eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 42/1

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
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2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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2017
421 Kettemann

Franz Karl Stanzel, Die Typischen Erzählsituationen 1955-2015. Erfolgsgeschichte einer Triade. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015.

2017
Rezensionen 179 Franz Karl Stanzel, Die Typischen Erzählsituationen 1955-2015. Erfolgsgeschichte einer Triade. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015. Alwin Fill Der Doyen der deutschsprachigen Anglistik hat noch einmal ein Buch vorgelegt, in dem er den Erfolg seiner vor 60 Jahren entwickelten Erzähltypologie beschreibt und erklärt. Die drei Erzählsituationen, die er unterscheidet (Ich- Erzählung, auktoriale und personale Erzählweise) und in seinem „berühmtberüchtigten― ‚Typenkreis‗ einander gegenüberstellt, sind inzwischen Gemeingut der Erzählforschung geworden und aus der Interpretation von Romanen und Kurzgeschichten nicht mehr wegzudenken. Thomas Manns Ich- Erzählung Felix Krull, sein auktorialer Zauberberg und Kafkas personal dargestelltes Schloss sind als Standardbeispiele bekannt, und die Namen der Drillinge, wie Stanzel die drei Erzählsituationen nennt, sind household words geworden, zu deren sechzigstem Geburtstag sein Buch als Festschrift gedacht ist. Zur Entstehung seiner Drillinge schreibt Stanzel: „Die Geburt der Drillinge war nicht unordentlich (Thomas Manns Moses), aber auch nicht ganz einfach. Denn das Gedränge im Gebärkanal war groß― (S. 26). Es waren ursprünglich vier Erzählweisen, die Stanzel beschreiben wollte - eine davon, die neutrale mit ausgedehnten Dialogpassagen hat er „etwas unzeremoniell entsorgt―. Neben Anekdotischem (z.B. Kohleschippern vom Bahnhof zur Universität für die erste germanistische Lehrveranstaltung im WS 1946/ 47, S. 32) enthält das Buch auch viel Autobiographisches, etwa historische Begegnungen mit berühmten Autoren wie René Wellek, Levin L. Schücking, Horst Oppel und Herbert Koziol, dem der Autor 1962 nach Professuren in Göttingen und Erlangen-Nürnberg auf dem Lehrstuhl in Graz nachfolgte. Die Entstehung des Typenkreises und die Kritik daran, aber auch die ‚erlebte Rede‗ (z.B. „tomorrow was Christmas―) werden in eigenen Kapiteln behandelt, wobei die Auseinandersetzung mit Größen wie Gérard Genette, Dorrit Cohn, Jochen Vogt und Käte Hamburger großen Raum einnimmt. Die Diskussion zwischen Hamburger und Stanzel über episches Präteritum und Erlebte Rede wird in einem eigenen Abschnitt an Hand von Kurzfassungen von Publikationen der beiden und von Kommentaren zu dieser Debatte chronologisch dargestellt (S. 141- 144). Ein weiterer Teil des Buches (Teil 4, S. 73-91) ist James Joyce gewidmet, dessen Roman Ulysses sich zunächst als „Stolperstein― (S. 74) für die Anwendung der Erzähltheorie erwies, der sich aber durch die „Kühnheit des Produzenten der Drillinge― (S. 89) schließlich doch einordnen ließ und sich sogar als Quelle für ein später behandeltes Thema des Autors erwies, nämlich die Telegonie oder Fernzeugung. Stanzel wertet dies als „postumen Dank von James Joyce an mich― dafür, dass er das ‚Rätselbuch‗ Ulysses „in die Domäne des klassischen Romans einzugemeinden― verstand. Eine originelle Besonderheit des Buches sind die Abbildungen, die zum größten Teil Fotographien von sogenannten ‚Morschplastiken‗ (eigentlich AAA Band 4 2 (201 7 ) Heft 1 Rezensionen 180 ‚Morschholzskulpturen‗) sind, d.h. Fotos der Wurzelstöcke von mehr als hundertjährigen Edelkastanien, die auf der steirischen Koralpe bis zu 50 Jahre nach dem Fällen des Baumes in vermorschtem Zustand stehen geblieben sind. Der Sinn dieser Bilder ist zu zeigen, wie zunächst formlos Erscheinendes doch mit Bedeutung gefüllt werden kann, ähnlich wie in der Vielfalt der Erzählungsarten typische Züge und Strukturen aufgedeckt werden können (vgl. S. 20f.). Originell ist auch, dass Stanzel S. 98-101 vier sogenannte ‗found poems‗ abdruckt, die er aus Phrasen und Satzteilen in den Rezensionen seiner Werke über die Erzählsituationen und den Typenkreis zusammengestellt hat. Es handelt sich hier um Phrasen, die wie in einem Gedicht Zeile für Zeile untereinandergestellt werden. Die Texte sind selbstironisch-witzig, da Stanzel auch negative Kritik an seiner Arbeit in die ‚Gedichte‗ aufgenommen hat. Die Schrift zum 60. Geburtstag seiner ‚Drillinge‗, wie Stanzel seine drei typischen Erzählsituationen auch fürsorglich nennt, enthält nicht nur Texte des Erfolgsautors, sondern, wie bei Festschriften üblich, einige Gratulationsadressen von Schülern und Kollegen des zu Ehrenden. Da finden sich Beiträge von Martin Löschnigg, Karl Steinkogler und Ingrid Pfandl-Buchegger, die von einer Exkursion nach Wales (mit Untersuchung der Verwendung des Walisischen) und von Literaturtagen in Stanzels Landhaus bei Deutschlandsberg berichtet, wo literarische Größen wie Iris Murdoch mit John Bailey, Christine Brooke-Rose, Aritha van Herk, Stephen Scobie und Douglas Barbour zu Gast waren. Ein Gedicht von Ingrid Gutmann („Hoppla, Drillinge - oder wer war der Täter? ―) ist ebenso abgedruckt wie die Laudatio von Prof. Carmen Birkle zur Verleihung von Stanzels Ehrendoktorat (seinem zweiten nach Fribourg, 1985) an der Philipps-Universität Marburg/ Lahn anno 2015. Vielleicht sollte noch auf ein Thema eingegangen werden, das in Teil 8 (S. 155-160) des Buches besprochen wird und das dem Autor der Festschrift besonders am Herzen liegt: „Gegen die Totalanglisierung des anglistischen Diskurses―. Stanzel, fast 30 Jahre Mitherausgeber der GRM, beschreibt zunächst die immer größer werdende Bedeutung des Englischen bei Publikationen und in der Lehre und spricht auch von vielen Vorteilen dieser Entwicklung, warnt aber dann vor fachterminologischer Austrocknung und längerfristig sogar einer gewissen „Verarmung der hochdifferenzierten Ausdrucksfähigkeit des Deutschen, wie sie für die Interpretation anspruchsvoller literarischer Texte, vor allem von Dichtung, erforderlich ist― (S. 157). Er gibt auch Beispiele von Fehlübersetzungen wie etwa ‚Idealtypus‗ als ‚ideal types‗ oder ‚Personale Erzählsituation‗ als ‚personal narrative situation‗ anstatt ‚figurative narrative situation‗ (S. 158). Dass in deutschen und österreichischen Fachzeitschriften hauptsächlich englische Beiträge abgedruckt werden, hat generell eine Qualitätsminderung zur Folge, denn „viele der von deutschsprachige Verfassern eingesandten Beiträge in englischer Sprache waren offensichtlich, manchmal sogar nachweisbar, vorher schon von einer Fachzeitschrift in England oder Nordamerika zurückgewiesen worden, meist nicht ohne Grund! ― (S. 159) Besonders ärgerlich findet er, dass der österreichische Wissenschaftsfonds FWF bei allen Anträgen für geisteswissenschaftliche Forschungsprojekte auf Englisch als Antragssprache besteht. Dagegen schreibt Stanzel: „Für alle Geisteswissenschaften, ganz besonders aber die Literatur- Rezensionen 181 wissenschaft, ist die Ausdrucksfähigkeit in der Muttersprache ein, wenn nicht das schlüssigste Kriterium für die Fähigkeit des Antragsstellers (generisch! ), seine Gedanken und Interpretationen mit optimal differenzierter Ausdrucksfähigkeit zu formulieren.― (S. 160) Hier greift diese Festschrift, die im Allgemeinen eher narrativ geschrieben ist, kritisch ein ernstes Thema auf, das besonders (aber nicht nur) im deutschsprachigen Raum in größerem Rahmen diskutiert werden sollte. Stanzel hat ein gut lesbares Buch vorgelegt, das literarhistorisch äußerst interessant ist, aber auch auf originelle Weise Text und Bild nebeneinanderstellt und, wie eben gezeigt, auch auf wichtige Desiderata der linguistischliteraturwissenschaftlichen Forschung aufmerksam macht. Alwin Fill Karl-Franzens-Universität Graz