild feiert die Apotheose der ihr zugrunde- Andreas Mahler 120 1 Ich benutze im Folgenden die Sigel SP (Skeptische Phantasie), UI (Unsichtbare Imagination) und IW (Imaginationswelten). liegenden Kraft der Imagination. Seine Existenz verdankt sich den Bemühungen eines schreibenden Paars. Dessen Projekt nimmt seinen Ausgang in einer im Umkreis des Tübinger Graduiertenkollegs zu ‘Pragmatisierung/ Entpragmatisierung’ entstandenen Schrift seines weiblichen Parts; es fundiert sich in den gemeinsam niedergelegten (Teil-)Ergebnissen einer in Bochum verankerten Forschergruppe zu ‘Imagination und Kultur’; es kanalisiert sich in achtzehn einer Donnerstagsrunde im Berliner Lokal Diener zugeeigneten Textanalysen frühneuzeitlicher Imaginationswelten beim männlichen (Wider-)Part samt einem Versuch ihrer Systematisierung. Gemeinsamer Fluchtpunkt ist ein engagiertes Plädoyer für eine Literatur - und eine Literaturwissenschaft - “mit großem L” (UI 9) 1 : funktionsgeschichtlicher Ausweis beider unabdingbarer Notwendigkeit. 2. Verena Lobsiens Geschichte einer frühneuzeitlichen skeptischen Phantasie gliedert sich in zwei Blöcke. Der erste zeichnet eine Genealogie philosophischer Skepsis (SP Kap. I + II); der zweite unternimmt die im Untertitel vermerkte ‘andere’ Geschichte der frühneuzeitlichen - vornehmlich englischen - Literatur entlang der ebendort ein wenig ungelenk aufgeführten Linie von den Anfängen bis hin zu Anne Conway (SP Kap. III-VII). Beider Verbindung stellt die Grundthese: Die Skepsis als Ort diskursiver Infragestellung welterklärender Systeme des Denkens und Argumentierens eröffnet einen Raum grundständiger Alterität, den die Literatur in den autoritätsdestabilisierenden Pluralisierungswirren der frühen Neuzeit funktional füllt. “Ermuntert”, so Lobsien, “die Skepsis zu einem ‘tropischen’ Denken, für welches eines auch stets ein anderes sein könnte, so kann sie etwa ab der Mitte des 16. Jahrhunderts einer frühmodernen Literatur den Weg bereiten, die in einer bewusstseinsgeschichtlichen Situation des Geltungsverlusts der großen philosophischen und theologischen Systeme Erfahrungen der Kontingenz, Unbestimmtheit und Unabgeschlossenheit bearbeitet, indem sie diese zugleich strukturell vermittelt.” Und zuspitzend fährt sie fort: “Als eine der Grundformen menschlichen Denkens und Handelns findet die Skepsis den ihr kongenialen Ort in der Literatur.” (SP 47) Dies gründet in ihrem “Meta- Charakter” (SP 10, 49). Der Skeptiker trifft nicht wie alle anderen Aussagen über Inhalte, sondern Aussagen über Aussagen; als “Weltzuschauer” (SP 23; Blumenberg) nimmt er primär nicht Stellung zur Welt, sondern zu Weltdeutung. In diesem Sinne ist sein Tun sekundär, parasitär, reflexiv; es zielt auf den Zustand der Schwebe: nicht auf das positive (oder negative) Dogma, Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 121 sondern auf den Ausgleich, das Aushalten der Aporie, auf ‘Isosthenie’. Erst der Verzicht aufs Urteil, auf Wahrheit, auf die Konklusion (SP 21, Anm. 1) erbringt die Seelenruhe der Ataraxie: wo andere bereits verzweifelt finden, bleibt der Skeptiker weiterhin zweifelnd auf der Suche; gelassen stellt er sich der Kontingenz; ihn prägt ein “Leben im Provisorischen”, ein “Sich-Halten im Als-Ob”, beständige Anerkenntnis der Möglichkeit, “dass alles auch ganz anders sein könnte” (SP 35). Hierin liegt die Verbindung zur Phantasie. Die Vorstellbarkeit schlechthinniger Andersheit etabliert eine zweistellige Relation - eine Struktur -, deren weltentgegengesetzter anderer Pol in früher Neuzeit zusehends nicht-häretisch besetzbar wird durch konkretisierende Imagination von Alternativen, durch die Fiktion, wie es denn anders sein könnte. Die skepsisgeleitete “Anerkennung der Konstruiertheit der Wirklichkeit” (SP 27) gebiert die Möglichkeit setzender Gegen-Konstruktion und mit ihr das Hin und Her der reinen Vorstellung, die Kipp-Bewegung alterierender Verwerfung, beständige Oszillation. So setzt sich Imagination in Gang, so entstehen (und verlöschen) fiktive Imaginationswelten. Dies trägt in nuce das Gesamtprogramm. “Die frühneuzeitliche Imagination macht die Literatur zum Medium eines nicht-propositionalen Denkens, das sich als Performanz, Transformation oder Transgression vollzieht und nie zu einem Ende, einem Resultat gelangt.” (UI 9) Skepsis wie Imagination sind also reiner Prozess: greifbar nur an anderweitigen Ergebnissen, deren sie sich parasitär bedienen und die sie transformieren, ohne dass sich dort je substantiell ihr Wesen sehen lässt. Ihre ‘Wirte’ sind Diskurse oder Welten: so wie skeptisches Denken geronnenes Wissen in den Gedankenfluss zurücktreibt, überführt Literatur die vermeintliche Gewissheit geltender Weltvorstellung in die freie Imagination von Alternativen; ist Skepsis ständiges Umdenken des Denkens, so betreibt Literatur ein stetes Umimaginieren gesellschaftlicher Imaginate; das eine ist Denken des Denkens, das andere (De/ Re)-Konstruktion von Konstrukten, hie “Metaphilosophie”, da “sekundäre Modellierung” (SP 10, vgl. 45). Hieraus entfaltet sich das Gesamtprojekt: die Skeptische Phantasie stellt den ideengeschichtlichen Rahmen für die Ausprägung frühneuzeitlicher Literatur; die Unsichtbare Imagination verfolgt die anthropologischen Grundbedingungen freien Imaginierens; die Imaginationswelten kartieren Typen seiner fiktiven Auskristallisierung. 3. Die Rekonstruktion skeptischen Denkens ist prekär: seine Prozesshaftigkeit widersetzt sich der Verschriftung, die Negativität widersteht dem Dogma, seine Texte sind rar. Verena Lobsien profiliert die pyrrhonische Variante der Skepsis anhand des Grundrisses des Sextus Empiricus als “Struktur ohne Substanz” (SP 27): als grundständigen epistemologischen Relativismus, der Andreas Mahler 122 2 Zu Begriff und Konzept siehe die nach wie vor grundlegende Studie von Richard H. Popkin (1979). The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza. Berkeley, CA/ Los Angeles: Univ. of California Press. im Gegensatz zur akademisch-sokratischen Variante nicht einmal mehr im Nicht-Wissen Gewissheit findet, sondern das Wissen selbst als Möglichkeit wiederum nicht ausschließt (SP Kap. I). Operationale Grundfigur pyrrhonischer Skepsis ist der unstillbare Regress, ihre Wahrheit liegt, wenn überhaupt, alleinig “in der Suche” (SP 17, Anm. 1). Dies gewinnt Virulenz in schwindendem Glaubensoptimismus; dem noch bei Thomas von Aquin autoritativ erneuerten Regressverbot (Summa theologica I, 2.1ff.) begegnet im ausgehenden Mittelalter, namentlich in der “negativen Theologie” (SP 61, vgl. 53) des Nikolaus von Kues, von dem aus Lobsien ihre “Reihe frühneuzeitlicher Konfigurationen literarischer Skepsis” (SP 51) in Gang setzt, eine zweifelnd explorative Haltung, welche transgressiv ins Unbestimmte hinausdenkt, um das eingestandenermaßen Unzugängliche unter Umständen aus Versehen vorstellbar werden zu lassen. Gegen augustinisch geprägte Disziplinierung zu Innerlichkeit wird Erkenntnis außenorientiert, reflexiv, ‘exzentrisch’: der (theo-)logische Gottesbeweis wird ersetzt durch konjekturale textuelle Imagination eines deus absconditus; das nicht erreichbare Transzendente inszeniert sich in subjektgeprägter verbaler Performanz; die Illusion göttlicher Wahrheitsschau ist kontingent-spekulatives Werk prozessual eingesetzter docta ignorantia, erkenntnisoffenen Nicht-Wissens (SP 53ff.). “Der Text”, so Lobsien, “macht im Exerzitium des Unvermögens das Unmögliche zum Erlebnis, die coincidentia oppositorum in einem ‘Sagen’, das tatsächlich eine Dimension ‘Anders-als-Sein’ eröffnet, zur Leseerfahrung.” (SP 65) Dies ist der paradoxe Effekt eines skeptischen Platonismus: der Cusaner fingiert das Unvorstellbare als unmöglich-mögliche Idee, er inszeniert das prinzipiell Unsagbare als nicht ausschließbares, blitzhaft aufscheinendes Produkt performativer Rede (SP Kap. II). Solches Anders- Sehen, Anders-Sagen, solch skeptisches Erhoffen eines redegeleiteten, evidenzenthüllenden, ‘literarischen’ “Umspringens der Optik” (SP 46) dynamisiert - und säkularisiert - sich in der sogenannten crise pyrrhonienne 2 . Zwischen optimistischem Wahrheitsglauben und aporetischer Wahrheitsnegation eröffnet sie den “dritte[n] Weg” (SP 9) eines eigenständigen literarischen Denkens: aus den theologischen und philosophischen Diskursen emergiert eine frühmoderne “Ästhetik” (SP 53, 74 u.ö.). Positiver Angelpunkt hierfür scheint die 1562 von Henri Estienne in Paris veröffentlichte lateinische Übersetzung der Pyrrhonischen Hypotyposen des Sextus Empiricus (SP 11); sie führt über Montaigne auf den “Königsweg” (SP 87) der Rezeption skeptischen Gedankenguts in die englische Frühmoderne. Hieraus speisen sich die folgenden Lektüren: sie erkunden das differentiell über die Instanz eines projizierten/ supponierten Anderen laufende neue ‘literarische’ Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 123 3 Den Rekurs auf Florio erklärt Lobsien, wenn auch das Hin- und Herspringen zwischen englischer, französischer und häufig auch deutscher Version zuweilen irritieren mag, plausibel aus der “Kongenialität und Verbreitung” seiner Übersetzung, die es durchaus rechtfertige, seine Version der Essais “als Teil der englischen Renaissanceliteratur” (SP 87) anzusehen. 4 Mit der Vorstellung einer (in Gott verbürgten) ‘Wirklichkeitsgarantie’ im Gegensatz zu der von ‘Wirklichkeit als dem Resultat einer (vom Menschen erzielten) Realisierung’ bezieht sich Lobsien auf Hans Blumenberg (1964). “Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans”. In: Hans Robert Jauß (Hg.). Nachahmung und Illusion, München: Eidos. 9-27, S. 11ff. (vgl. SP 108, Anm. 1, und 127), auf dessen Schriften zur Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit sie sich generell anerkennend stützt: “Eine Überbietung vor allem der Blumenberg’schen Rekonstruktion ist weder vorgesehen noch scheint sie erforderlich.” (SP 52) Zum Begriff der hypotyposis als einer evidenzerzeugenden Gewissheitsfiktion, als Ort der Schaffung möglicher Alternativen zu einer - stets ausbleibenden - Evidenz siehe SP 104ff.; zu Hamlet als einer “Art ausgedehnter hypotyposis” SP 105. Denken, sie erkunden das tentative performative Erschreiben unvordenklicher Wahrheit im frühmodernen Text. Skepsis wie Literatur erweisen sich so als alteritätsabhängige Denkwie Schreibagenturen des Neuen: sie überführen die Teleologie heilsgewisser Antwort in die affirmationslos bleibende Kontingenz offener Fragen. Lobsien liest dementsprechend zunächst die Florio-Version von Montaignes Apologie de Raimond Sebond (Essais II.12) 3 wie auch Shakespeares Hamlet nicht als bloß darstellende Thematisierungen des Zweifels, sondern als Texte struktureller Erfahrbarmachung des relativistischen Horizonts endlosen Fragens: als vermeintliche Wahrheiten ausbalancierende “branloire perenne” (SP 86, Anm. 1) beim einen; als mögliche Alternativen ausspiegelnde Spur unendlicher Semiose beim anderen (SP Kap. III). Hierin emergiert ‘Literatur’ als Ort unabschließbaren Nachdenkens, ihre “Entpragmatisierung” (SP 21, vgl. 101): statt der Apologie - oder auch Widerlegung - der weltgerichteten natürlichen Theologie des Sebundus entsteht bei Montaigne eine Apologie des endlos imaginierenden schreibenden Ich, statt analogiegeleiteter Findung verlässlicher Wahrheit im Hamlet die Ausstellung analogistischen Findungswissens als epistemologisch wertlose “Endlosigkeit gleichwertiger Interpretationen” (SP 107). Der Verlust der Illusion garantierten Wissens “befreit” (SP 102) die Imagination zur - skeptisch immer schon durchstrichenen - Realisierungsagentur nurmehr und gleichwohl potentieller Erkenntnis: zu weltparallelen Konstrukten kreativer “Phantasie” (SP 101), zu gleichwertig nebeneinanderstellenden hypotypotischen Serien “mimetischen Imaginierens” (SP 104) 4 . Die ‘literarische’ Transposition der Isosthenie von der Inhaltsauf die Vermittlungsebene, die homologe Überführung dargestellter thematischer Skepsis in darstellende strukturelle, in die Erfahrbarmachung eines steten Anders-Sein- Könnens, bestimmt sodann die Folgekapitel. Sie entfalten einzelne Konfigurationen frühmoderner literarischer Skepsis. Die melancholische nutzt die humoralpathologische Charakterdisposition steten Schwankens zwischen Andreas Mahler 124 5 Mit dem Bild des Möbius-Bandes rekurriert Lobsien auf die Melancholie-Konzeption bei Martina Wagner-Egelhaaf (1997). Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart/ Weimar: Metzler (vgl. SP 137, Anm. 1, und 148, Anm. 3); zum Begriff der eine Sache für eine andere erscheinen lassenden tropelia bei Cervantes siehe SP 144, zu ihrem Effekt der “wechselseitigen Relativierung simultan präsenter Muster” SP 137, Anm. 2. 6 Der Gedanke der Umstellung von Finalität auf Kausalität, von einer ‘Motivation von hinten’ auf eine ‘Motivation von vorn’ findet sich bei Clemens Lugowski (1976). Die Form der Individualität im Roman (1932). Frankfurt a.M.: Suhrkamp; zum Konzept der ‘Vorahmung’ siehe Hans Blumenberg (1957). “‘Nachahmung der Natur’. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen”. In: H.B. (1986). Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart: Reclam. 55-103, S. 93, es ist wiederaufgenommen und weiterentwickelt bei Wolfgang Iser (1991). Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 430ff. (dort auch das Begriffspaar ‘Symbolisierung’/ ’Imitation’). Dys- und Euphorie, zwischen welt(ver)zweifelnder Depression und wirklichkeitsüberschießender Manie, zur relativierend nebeneinanderstellenden Modellierung skepsistypischer “gleiche[r] Geltung des wechselseitig Ausgeschlossenen” (SP 178): so im manisch-depressiven Doppel Jaques/ Touchstone in Shakespeares As You Like It, im möbiusbandhaften Hin und Her zwischen topischer Findungsleere und tropischer Erfindungsfülle in Burtons copia-produzierender Anatomy oder den tropelianischen Verschiebungen des cervantinischen Quijote 5 , in der Doppelperspektive melancholischen Weltverlusts und manischer Restitutionssehnsucht in Herberts selbstbewusst poesiefeierndem Figurengedicht “Easter-Wings” oder auch im Zwischenraum gegenläufig grenzverwischender Selbstwidersprüchlichkeit von Miltons Doppelportrait von “L’Allegro” und “Il Penseroso” und deren dämpfender Verkehrung in kontemplative Innerlichkeit bei Margaret Cavendish (SP Kap. IV). Solch manisch-melancholische Auflösung ungewisser res in immer auch noch mögliche verba findet ihr Komplement im Versuch frühneuzeitlicher - ‘ästhetischer’ - Verankerung der durch diese verba bezeichneten res im imaginierenden Subjekt. Auf diese Weise zeigen sich, so Lobsien, “die Konturen einer Subjektivitätsvorstellung, die ihren Transzendenzverlust kompensiert, indem sie das imaginativ begabte Selbst bei sich einkehren und damit [...] produktiv werden lässt. Mit dieser autoreflexiven Wendung wird die melancholische Imagination zunehmend zu einem Positivum. Sie wandelt sich, ins Manische gewendet, von einem bloßen Reservoir bei Gelegenheit aufzurufender Erinnerungen zu einer genuin kreativen Instanz, die nicht nur Reichtümer birgt und hortet, sondern selbst hervorbringt.” (SP 178) Dies ist der Wandel von einem in Gott verbürgten Finalitätsglauben zu einem im menschlichen Cogito verankerten Kausalitätsdenken, der Wechsel von wiederholender Imitation zu erschaffender Symbolisierung, von - mit Blumenberg zu sprechen - Nachahmung zu ‘Vorahmung’ 6 . Sein Resultat sind neue Welten. Geht es in der melancholischen Konfiguration literarischer Skepsis um subjektgebundene Erspielung von Überschüssigkeit, so orientie- Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 125 7 Zur Idee ästhetischer Positivierung von Negativität siehe die Arbeiten von Rainer Warning, insbesondere (1974). Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München: W. Fink, und (1975). “Komik und Komödie als Positivierung von Negativität (am Beispiel Molière und Marivaux)”. In: Harald Weinrich (Hg.). Positionen der Negativität. München: W. Fink. 341-366. Warning findet bei Lobsien keine Erwähnung; auch nicht Aleida Assmanns einschlägige Untersuchung (1980). Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation. München: W. Fink. 8 Den vierten Wirklichkeitsbegriff Blumenbergs von der “Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige” (Blumenberg. “Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans” [wie Anm. 4], S. 13; Hervorh. H.B.) nutzt Lobsien, obwohl er ihr sehr gut zupass käme, erstaunlicherweise nicht. ren sich die Folgekonfigurationen am erspielten Überschüssigen. Die pastorale entwirft entsprechend offensichtlich inexistente Schäferwelten zur autoreflexiven Erkundung der aporetischen Bedingungen ihrer Herstellung, der Erzielung inhaltlicher Simplizitäts- und Authentizitätseffekte mit Verfahren hochgradig intertextuell vermittelter poetischer Artifizialität: so in der die Gattungsgrenze sichtbar machenden Konversion der Pastorale in eine zur Perfektion getriebene und darin merkwürdig welt- und ichlos verbleibende “totale Textualität” (SP 192) in Miltons “Lycidas” wie späterhin bei den die Grenze selbst- und damit zunehmend auch geschlechterbewusst in unabschließbare Ich-Erkundung und skeptische Selbstrepräsentation überschreitenden Sprechern der Schäferlyrik Marvells und Aphra Behns bis hin zu Grays Abgesang auf die Pastorale in der “Elegy Written in a Country Churchyard” (SP Kap. V). Demgegenüber erfindet sich die (bei Lobsien so nicht bezeichnete) xenotope Konfiguration in die Fremde projizierte andere Welten zur phantasiegeleiteten Austarierung skepsisspezifischen Immer- Auch-Anders-Sein-Könnens: ausgehend von Montaignes programmatisch Alterität als Unverfügbarkeit ausstellendem Essay “Des Cannibales” (Essais I.30) über die theatral relativierende Inszenierung solcher Entzogenheit in Shakespeares Tempest hin zu ihrer narrativen Nutzung für listig dissimulierende weibliche Autorschaft in Aphra Behns Oroonoko (SP Kap. VI). Darin entbirgt sich nunmehr die frühneuzeitliche “Rechtfertigung der Fiktion” (SP 254), ihre epistemologische wie kommunikative Legitimität: die emergierende ‘Literatur’ findet ihren funktionsgeschichtlichen Ort in der Exploration des Entzogenen, im Hereinholen des Ausgegrenzten, in der Positivierung von Negativität 7 . Erst im Erfinden vermag der Mensch das Andere zu erkennen, erst die realisierende Schaffung eines Doppels ermöglicht die Illusion der Bewältigung einer zunehmend als unverfügbar erfahrenen Realität 8 : “Die Wahrheit und das Wunder des anderen”, so Lobsien, “können nur ‘gemeistert’ werden, indem wir sie erfinden. Sei es das, was uns in der Begegnung mit einer Neuen Welt entgegentritt; das andere der Bosheit, der Grausamkeit oder auch und vor allem das des Ideals; die Alterität einer anderen Kultur oder des anderen Geschlechts: Wir werden damit nur fertig in der Erfindung neuer Welten - in Fiktionen, deren Komplexität und be- Andreas Mahler 126 9 Dies gemahnt an das bekannte Wittgenstein-Wort aus dem Tractatus (“Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen”; Pkt. 7) und dessen skeptisch alterierendes Gegenteil (“Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische”; Pkt. 6.522, Hervorh. L.W.); vgl. SP 82, Anm. 5. Transitiv ist dieses Schweigen, insofern es sich nicht als bloßes Stummsein/ Stummbleiben, sondern als gegenstandsbezogenes, epistemologisches, ‘wissendes’ Verstummen begreifen lässt. 10 Dieser die Einzelkapitel nicht immer zur Gänze treffenden nicht-systematischen Liste fügt Eckhard Lobsien noch die von ihm so genannten ‘Parallelwelten’ (IW Kap. III) und die ‘Stadt- und Landwelten’ (IW Kap. VIII) hinzu. Die Lektüren erfassen dementsprechend den Kanon frühneuzeitlicher literarischer Texte vom 16. bis ins 18. Jahrhundert. stürzende Einfachheit uns erleben lassen, dass wir mit ihnen nicht fertig werden.” (ebd.) In ihrer Emergenz transformiert ‘Literatur’ Sprache von einem in der Welt seienden primären Findungsinstrument verbürgter Wahrheit zum sekundären welterfindenden Medium paralleler Konstruktion: von topologischer Eigentlichkeit zu tropologischer Uneigentlichkeit, von geglaubter Substanzhaftigkeit zu imitierender/ symbolisierender Funktionalität. Alltäglicher Sprachgebrauch muss sich folgerecht fortan die Fiktivität der Konstrukte, das Faktum des bloßen Doppels, umgehend verbergen, um den Illusionscharakter sprachlich realisierter Weltbewältigung verdeckt zu halten; literarischer hingegen stellt dies explorativ, alterierend, ‘skeptisch’ aus. Hierüber kommt das sich wandelnde Medium selbst in den Blick: in der manisch-euphorischen Variante in aus “mimetischen Fesseln” (SP 288) entlassener, endlos neu erfindender Rede, welche in “Verklammerung des Entgegengesetzten” (SP 262) das Unverfügbare sekundär, metaierend, ‘literarisch’ zu erschreiben sucht wie in den ausgreifenden Texten der Margaret Cavendish, Duchess of Newcastle; in der dysphorisch-melancholischen - oder womöglich skeptisch-gleichmütigen - Variante tentativ bei Henry More und vor allem bei Anne Conway in einem “die verborgenen Dinge auf sich beruhen” lassenden (SP 319), gelehrt unwissenden, beredt transitiven Schweigen (SP Kap. VII). 9 4. Die Geburt frühneuzeitlicher ‘Literatur’ aus dem Geist radikal alterierender Skepsis stellt die Frage nach der Imagination. Deren sichtbare Erscheinung sind die Imaginationswelten: als Vorstellung eines entzogenen Ideals wie dem des Schäfer- (UI Kap. II; IW Kap. II) oder Hoflebens (UI Kap. III), als Entwurf unverfügter Räumlichkeit wie der der Fremde (UI Kap. IV) und des Kosmos (IW Kap. V), als Projektion unzugänglicher Zeitlichkeit wie Zukunft (UI Kap. V) oder Vergangenheit (IW Kap. IV), als Produkt unergründeter Medialität wie der des Reims, des Dialogs, der Schrift (IW Kap. VI+VII). 10 Sie sind das Resultat pastoraler (höfischer, heterotoper, transgressiver, instrumenteller, melancholischer, textueller) Imagination, Produkte der Verschie- Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 127 11 Die Reihung der Imaginationstypen entbirgt die - vom Autorenpaar bewusst in Kauf genommene - Schwäche einer an den Phänomenen ansetzenden Theoriebildung; sie ignoriert offensichtliche Relationen der Inklusion und riskiert so die Gefahr begrifflich produzierter Tautologie. Ähnliches begegnet beim Begriff der Allegorie; wer Skepsis vorderhand als ‘’Anders-Reden’ und Imagination als sein Vermögen sieht, ist nicht zurecht verblüfft über einen als Ergebnis entdeckten “Zusammenhang von Imagination und Allegorie” (UI 9). 12 Die Referenz ist auf Harry Berger jr. (1963). “The Renaissance Imagination. Second World and Green World”. In: H.B.jr. (1988). Second World and Green World. Studies in Renaissance Fiction-Making. Hg. v. John Patrick Lynch, Berkeley, CA: Univ. of California Press. 3-40. Demnach ist Gottes Schöpfung die erste Welt (W 1 ), die des Dichters die zweite (W 2 ), das vorgestellte Ideal die dritte (W 3 ), wobei die Besonderheit rinascimentaler Kunstauffassung darin besteht, die beiden Seiten des Kunstwerks - die der Darstellung und die des Dargestellten, die Imaginationswelt und die des Imaginierten - “interferieren zu lassen, so dass nicht einfach ‘normale’ und ‘ideale’ Welt in eine binäre Beziehung der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit treten, sondern das Artefakt - Objekt unter Objekten - selber schon den Rang einer ‘zweiten’ Welt im Verhältnis zur ‘ersten’ erlangt und so auf die ideale ‘dritte’ hinführt” (UI 53, vgl. ebd. Anm. 49). In diesem Sinn erscheint die Textwelt als “Heterokosmos” (IW 29ff.). Lobsiens Etikettierung schwankt zwischen W 1 / W 2 / W 3 und W 1 / A/ W 2 , wobei ‘A’ das textuelle Artefakt bezeichnet; ich folge der ersten. 13 Zu dieser Unterscheidung siehe Berger. “Renaissance Imagination” (wie Anm. 12), S. 14 (Hervorh. H.B.jr.). 14 Hierin erscheint nochmals der Meta-Charakter solcher Anders-Rede: Literatur ist “Imagination der Imagination”, “Medium einer Selbstbewegung des Geistes”, “Alterierung, Transformation, Meta- und Anamorphose, Transition, Rhetorisierung, semiotische und hermeneutische Unruhe” (IW 25 u. 26). bung, Übersetzung; wo Skepsis dem Verdacht nachgeht, ‘dass alles auch ganz anders sein könnte’, erkundet Imagination solch ‘Anders-Sein’ in projektiver ‘Anders-Rede’: Allegorie 11 . Solch Anders-Reden ist mimetisches Imaginieren, sprachliche Vorahmung, Nachahmung des Nicht-Existenten, Entzogenen, Auch-Möglichen: es ist das dichterische Privileg prospektiver Signifikation. Dies ist systematisierbar über die Relationalität dreier Welten. Folgt man einer von Harry Berger jr. bereits in den frühen sechziger Jahren vorgeschlagenen Einteilung rinascimentaler Welten in die reale, trügerische, offene ‘erste’ (brazen) und realisierte, geschlossene, mögliche ‘zweite’ (green bzw. golden), in (gelebte) Realwelt (W 1 ), (erdachte) Textwelt (W 2 ), (entzogene) Idealwelt (W 3 ) (UI 52ff.; IW 28ff. und 293ff.) 12 , so bezeugt dies die Zwischenstellung des poetischen Werks als Teil der diesseitigen Welt und Teil des jenseitigen Ideals und damit seine Relationierbarkeit einerseits gegen die Realwelt allein (W 2 / W 3 vs. W 1 ) wie andererseits gegen Real- und Idealwelt zugleich (W 2 vs. W 3 / W 1 ): als hergestelltes Werk, als formbestimmte “second world as a fiction”, hat es teil an der Idee perfekter Schöpfung; als dargestellte Welt, als inhaltliche “second world in a fiction” 13 , sucht es diese Perfektion zu zeigen oder inszeniert in sinnfälligem Scheitern gerade deren Entzogenheit (IW 31ff.). In keinem Fall jedoch geht es um Mimesis zeitgenössischer Realität: frühneuzeitliche imaginative ‘Anders-Rede’ ist “Präsentation [...], nicht Repräsentation” (UI 58, Anm. 59), sie ist prozessuale schöpferische Arbeit am Text, beständige Performanz. 14 Darin unterscheidet sie Andreas Mahler 128 15 Dies wäre der (gleichfalls nicht genutzte) erste Wirklichkeitsbegriff Blumenbergs von der “Realität der momentanen Evidenz” (Blumenberg. “Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans” [wie Anm. 4], S. 10, Hervorh. H.B., zur potentiellen Simultaneität von Wirklichkeitsbegriffen siehe S. 12, Anm. 5; zur Verknüpfung von enargeia und Evidenz vgl. UI 20). Hierin liegt zudem eine Ahnung hoffnungsvoller Hintergehbarkeit der Erbsünde, denn als ein Neues, als ein Ideal, unterliegt solchermaßen Imaginiertes nicht den irdischen Bedingungen des Sündenfalls und ist somit frei von dessen Folgen. Vor diesem Hintergrund erklären sich frühneuzeitliche Euphorismen wie die des Thomas Traherne: “The World within you is an offering returned. Which is infinitely more Acceptable to GOD Almighty, since it came from him, that it might return unto Him. Wherein the Mysterie is Great: For GOD hath made you able to Creat Worlds in your own mind, which are more Precious unto Him then those which He Created [...]. Besides all which in its own Nature also a Thought of the World, or the World in a Thought is more Excellent then the World, because it is Spiritual and Nearer unto GOD.” (Thomas Traherne [1958]. Centuries, Poems, and Thanksgivings. Hg. v. H.M. Margoliouth. 2 Bde. Oxford: Clarendon. Bd. 1, S. 14 [I, 26]; vgl. IW 26f. u. UI 52, der unmittelbare Bezug ist nochmals Berger. “Renaissance Imagination” [wie Anm. 12], hier S. 11) 16 Zum Begriff der ‘kognitiven Matrix’ siehe Andreas Mahler (2004). “Semiosphäre und kognitive Matrix. Anthropologische Thesen”. In: Jörg Dünne/ Hermann Doetsch/ Roger Lüdeke (Hg.). Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive. Würzburg: Königshausen & Neumann. 57-69; zum dort diskutierten (ternären) Bild von Sprache als gegenwendiger Struktur zweier amorpher “Nebelwolken” (verso: Lautlichkeit; recto: Vorstellung) und eines formgebenden Mechanismus der Stanzung vgl. Ferdinand de Saussure (1985). Cours de linguistique générale (1916). Hg. v. Tullio de Mauro. Paris: Payot. S. 155ff. sich vom Mimesistyp eines weltabbildenden ‘Realismus’. Rinascimentale Textwelten (W 2 ) reproduzieren nicht vermeintlich Vorgängiges, sie projizieren Vorstellungen; sie sind nicht rückgebunden an Realität (W 1 ), sondern nach vorn gerichtet auf ein imaginiertes, imaginäres Ideal (W 3 ). Hieraus produzieren sie momentane, ahnungsvolle Evidenz; sie nutzen die sprachliche Kraft der enargeia zur epistemologisch-epiphanischen Herstellung von Neuem und in seiner Unabgenutztheit ‘Wahrerem’ 15 . Eine solche “Supplementierungsleistung” (IW 36) entspringt einem Vermögen - oder Defizienz - des menschlichen Gehirns; sein Funktionieren imaginiert zeitgenössisches medizinischphilosophisches Denken als Zusammenspiel von fünf/ drei Vermögen in drei Kammern (UI Kap. 1), demzufolge die erste Kammer registriert/ konzeptualisiert, die zweite klassifiziert/ relationiert, die dritte memoriert; d.h. sprachbezogen prägt die erste Hirnkammer ein, indem sie (über die Sinne wahrgenommene) res in verba transformiert (näherhin in Signifikate), die mittlere ordnet, indem sie diese zu (realitätsbezogenen, verstandesgemäßen) Vorstellungen organisiert, die letzte bewahrt, indem sie für deren Abrufbarkeit sorgt. Dementsprechend erscheint Imagination zum einen als Vermögen der Konzeptualisierung (vis imaginativa) und zum anderen als Vermögen abschätzender Kombination (vis cogitativa/ estimativa): die kognitive Matrix stanzt amorphe Vorstellung und Lautlichkeit in diskrete, res und verba verbindende sprachliche Einheiten, der Verstand selegiert und kombiniert zu weltdeutender, welterklärender Fiktion 16 . Damit erweisen sich erste und Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 129 17 Im Gebrauch des Diskursbegriffs als System des Denkens und Argumentierens folge ich der Definition bei Michael Titzmann (1989). “Kulturelles Wissen, Diskurs, Denksystem - Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung”. Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99. 47-61, v.a. S. 51f. 18 Imagination operiert demnach genau an der Schnittstelle zwischen Körper und Geist; sie bleibt unsichtbar, solange Körperlichkeit/ Materialität in Geist/ Vorstellung aufgelöst wird, d.h. solange die Fiktion Geltung hat, als gäbe es nur Geist. Das Mittelalter löst dies analogisch (über Ähnlichkeit), die Neuzeit löst es digital (über Transparenz). Erst die den Sinnen tatsächliches Registrieren vorgaukelnde Verkehrung ihrer “normale[n] Verlaufsrichtung” (UI 14) “nach ‘vorne’” (UI 15), d.h. von den verba zu vermeintlichen res, zeigt ihre (paradoxale, gegenwendige) Teilhabe an beidem, die gleichwohl nie zugleich sichtbar werden kann: “Da der Ort der Imagination definiert ist zwischen Körper/ Sinnlichkeit und Verstand/ rationaler Seele, kann immer nur die eine oder die andere dieser sie umgebenden Kräfte auf ihre Arbeit einwirken; das Intervall, in dem die Imagination arbeitet, definiert sich durch die beiden, es limitierenden Grenzen. Die Imagination ‘selber’ in diesem Zwischenraum kann immer nur eine Mixtur aus beidem sein, weil sie den Vorgaben der Sinne folgt und/ oder die Bedürfnisse des Verstandes antizipiert.” (UI 28) Genau diese inverse bi-polare Einheit der Imagination - der kognitiven Matrix - aber ermöglicht einerseits eine stete Überschüssigkeit an Vorstellungen und bedingt andererseits die Notwendigkeit ständiger Kontrolle. - Der Begriff des Intervalls erscheint bereits bei Pico della Mirandola (UI 27, Anm. 63); zu seiner verblüffend ähnlichen heutigen Nutzung, etwa bei Deleuze, vgl. Hermann Doetsch. “Intervall. Überlegungen zu einer Theorie von Räumlichkeit und Medialität”. In: Dünne/ Doetsch/ Lüdeke. Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten (wie Anm. 16). 23-56; zu seiner Bedeutung als einer das Lobsien’sche Paar-Projekt entscheidend prägenden Denkfigur vgl. das von Giordano Bruno stammende, gleichursprünglich wechselseitige Abhängigkeit wie Stützung bezeichnende Motto des Gemeinschaftsbandes: mutuo fulcimur (UI 7 u. 393f.). zweite Kammer als Ort der oben beschriebenen ‘Erfindung’, als Ort realisierender Herstellung epistemologischer Doppel zur imaginären Bewältigung von Welt. Beider Tätigkeit ist allerdings auch gegenläufig nutzbar: in normaler (funktionaler) Vorordnung der res vor die verba und der Welt vor die Vorstellung stellen Konzeptualisierung und Kombination realitätskompatible Einstellungen auf die Welt und bilden welterfassende, weltkonstruierende, ‘diskursive’ Systeme affirmierenden Denkens und Argumentierens 17 ; in Nachordnung hingegen produzieren sie - wie schon in der negativen Theologie des Nikolaus von Kues - unratifizierte res und unabhängige Welten und stellen die Systeme (dysfunktional) aus. Solch dekonstruierende Re-Konzeptualisierung und Re-Kombination zeigt sich etwa im Traum (UI 14), sie zeigt sich aber auch und vor allem in bewusst produzierter, ‘gemachter’ Literatur: dort entbirgt die vektorielle Verkehrung des Kognitionsprozesses genau jenen “Widerstreit” (UI 33) eröffnenden “Spielraum” (ebd.), den “Zwischenraum” (UI 28), genau das mediale “Intervall” (ebd.), das es für diskursive Nutzung zu verdecken gilt 18 . Dies zu bearbeiten ist Aufgabe des Dichters: ihm obliegt nicht eine nochmalige Behauptung des Gegebenen (W 1 ), sondern die poetische Erschaffung (poein) des Auch-Möglichen (W 2 ). Solches meint das boccacceske suum officium, non ut fallat, sed ut fingat (UI 56), solches meint auch das Sidney-Wort aus der Defence: “Now, for the poet, he nothing affirms, and therefore never lieth.” (UI 57) Die frühneuzeitliche poeti- Andreas Mahler 130 19 Zur (archäologischen) Ableitung von ‘Kultur’ aus dem Gedächtnis siehe die Arbeiten im Umkreis wie in der Folge Jan Assmanns, insbesondere (1992). Das kulturelle Gedächtnis. München: C.H. Beck; zur (anthropologischen) Ableitung von ‘Kultur’ aus den strukturalen Beziehungen ihrer Repräsentanten siehe, im Bezug auf Lévi-Strauss, entsprechend Michael Oppitz (1975). Notwendige Beziehungen. Abriss der strukturalen Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. sche Imagination ist keine Falsch-Rede, sondern Anders-Rede: sie eröffnet einen Blick ins Mögliche, sie supplementiert die Welt um das von ihr in jedem Moment (kontingent, akzidentell) Verdrängte, Ausgegrenzte, Nicht-Realisierte. Genau dies macht den Dichter zum vates - zur Instanz alteritätsbewusster Hinsichtnahme - und sein Werk zur Agentur möglichkeitsreichen Erprobens. “Phantasia”, so der Schluss der Imaginationsdiskussion beider Lobsiens, “kann sowohl inneres Bild, bildhafte Repräsentation eines real Wahrgenommenen, Bildproduktionskraft sein, aber auch die spezifische Einstellung auf eine Sache, also ein Sehen-als, eine Hinsichtnahme. [...] Dieses Sehen-als ist nun aber genau das, was in der Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit in so überwältigender Weise sich ereignet. Es ist gerade die unersetzbare Funktion frühneuzeitlicher Kunstwerke, neue Hinsichtnahmen auf die Welt zu vermitteln, die Welt in alternativen Ansichten zu pluralisieren, zum innovativen Sehen anzuleiten, eine Transformationsdynamik zu erzeugen, die den Leser in einen offenen, widerspruchsreichen, uneindeutigen Prozess verstrickt” (UI 31). Solch (ideologisches) Einräumen eines Anders- Sehens - nicht verbürgte Repräsentation des (in Gott) Gegebenen, sondern realisierende Präsentation alternativer (menschlicher) Perspektiven - weitet den Möglichkeitsrahmen des kulturell Denk- und Vorstellbaren und schafft auf diese Weise eine andere - frühneuzeitliche - Kultur. ‘Kultur’ ist demnach nicht allein aus dem Vergangenen gezogene Gedächtnissumme der memoria noch einzig präsentische Konstellation notwendiger Beziehungen, sondern auch und vor allem Produkt zukunftsgerichteter Imagination, die Weite ihres Vorstellbaren 19 . “Die Imagination”, so die Leitthese der Untersuchung, “bildet Kultur” (UI 32), d.h. erst die in der kognitiven Matrix gründende Vorstellungskraft macht den Mensch zum kulturellen Wesen, erst das einer Gemeinschaft kollektiv Vorstellbare macht diese zu ‘einer’ Kultur. Dies Vorstellbare ist dynamisches, in jedem Moment performativ neu hergestelltes Produkt einer im Verborgenen wirkenden wie dort zu haltenden ‘unsichtbaren’ Imagination: “Die Imagination”, so das Zitat entsprechend weiter, “bildet Kultur in ihren konkreten vielfältigen Erscheinungen, indem sie sich in den durch sie ermöglichten kulturellen Diskursen zugunsten der jeweils verhandelten Gegenstände zum Verschwinden bringt. Ihre Omnipräsenz ist verschränkt mit ihrer Unsichtbarkeit, ihre Abwesenheit ist die paradoxe Bedingung ihrer Präsenz, ihre Universalität erzwingt ihre Limitation. Die kulturellen Diskurse und Gebilde sind Medien einer Modellierung der Imagi- Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 131 20 Von daher kann auch keine Textwelt (W 2 ) je den Status einer Idealwelt (W 3 ) erreichen, denn dies implizierte die Arretierung des Stroms der Imagination und damit die Annullierung der antreibenden Kraft: “Etwas Vollkommenes aber wäre nur im Stillstellen der Imagination gegeben, in ihrem Selbstdementi.” (UI 256) nation, und dies heißt nichts anderes, als dass sie zu Örtern des widersinnigen Seins und Nichtseins der Imagination werden.” (ebd.) ‘Kultur’ ist also nichts anderes als konkrete Auskristallisierung der sie unterspannenden ungreifbaren Imagination: sichtbares (kontingentes, willkürliches) Zeichen eines kontinuierlichen kollektiven Stroms unsichtbarer Vorstellung - ‘eine’ Kultur entsprechend die Summe all dessen, was sich deren Mitglieder in aller Konvergenz und Divergenz gemeinschaftsbildend vorzustellen vermögen. Aufgabe einer Literatur (und Literaturwissenschaft) mit großem ‘L’ ist folgerecht, diesen gesellschaftlich im Verborgenen zu haltenden kulturbildenden Mechanismus der Imagination nicht allein zu greifen und thematisch darzustellen (‘thematische Imagination’; UI 33f.), sondern ihn vielmehr auszustellen und strukturell erfahrbar zu machen (‘symptomatische Imagination’; UI 34f.). Frühneuzeitliches (und auch schon mittelalterliches) Schrifttum wird also erst in dem Maß zu ‘Literatur’, wie es die es antreibende Imagination nicht immer schon funktional auflöst in imaginierte res/ Imaginationswelten, sondern das Spiel der Imagination, ihr prozessuales Hin und Her, das Intervall zwischen imaginierten res und imaginierenden verba selbst in den Blick nimmt. Das Literarische zeigt sich demnach nicht schon in Textwelten, sondern im ‘Machen’ von Textwelten, nicht im imaginierten Resultat, sondern im Prozess der Imagination 20 . “Die Literatur”, so das Fazit der Textanalysen zu den Leitimaginationen des Pastoralen und des Höfischen, “ist nicht dort Imagination der Imagination, wo sie ein Konzept der Imagination bebildert (wie es Spenser mit der Personifikation des Phantastes tut), sondern wo sie mit der performativen Kraft ihres Diskurses Imaginationstätigkeit ist. [...] Erst mit dem Status einer [...] Imagination der Imagination erfüllen literarische Texte die neue emphatische Funktion des Literarischen.” (UI 257; Hervorh. V.O.L./ E.L.) In diesem Sinn ist das Lobsien’sche Projekt ein gegen den gegenwärtigen Strom gerichtetes dezidiert literaturwissenschaftliches; sein Interesse gilt nicht den kontingenten kulturellen Resultaten kollektiver Imagination, sondern der allein in Literatur (wie Kunst) gründenden reflektierten Sichtbarmachung ihres Funktionierens, d.h. es geht nicht um die fragwürdige Legitimierung der Literatur (und ihrer Wissenschaft) über die trügerische Relevanz einer sie umgebenden, vereinnahmenden Kultur (und deren Wissenschaft), sondern umgekehrt um die epistemologische Einzigartigkeit von Literatur für die (Selbst)Erkenntnis von Kultur. Nicht also ist Literatur Produkt von Kultur, sondern Kultur ist Produkt einer einzig in Literatur sichtbar werdenden Imagination. Hierin liegt neben aller Gelehrsamkeit und Lektüregenauigkeit die eigentliche Brisanz - und Provokation - des Projekts: in der Andreas Mahler 132 21 Dies invalidiert nicht, wie der allerletzte Teilabschnitt (IW 297ff.) verdeutlicht, kulturwissenschaftliche Arbeit; wohl aber warnt es vor vorschneller Flucht in den vermeintlich sichereren Hafen eines vordergründig faktischer Relevanz verpflichteten “banausischen Konzept[s] von cultural studies” (IW 298). 22 Mit Milton wird die Anders-Rede autonom. Vor dem Hintergrund frühneuzeitlich proliferierender Rede über andere Welten transformiert er Literatur zum “perfekt abgezirkelte[n] Artefakt”, das in seinem “outrierten Gemachtsein” - in seiner ostentativen Insistenz auf Nicht-Existenz - auf Eigenständigkeit besteht: “Wenn Milton diese Signifikation negativiert, also die Nicht-Bezeichenbarkeit fremder Welten durch seinen Text markiert, dann treibt er die Funktion des Literarischen mit einem Schlag auf den höchsten Gipfel. Es wird weit mehr als hundert Jahre dauern, bis dieser Vorlauf der Literatur auch theoretisch eingeholt sein wird.” (IW 295f.) - Für romantische und nachromantische Konzeptualisierungen von Imagination siehe Eckhard Lobsien (1999). Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Begriffs vor und nach der Romantik. München: W. Fink, sowie ders. (2005). Die Phantasie des Ulysses. Lektüre. Heidelberg: Winter. Fixierung eines unabweisbaren wissenschaftstheoretischen Orts der Literaturwissenschaft mit deutlich gegen gegenwärtige kulturwissenschaftliche Praxis gerichteter Stoßrichtung. Dies erklärt das große ‘L’ (kein ‘K’) im Zentralbild des Triptychons; dies erklärt die Verbannung des scheinbaren Kerns der Untersuchung - einer differenzierten, hoch aufschlussreichen synoptischen Überlegung zum Verhältnis von Kultur und Imagination - gegen den expliziten Willen des Verlagslektors in einen fußnotenhaften Exkurs (UI 9 und 258ff.); es erklärt auch das das Triptychon beschließende programmatische Plädoyer für eine selbst- und sich ihrer selbst bewusste Literaturwissenschaft, den vehementen engagierten “Einspruch [...] gegen eine allzu modisch gewordene Depotenzierung der Literatur zum bloßen Archiv kulturhistorischer Materialien”, Einspruch “gegen die Banalisierung der Literaturwissenschaften zu bloßen Hilfsdisziplinen einer ebenso allgemeinen wie unkonturierten Kulturwissenschaft” (IW 297) 21 . 5. Die These von der Entfesselung der Imagination durch eine überbordende Skepsis und der Versichtbarung ihrer kulturstiftenden Kraft durch eine zeitgleich emergierende, frühneuzeitliche Literatur besticht. Ihre Durchführung speist sich aus einer bestaunenswerten Tiefe differenzierter historisch-philosophischer Textkenntnis von Sextus Empiricus bis zum Cusaner, von Platon und Aristoteles bis hin zu Pico della Mirandola und Giordano Bruno; sie findet ihren überzeugenden Beleg in eindrucksvollen Textlektüren von Spenser, Sidney, Shakespeare, Montaigne, Dante, Cervantes, aber auch Chapman, Cudworth, Aphra Behn, und immer wieder Milton; sie leistet für die frühe Neuzeit den angestrebten fundamentalen Beitrag zu “einer systematischen und historischen Phänomenologie der Imagination” (IW 297) 22 . Das Projekt ist - vielleicht ein wenig wider Willen - beste ‘Konstanzer Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 133 23 Allenthalben finden sich terminologische Anleihen von den funktionsgeschichtlichen Anfängen bis zur geeinten Theorie; siehe Wolfgang Iser (1975). “Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells der Literatur”. In: Rainer Warning (Hg.). Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: W. Fink. 277-324; (1976). Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: W. Fink; (1983). “Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? ” In: Dieter Henrich/ W.I. (Hg.). Funktionen des Fiktiven. München: W. Fink. 121-51; Das Fiktive und das Imaginäre (wie Anm. 6). Angesichts solcher Verpflichtetheit - allein im Gemeinschaftsband ist ohne weiteren Beleg gängige Rede vom ‘Außer-Geltung-Setzen’ von Diskursen, vom ‘Supplementieren’ von ‘Defiziten’‘, von ‘Bilanzierung’, ‘Textspielen’, ‘fortwährendem Kippen’ (UI 34, 50, 228, 254, 374) - wirken die seltenen expliziten Bezugnahmen wie die auf Isers frühe Spenser-Lektüre mit dem Vorwurf der Historizität und Funktionalität (UI 120) oder auf die Pastorale als Grundmuster von Literatur mit dem Vorwurf der A-Historizität und Unterschätzung des Funktionalen (UI 229f.) - auch wenn damit nichts Unrichtiges gesagt sei - ungnädig, wie überhaupt Isers anthropologische Grundthese vom auf Kosten seiner Phantasie lebenden Menschen dem Gedanken von der kulturstiftenden Kraft der Imagination nicht völlig unähnlich ist. Vergleichbares ließe sich im Ansatz auch für die an der frühneuzeitlichen ‘Krise der Zeichen’ orientierten Arbeiten Robert Weimanns formulieren. 24 Iser. Das Fiktive und das Imaginäre (wie Anm. 6). S. 20. 25 Zur Gefahr einer unterschwelligen Ontologisierung des Imaginären siehe die Kritik bei Elisabeth Ströker (1983). “Was ist das Imaginäre in Isers Fiktionalitätstheorie? ”, und die abwehrende Replik von Wolfgang Iser. “Das Imaginäre: kein isolierbares Phänomen”. Bde. in: Dieter Henrich/ Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven (wie Anm. 23). 473-478 und 479-486. Aus diesem Grund scheint bei den Lobsiens der Begriff des Imaginären stets zugunsten desjenigen der Imagination vermieden. Für kreative Applikationen und Weiterentwicklungen der Iser’schen Triade siehe Winfried Fluck (1997). Das kulturelle Imaginäre. Schule’. Angesichts der Leistung geht es in der Folge nicht um kleinliche Beckmesserei, sondern um Konvergenzen, Anschlüsse, Perspektiven. Einziger Schönheitsfleck scheint mir der Umgang mit Wolfgang Iser. Dies betrifft im Wort wie in der Sache den funktionsgeschichtlichen Ansatz, es betrifft vor allem Isers Fiktionstheorie 23 ; die von ihm gegen den vorherrschenden Binarismus von Fiktion und Wirklichkeit entwickelte triadische Struktur, derzufolge der (literarische) Fingierensakt darin zu sehen sei, dass dieser “die Wiederkehr lebensweltlicher Realität im Text bewirkt und gerade in solcher Wiederholung das Imaginäre in eine Gestalt zieht, wodurch sich die wiederkehrende Realität zum Zeichen und das Imaginäre zur Vorstellbarkeit des dadurch Bezeichneten aufheben” 24 , scheint mir systematisch genau die Relation zu formulieren, welche beim frühneuzeitlichen Imaginieren das Verhältnis von Realwelt, Textwelt, Idealwelt regiert, wonach die jeweilige Textwelt (W 2 ) in eigener Rekombination Elemente der Realwelt (W 1 ) wiederholt und diese so zum Zeichen für eine noch nie bezeichnete Idealwelt (W 3 ) werden lässt. In diesem Sinn erscheinen frühneuzeitliche Imaginationswelten als Fiktionen - bezeichnenderweise ist an einer Stelle unvermittelt auch die Rede vom “Spielraum des Fingierens” (UI 195), nicht des Imaginierens - Fiktionen, die das unsichtbare kulturbegründende Imaginäre derart in eine Gestalt ziehen, dass es für den Moment des Texts uneigentlich, supplementär, kontrafaktisch sichtbar wird 25 . Hierüber bietet sich ein möglicher Andreas Mahler 134 Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790-1900. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, sowie K. Ludwig Pfeiffer (1999). Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 26 Siehe Cornelius Castoriadis (1999). L’institution imaginaire de la société (1975). Paris: Seuil; Castoriadis begreift das radikal Imaginäre als ein dem Spiegelstadium voraufliegendes unbestimmtes und unbestimmbares intransitives Vermögen: “L’imaginaire n’est pas à partir de l’image dans le miroir ou dans le regard de l’autre. Plutôt, le ‘miroir’ lui-même et sa possibilité, et l’autre comme miroir, sont des œuvres de l’imaginaire, qui est création ex nihilo. Ceux qui parlent d’‘imaginaire’ en entendant par là le ‘spéculaire’, le reflet ou le ‘fictif’ ne font que répéter, le plus souvent sans le savoir, l’affirmation qui les a à jamais enchaînés à un sous-sol quelconque de la fameuse caverne: il est nécessaire que (ce monde) soit image de quelque chose. L’imaginaire dont je parle n’est pas image de. Il est création incessante et essentiellement indéterminée (social-historique et psychique) de figures/ formes/ images, à partir desquelles seulement il peut être question de ‘quelque chose’. Ce que nous appelons ‘réalité’ et ‘rationnalité’ en sont des œuvres.” (S. 7f., Hervorh. C.C.) Zu einer knappen Zusammenfassung der Castoriadis’schen Gedanken und einer einlässig applizierenden Darstellung der darin beschlossenen Dialektik von Aufbau und Zerstörung mit Blick auf Flauberts komisches Doppel von Bouvard und Pécuchet, die prinzipielle Unabschließbarkeit ihrer Projekte wie die gleichermaßen prinzipielle Unversehrtheit ihrer Träger, siehe Ulrike Sprenger (1997). “Die Früchte des Wissens. Agronomie und Imagination in Bouvard et Pécuchet ”. Romanistisches Jahrbuch 48. 84-119, v.a. S. 115ff. 27 Eine solche Bestimmung des Ästhetischen findet sich beispielsweise bei Jorge Luis Borges (1980). “La muralla y los libros” (1950). In: J.L.B. Prosa completa. 3 Bde. Barcelona: Emece. Bd. 2. 131-33, hier S. 133: “esta inminencia de una revelación, que no se produce, es, quizá, el hecho estético”. Borges kommentiert dort die Geschichte vom chinesischen Kaiser Shih Huang Ti, der die chinesische Mauer errichten und zugleich alle Bücher verbrennen ließ, als Emblem für eine blitzhafte Erahnung supplementhafter Vollständigkeit des Universums: als Gewahrung einer ‘Form’ jenseits aller konkret zugänglichen Inhalte, als Prinzip beständigen Kon- und Destruierens: “Acaso Shih Huang Ti amuralló el imperio porque sabía que éste era deleznable y destruyó los libros por entender que eran libros sagrados, o sea libros que enseñan lo que enseña el universo entero o la conciencia de cada hombre. Acaso el incendio de las bibliotecas y la edificación de la muralla son operaciones que de un modo secreto se anulan.” (ebd.) Anschluss an den etwa von Cornelius Castoriadis entwickelten Imaginationsbegriff und darüberhinaus an den bei den Lobsiens merkwürdig unterbelichtet bleibenden Begriff der Latenz. Der bei Castoriadis verfolgte Gedanke vom (radikal) Imaginären als einem nicht-substantiell gedachten, ständig im Fluss begriffenen, prozessualen kreativen Magma, welches ein je spezifisches gesellschaftliches Imaginäres instituiert (und wieder löscht) 26 , scheint mir zu konvergieren mit der Vorstellung vom unstillbaren, ungreifbaren Produktionsvermögen einer stets im Verborgenen bleibenden, stets entzogenen Imagination. Der Literatur/ dem Ästhetischen eignete demnach die fundamentale Funktion, dies möglichkeitsreiche Magma des radikal Imaginären - der unergründlichen, vorgängigen Antriebskraft allen menschlichen Agierens - epiphaniehaft, evidenzartig erahnbar werden zu lassen 27 . Die Konzeption des Imaginären als dem Menschen angeborenes unerschöpfliches intransitives Vermögen, welches unaufhörlich unabschließbare singulative wie kollektive Vorstellungen vom Ich wie von der Gesellschaft instituiert und in ihrer Instituierung modifiziert, verdeutlicht zum einen die Notwendigkeit seiner Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 135 28 Der Sache nach durchzieht das Konzept der Latenz alle drei Bände (vgl. etwa SP 100, 319; UI 8, 32ff., 62, 86, 95, 175, 183, 253; IW 21ff.); an nur wenigen Stellen allerdings findet es sich dem Wort nach thematisiert. Zum Gedanken, “dass menschliches Handeln sich Teilaspekte seiner sozialen Wirklichkeit verdecken müsse, um Orientierbarkeit und Motivierbarkeit nicht zu verlieren”, siehe am bündigsten Niklas Luhmann ( 4 1974). “Soziologische Aufklärung” (1970). In: N.L. Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Bd. 1. Opladen: Westdeutscher Verlag. 66-91, hier S. 69, und ausführlicher Niklas Luhmann (1995). Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (1980-1989). 3 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, insbes. Bd. 1, S. 63ff., und Bd. 2, S. 24ff., sowie ( 3 1999). Die Kunst der Gesellschaft (1995), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 136ff. Zum Zusammenhang von Latenz und Kunst vgl. näherhin auch Anselm Haverkamp (2002). Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 29 Hierin liegt zudem eine zwar thematisierte, aber nicht weiter systematisch angegangene Affinität zwischen Literatur und Metamorphose, derzufolge die frühneuzeitliche Zurichtung von Imagination der Literatur in ihrer Emergenz eine eigenständige Funktion zuwachsen lässt: “die einer unabschließbaren Transformation, einer unendlich produktiven Metamorphose all dessen, was je gesagt, gezeigt, gesetzt werden kann. Fallen die restringierenden Eingriffe der Vernunft fort, dann kann alles gesagt und immer auch anders gesagt werden. Etwas sagen heißt dann: unendlich weiter und anders reden zu können; etwas sehen heißt hier: immer auch noch als etwas ganz anderes zu sehen; etwas oder jemand sein heißt: auch noch das andere sein zu können; sich in einem Raum orientieren heißt: zugleich in einem anderen Raum zu sein, usw.” (UI 66f.) Zu Metamorphose und Literatur siehe etwa Pascal Nicklas (2002). Die Beständigkeit des Wandels. Metamorphosen in Literatur und Wissenschaft. Hildesheim: Olms. 30 Locus classicus hierfür ist in jüngerer Zeit die knappe Skizze analogistischen Sprachdenkens bei Michel Foucault (1992). Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (1966). Paris: Gallimard, S. 32ff.; Bezug hierauf findet sich an einigen wenigen Stellen in SP 47, Anm. 2, 80, 117, 137ff. oder 241, Anm. 1. Für eine fundierte, Foucault kritisierende wie präzisierende Darstellung eines über sprachliche Analogien geführten mittelalterlich-frühneuzeitlichen Findungswissens siehe insbesondere die Arbeiten von Stephan Otto (1992). Das Wissen des Ähnlichen. Michel Foucault und die Renaissance, Frankfurt a.M. et al.: Lang, und (1984). Renaissance und frühe Neuzeit. Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. 3. Stuttgart: Reclam, v.a. S. 87ff. Dessen Insistenz auf der die zeitgenössische Sprachauffassung kennzeichnenden Formel ‘res et verba’, wonach dauerhaften Verdeckung zum Erhalt der Illusion individueller wie gesellschaftlicher ‘Realität’: dies ist das Phänomen der Latenz, und frühneuzeitliche Literatur erschiene folgerecht als religionsablösende, säkularisierte Latenzagentur 28 . Zum anderen verdeutlicht sich hierüber die dem Imaginären immer schon eingeschriebene historische Dimension. Seine ununterbrochene Prozessualität - seine beständig scheinbar Eigenes (re-)instituierende und modifizierende Performanz - erklärt die stete Möglichkeit der Veränderung von ‘Welt’, den offenen Gedanken, ‘dass alles auch ganz anders sein könnte’, die prinzipielle Denkbarkeit von Alterität und kultureller Differenz 29 . Solches angesichts der Vorstellung einer in Gott verbürgten Wirklichkeit latent zu halten, scheint Aufgabe mittelalterlich-vorreformatorischer Religion, und ihr Verdeckungsinstrument ist eine die gottgegebene garantierte Wahrheit über Ähnlichkeit findende und darin immer wieder neu affirmierende analoge Sprache 30 . Erst die skeptische, erkenntnisoffene, affirmationslose Andreas Mahler 136 gilt: “Allein durch Sprache wird Seiendes für den Menschen wirklich” (Renaissance und frühe Neuzeit, S. 112, Hervorh. St.O.), konkordiert mit der einvernehmlich aus Cave zitierten Einsicht “that ‘things’ can only become apparent by virtue of language” (Terence Cave (1979). The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance. Oxford: Oxford Univ. Press, S. 21; vgl. SP 142, Anm. 4, zum Findungswissen auch 106f.). - Wirksamstes manifestes Verdeckungsinstrument ist natürlich die Abstempelung der curiositas zur Todsünde (vgl. auch UI 378, Anm. 19). 31 Der Begriff des ‘Spiels’ als Freiraum wie als uneigentlicher Gebrauch wird in den drei Bänden nicht systematisch genutzt, wenngleich er sich bei Harry Berger jr. bereits zentral angelegt findet: “The second world is the playground, laboratory, theater, or battlefield of the mind, a model or construct the mind creates, a time or place it clears in order to withdraw from the actual environment. It may be the world of play or poem or treatise, the world inside a picture frame, the world of pastoral simplification, the controlled conditions of scientific experiment. Its essential quality is that it is an explicitly fictional, artificial, or hypothetical world. It presents itself to us as a game which, like all games, is to be taken with dead seriousness while it is going on. In pointing to itself as serious play, it affirms both its limits and its power in a single gesture. Separating itself from the casual and confused region of everyday existence, it promises a clarified image of the world it replaces.” (Harry Berger jr. “The Renaissance Imagination” [wie Anm. 12], S. 11f., vgl. IW 29) Zum Gedanken des Spiels als Lockerung des oben beschriebenen Intervalls, als Entfaltung des Zwischenraums, als heterotope Kluft, siehe nochmals Mahler. “Semiosphäre und kognitive Matrix” (wie Anm. 16); zu einer Applikation des Spielbegriffs auf frühneuzeitliche (spanische) Literatur, mit einer ausführlichen Rekonstruktion zeitgenössischer Spielkonzepte, vgl. Wolfram Nitsch (2000). Barocktheater als Spielraum. Studien zu Lope de Vega und Tirso de Molina. Tübingen: Narr. 32 Mit anderen Worten: erst die sympathieaufkündigende, analogieungläubige Dissoziation von Zeichen und Bezeichnetem ermöglicht einen Sprachgebrauch, welcher - nochmals mit Iser - die Wiederkehr lebensweltlicher Realität im Text bewirkt und so das Imaginäre in eine Gestalt zieht, dass dies überhaupt zur Vorstellbarkeit des durch die vermeintlich wiederkehrende Realität Bezeichneten werden kann: zur Fiktion. Demgegenüber zieht analogistisches Findungswissen alles Vorstellbare immer schon in die alleinige Bestätigung genau der lebensweltlichen Realität. - Zum Gedanken frühneuzeitlicher Sprachveränderung, vor allem mit Blick auf Fischarts Rabelais-Übersetzung, siehe Thomas Rathmann (1991). “… die sprach will sich ändern”. Zur Vorgeschichte der Autonomie von Sprache und Dichtung. München: W. Fink (dort auch bereits ein sprachbewusstes Kapitel zum Cusaner). 33 Zum Transparenzmodell sprachlicher Repräsentation ausschließlicher Bedeutung siehe nochmals Foucault. Les Mots et les choses (wie Anm. 30), S. 72ff. Ähnliches ließe sich formulieren für die zweite - nunmehr auch begriffliche - Erfindung des Literarischen um 1800, wo die Umstellung der Sprache vom zweigliedrig starren Transparenzmodell auf ein organisches sich einer nicht mehr in der Latenz zu haltenden Materialität zu verdanken scheint, bevor das Literarische in der Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa bei Mallarmé, als Ausstellung sprachlicher Medialität erneut seinen eigenen Raum findet. Befragung des analogistischen Sinnversprechens, erst die sich aus gängigem Sprachrealismus lösende Dissoziation von Zeichen und Bezeichnetem, verba und res, eröffnet den Möglichkeitsraum prospektiver Anders-Rede: das ‘Spiel’ frühneuzeitlicher Literatur 31 . Hierin verändert die Sprache die Rede und die Rede die Sprache 32 ; die Rede findet nicht mehr über Sympathien Gegebenes, sondern erfindet Neues, welches sie als Sprache sogleich hinter der durch sie repräsentierten ‘Wirklichkeit’ verbergen wird: fortan stellt sie ein Doppel und macht sich unsichtbar 33 . Vor solchem Hintergrund lässt sich die These von der Geburt der Literatur aus dem Geist der Skepsis präzisieren Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 137 34 Auf den Einfluss nominalistischer Sprachauffassung wird vereinzelt verwiesen (vgl. etwa UI 404, Anm. 15, 405 und SP 146, Anm. 1, dort mit Weiterverweis auf ein schon bei Boccaccio beobachtbares Aufreißen einer “Kluft zwischen Wörtern und Sachen” bei Kurt Flasch (1992). Giovanni Boccaccio. Poesie nach der Pest. Mainz: Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung, S. 17). Zu einem Versuch programmatischer Verknüpfung von Nominalismus und Literatur siehe die Beiträge in Hugo Keiper/ Christoph Bode/ Richard J. Utz (Hg.) (1997). Nominalism and Literary Discourse. New Pespectives. Amsterdam/ Atlanta, GA: Rodopi, und darin vor allem die ausführliche Einleitung von Hugo Keiper. “A Literary ‘Debate over Universals’? Perspectives on the Relationships between Nominalism, Realism, and Literary Discourse”. 1-85. Wie alle Phänomene dieser Art kennzeichnet auch die Sprachveränderung eine merkliche Kluft zwischen Genese und Geltung, also zwischen der ersten Artikulation des Verdachts eines Anders-Seins und seiner allgemeinen Anerkennung. 35 Siehe hierzu in jüngerer Zeit vor allem die diesbezüglichen Studien von Bernhard Teuber, welche sich am Paradigma des San Juan de la Cruz zusammengefasst finden in (2003). Sacrificium litterae. Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz. München: W. Fink; zum dort vorgeschlagenen Konzept einer sich als unabschließbare Ersetzungsbewegung zu erkennen gebenden, die Opposition von theologischer Wahrheit und (theo)poetischer Erfindung endlos in supplementären Versichtbarungen des Unsichtbaren dekonstruierenden ‘Theopoetik’ vgl. insbes. S. 23ff. 36 Zu Verweisen auf die Moralistik vgl. etwa SP 90, Anm. 3, und 247, Anm. 2; zur Moralistik allgemein siehe knapp Hugo Friedrich ( 3 1993). Montaigne (1949). Tübingen/ Basel: Francke, S. 167ff.; zum Gedanken einer nicht moralisch wertend, sondern genau im Sinne von Entzogenheit zu verstehenden ‘negativen Anthropologie’ und ihrer kompensatorisch ausspiegelnden Supplementierung in dergestalt ‘funktionaler’ Literatur vgl. Karlheinz Stierle (1985). “Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil”. In: Fritz Nies/ K.S. (Hg.). Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei. München: W. Fink. 81-128. Zu Florio/ Montaigne als Teil der englischen Literatur siehe oben Anm. 3; zum Zusammenhang von skeptischer Grundhaltung und Imagination bei Montaigne (UI 40ff.) vgl. in letzter Zeit auch die Untersuchungen von Karin Westerwelle (2002). Montaigne. Die Imagination und die Kunst des Essays. München: W. Fink, und Martina Maierhofer (2003). Zur Genealogie des Imaginären. Montaigne, Pascal, Rousseau. Tübingen: Narr. und flankieren: die Emergenz des Literarischen verdankt sich demnach auch und vielleicht vor allem der Aktivierung des imaginativen Alteritätspotentials eines einschneidend sprachverändernden Nominalismus 34 ; zudem speist sie sich - wie schon das Wittgenstein-Zitat (vgl. oben Anm. 9) bezeugt - nicht unbeträchtlich aus den in einer unversehens häresieverdächtigen ‘Theopoetik’ gipfelnden (skeptisch-euphorischen) Hoffnungen mittelalterlich-frühneuzeitlicher Mystik 35 ; und schließlich sieht sie sich parallel gestützt durch eine zeitgleich vornehmlich in der Romania Geltung erlangende ‘negative Anthropologie’ der Moralistik und deren Folgen 36 . Nicht zuletzt aber hat Anders- Reden/ Anders-Handeln seinen institutionellen Ort immer auch schon im Karneval; die für Skepsis wie Imagination gleichermaßen bemühte Rede, ‘dass alles auch ganz anders sein könnte’ (vgl. SP 35, 270; IW 15, 25f., 41f., 44f.), hat ihr Pendant in der von Bachtin für das rituell wiederkehrende Fest diagnostizierten “Möglichkeit einer anderen Welt”: der Karneval, so seine bekannte Funktionsbestimmung der ‘karnevalesk-grotesken Form’, “erlaubt einen anderen Blick auf die Welt, die Erkenntnis der Relativität alles Seien- Andreas Mahler 138 37 Michail Bachtin (1987). Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1965). Hg. v. Renate Lachmann. Übers. von Gabriele Leupold. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 99 und 85 (Hervorh. M.B.). 38 Zu solcher Begrifflichkeit mit Blick auf den Karneval und die dort so genannte Karnevalisierung der Literatur siehe vor allem auch Michail Bachtin (1985). Probleme der Poetik Dostoevskijs (1963). Übers. v. Adelheid Schramm. Frankfurt a.M./ Berlin/ Wien: Ullstein, S. 113ff.; vgl. auch Formulierungen wie etwa die von einer “kommunikationsfreien Suada in bester Rabelais’scher Tradition” (UI 330). Die wenigen expliziten Verweise auf Bachtin beziehen sich auf dessen Beitrag zur Romantheorie (siehe UI 213f., Anm. 29). 39 Der Iser’schen Triade vom Realen, Imaginären und einem vermittelnden Fiktiven ließe sich so eine weitere Triade von (positivem) Topos [+a], (negativem) Utopos [-a] und vermittelndem Heterotopos [±a] zur Seite stellen. Zum Karneval als Äquivalenzagentur siehe Andreas Mahler (1993). “Komödie, Karneval, Gedächtnis. Zur frühneuzeitlichen Aufhebung des Karnevalesken in Ben Jonsons Bartholmew Fair”. Poetica 25. 81-128, v.a. S. 94ff.; Ähnliches scheint mir Eckhard Lobsien zu bezeichnen, wenn er von der Textwelt (W 2 ) formuliert, sie müsse “in ironischer Gleichzeitigkeit als Faktum von W 1 und als Dementi aller solcher Fakten fungieren” (IW 33). Zu Heterotopoi als tatsächlich realisierten Utopien, als ineinssetzenden “contre-emplacements, sortes d’utopies effectivement réalisées dans lesquelles les emplacements réels, tous les autres emplacements réels que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés”, siehe Michel Foucault (1994). “Des espaces autres” (1967). In: M.F., Dits et écrits. Hg. v. Daniel Defert/ François Ewald. 4 Bde. Bd. 4, Paris: Gallimard. 752-762, das Zitat S. 755. Von hier aus böte sich ein Anschluss an die im Schlussbild des Triptychons nurmehr gestreifte hochsuggestive Formel einer allen indoeuropäischen Kulturen eignenden, in sich geschlossenen und zugleich offenen Dreiheit von ‘1, 2, 3/ 4’; siehe Reinhard Brandt (1998). D’Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte (1,2,3/ 4) (1991). München: dtv, v.a. S. 15 (vgl. IW 293f., Anm. 41). 40 Zum Doppelcharakter der Fiktion siehe Rainer Warning (1983). “Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion”. In: Henrich/ Iser (Hg.), Funktionen den und der Möglichkeit einer grundsätzlich anderen Weltordnung” 37 . Auf eine solche Funktionsübereinstimmung verweist die stete Wiederkehr ‘Bachtin’scher’ Wendungen wie derjenigen von der “Relativierung simultan präsenter Muster” (SP 137f., Anm. 2), der “Vorstellung festlicher Überfülle” (SP 141), des “Suspenses” (SP 148), der ‘Exzentrizität’ (SP 156), der ‘Doppelweltlichkeit’ und “Profanierung” (SP 199) oder auch des “Synkretismus” (SP 264) 38 . Was in der Skepsis als (prozessual-aufschiebende) Alterierung des Denkens (und damit als Suspension von ‘Wahrheit’) und in der Imagination als (dauerhaft-chimärenhafte) Alternative zum Gegebenen (und damit als Suspension von ‘Welt’) erscheint, feiert der Karneval immer schon konkretrituell als temporär vom Ernst ‘realer’ Lebenswelt entlastendes zyklisches Fest. Funktional fallen mithin Skepsis, Imagination und Karneval ineins; als Orte lizenzierter Kookkurrenz des wechselseitig Ausgeschlossenen sind sie (paradoxale) Agenturen der Äquivalenz: ‘dritte’ Räume zwischen positiver Geltung und ausgegrenzter Negativität 39 . Im gleichberechtigt nebeneinanderstellenden Hereinholen des Ausgegrenzten, in solcher ‘Positivierung von Negativität’ liegt ihre fundamentale Doppelung: skepsistypische Isosthenie, das Això era y no era der Fiktion, doppelweltliche Ineinssetzung [±a] des Karnevals 40 . Dies ist emphatische Setzung eines kontrafaktischen ‘und’: Skepsis - Imagination - ‘Kultur’ 139 des Fiktiven (wie Anm. 23). 183-206; das dort erwähnte, das Prinzip der Äquivalenz in exemplarischer Weise auf die Achse der Kombination projizierende Això era y no era (‘So war es und war es nicht’) des mallorkinischen Märchenanfangs (S. 193) geht zurück auf Roman Jakobson (1960). “Linguistics and Poetics”. In: Thomas A. Sebeok (Hg.). Style in Language. Cambridge, MA: MIT Press. 350-77, hier S. 371. Die Jakobson’sche Formel von der (poetischen) Paradigmatisierung der syntagmatischen Achse ist eine der klassischen Einsichten in das Prinzip der Äquivalenz. 41 Ein solches Konzept scheint an etlichen Stellen greifbar, auch wenn es nirgends so bezeichnet wird: so etwa im Befund widerstreitender Positionen, die “in einer Balance gehalten [werden], die so nur im literarischen Diskurs möglich ist” (SP 148), oder in der Rede von “Kippfiguren, die bei der Lektüre ein dynamisches Sowohl-als-Auch erfahrbar zu machen vermögen”, welches “nur im Medium der Fiktion möglich” erscheint (SP 265f.), u.ö. 42 Zum Begriff des ‘contre-discours’ siehe Foucault. Les Mots et les choses (wie Anm. 30), S. 58f. u. 312f.; zu seiner Theoretisierung aus einer - wie das Lobsien’sche Projekt - dominant literaturwissenschaftlich interessierten Sicht siehe Rainer Warning (1999). “Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault”. In: R.W. Die Phantasie der Realisten, München: W. Fink. 313-345. 43 Diese Dialektik von Aufbau und Zerstörung, von (kontextualer) “Einbettung und Ausbettung”, von der Instituierung eines gesellschaftlichen Imaginären und seiner Rücknahme, ist zentrales Signum von Konterdiskursivität, wie dies Rainer Warning herausgestellt hat (“Poetische Konterdiskursivität” [wie Anm. 42], S. 317f., das Zitat S. 318); sie zeigt sich etwa im unabschließbaren Hin und Her von machtvoll setzender Strukturgewinnung und entropischem Zerfall bei Bouvard und Pécuchet (wie Anm. 26) wie in der Errichtung der chinesischen Mauer (mit ihrem potentiellen Zerfall) und der Verbrennung aller Bücher (und der potentiellen Wiedergewinnung des in ihnen artikulierten Wissens) bei Borges (wie Anm. 27), sie zeigt sich in der branloire perenne Montaignes wie in den Hamlet’schen Hypotyposen (SP 85ff.; siehe oben). Ein solcher Gedanke der (De-)/ (Re-)Konstruktion findet sich bei den Lobsiens an mehreren Stellen; vgl. UI 63, 104, 259, 411. normalweltlicher Notwendigkeit oppositiver Ausschließung ([+a] vs. [-a]) kontrastiert irrealisierend möglichkeitsreiche gegenweltliche Äquivalenz ([+a] [-a]). Von hier eröffnet sich als letzter Anschluss Begriff und Konzept des Konterdiskursiven, von Konterdiskursivität 41 . Fasst man - wie oben - ‘Diskurs’ als System des Denkens und Argumentierens, so ist Skepsis kein Diskurs, kein System philosophischen Denkens und Argumentierens, sondern suchendes Denken anhand und außerhalb jeden Systems: radikale Systembefragung; gleichermaßen ist Imagination nie vollständige Einlösung von Diskursen, sondern bestenfalls deren Inszenierung, Relativierung, Alterierung, nie resultathaft erstarrende Affirmation, sondern beständiger Aufschub: unendlicher Prozess. In diesem Sinne sind sie beide ‘konterdiskursiv’ oder besser: ‘nicht-‘, ‘a-diskursiv’ 42 ; ihr Sprachgebrauch dient nicht der Artikulation von Wahrheit oder Wissen, er zielt auf suspendierende Befragung, auf Befreiung der Sprache aus den Fesseln scheinbar vorgängiger Bedeutung. Beide jedoch tun dies je anders: skeptisches Denken operiert genau am Rande des Diskurses, indem es jeweils in dem Moment, da es zum System gerinnt, in neuen Zweifel kippt; literarisches Denken hingegen operiert in einem (fiktiven) Gegenfeld, in welchem es in ständiger Kippbewegung Wissenspositionen zitieren, wenden, aufbauen und zerstören kann, sie aber niemals ganz ratifiziert 43 . So ist Montaigne ‘skeptisch’ dort, wo Andreas Mahler 140 44 Dies deutet sich an bei Milton (siehe oben Anm. 22), es gewinnt Momentum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und erreicht zunehmende Geltung ab den Dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts; Foucaults Referenzautoren sind bekanntlich Hölderlin und Mallarmé (Les Mots et les choses [wie Anm. 30], S. 59), zur Rede von einer literarischen “intransitivité radicale” siehe ebd., S. 313. Zum zweiten Reflexionsschub und einem damit einhergehenden Ausstieg aus der Mimesis vgl. Andreas Mahler (2006). “Sprache - Mimesis - Diskurs. Die Vexiertexte des Parnasse als Paradigma anti-mimetischer Sprachrevolution”. Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 116. 34-47, v.a. S. 44ff. 45 Auf solches zielt Jonathan Culler, wenn er theoriebewusste literaturwissenschaftliche Arbeit als “a source of intimidation” bezeichnet, als “a resource for constant upstagings: ‘What? you haven’t read Lacan! How can you talk about the lyric without addressing the specular constitution of the speaking subject? ’ [...] ‘Spivak? Yes, but have you read Benita Parry’s critique of Spivak and her response? ’”; Jonathan Culler (1997). Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford Univ. Press, S. 15f. er sich (noch) an Systemen abarbeitet, und ‘literarisch’, wo er (bereits) frei mit ihnen spielt. Wo also ‘Skepsis’ Denken aus seiner (diskursiven) Objektbindung an ein Wissen löst und auf sich selbst zurückbiegt, reflexiviert, ‘metaiert’, stellt ‘Literatur’ alles Denken als auch möglich und nicht möglich aus: in solcher Intransivierung liegt die frühneuzeitliche Emergenz des Literarischen; wo sodann ‘Literatur’ in einem weiteren Schub der Reflexion die sie tragende Sprache von jeglichen Objektbezügen löst, stellt sie sich selber aus, wird sie radikal intransitiv, alleinig konterdiskursiv: dies ist ihr Ausstieg aus der Mimesis um 1850 44 . All dies sind keine Monita, vielmehr Bekundungen zum Dialog. Literaturwissenschaftliches Denken - nicht ungleich literarischem - scheint unabschließbar, uferlos: statt abhakbaren Antworten gebiert es stets nur neue Fragen, es ist beständiger Prozess. 45 Das in wechselseitiger Stützung erstellte Triptychon der Lobsiens ist ein großer Wurf; es gilt ihn einzuholen. Andreas Mahler Institut für Englische Philologie Ludwig-Maximilians-Universität München