eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 42/1

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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2017
421 Kettemann

Eckhard Lobsien, Die Antworten und die Frage. Funktionen der Literatur – der irische Roman 1800 bis 1850, 2014

2017
Katharina Rennhak
Rezensionen 166 spective readers: start with the theory chapter 2.1, then go on to the readings of those Hustvedt novels you are most interested in (The Summer Without Men seems a safe omission in any case or, at least, ―is in many respects different from the preceding and subsequent novels‖, 304), then stop. References Hamon, Philippe (1981). Introduction à l‟analyse du descriptif. Paris: Hachette. Jacobs, Karen (2001). The Eye‟s Mind: Literary Modernism and Visual Culture. Ithaca, NY: Cornell UP. Mergenthaler, Volker (2002). Sehen schreiben - Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen: Niemeyer. Reipen, Corinna Sophie (2014). Visuality in the Works of Siri Hustvedt. Frankfurt a.M.: Lang. Zunshine, Lisa (2006). Why We Read Fiction: Theory of Mind and the Novel. Columbus, OH: Ohio State UP. Guido Isekenmeier Institut für Literaturwissenschaft Abteilung Neuere Englische Literatur Universität Stuttgart Eckhard Lobsien, Die Antworten und die Frage. Funktionen der Literatur - Der irische Roman 1800 bis 1850 (text & theorie 15). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014. Katharina Rennhak Eckhard Lobsiens Studie besteht - wie der Autor selbst in der Einleitung klarstellt - „aus zwei selbständigen Teilen, die verklammert sind durch die Frage nach einer Funktionsgeschichte der Literatur, die aber nicht in einem Verhältnis von Modell und Applikation zueinander stehen― (12). In der Tat schreibt Lobsien zunächst eine „kleine Collingwood-Monographie― (12), die den funktionsgeschichtlichen Zugriff auf die literarischen Erzähltexte im zweiten Teil präzise fundiert und umsichtig rahmt. Darauf folgt eine funktionsgeschichtliche Analyse und Einordung des irischen Romans von 1800 bis 1850. Die Studie leistet so einen Beitrag zu zwei Forschungsfeldern, die in der anglistischen Literatur- und Kulturwissenschaft in den 1990ern und 2000ern etwas in den Hintergrund gerieten, in den letzten Jahren aber neu entdeckt werden. AAA Band 4 2 (201 7 ) Heft 1 Rezensionen 167 Die Rede ist vom wiedererstarkenden Interesse an hermeneutischen Lektüreverfahren 1 einerseits und an der Erzählprosa der irischen Romantik andererseits. 2 Im ersten Teil „Collingwood und die Reichweiten der Funktionsgeschichte― rekapituliert Lobsien R. G. Collingwoods Konzept der „fünf Konstitutionsformen des menschlichen Geistes― (14), das der britische Philosoph und Historiker in Speculum Mentis or the Map of Knowledge (1924) entworfen hat. Ziel dieser Ausführungen ist es, erstens zu zeigen, wie die hermeneutische Frage-Antwort-Logik für dezidiert literaturwissenschaftliche Textbetrachtungen fruchtbar gemacht werden kann. Zweitens soll die spezifische Leistung der Literatur im Vergleich zu anderen Denkformen bestimmt werden, um auf dieser Grundlage eine literarische Funktionsgeschichte zu schreiben. Der Nachvollzug von Lobsiens Collingwood-Lektüre im Folgenden wird recht schnell deutlich machen, dass sich Lobsien nicht scheut, eine Terminologie zu verwenden und Konzepte zu nutzen, die den Grundannahmen einer poststrukturalistisch informierten Literaturwissenschaft, wie sie heute weitüberwiegend in der Anglistik praktiziert wird, mitunter diametral entgegen zu laufen scheinen. Ich werde abschließend diskutieren, inwieweit dieser Schein trügt. Lobsien erinnert seine Leserinnen und Leser zunächst an die für hermeneutische Lektüren charakteristische Frage-und-Antwort Logik, wie sie sich bei Collingwood und Gadamer findet: Wissen und Verstehen setzt Fragen voraus, die Antworten generieren. Hermeneutikerinnen und Hermeneutiker verstehen, so erklärt Lobsien anschaulich und differenziert, ihr Untersuchungsobjekt als Antwort auf eine Frage. Diese Frage kann und muss aus dem Text, d.h. aus der vorliegenden Antwort, rekonstruiert werden. Weil das hermeneutische „Fragen nach der Frage hinter der [im Text] manifesten Antwort― (21), wie Gadamer in Wahrheit und Methode erklärt, „niemals in ihrem ursprünglichen Horizont stehen [kann]― (356; zit. in Lobsien 21), ist der Leser bzw. die Leserin gehalten, die jeweiligen Fragehorizonte mit zu bedenken. Dies gelingt nun nicht etwa (vorrangig) durch die Rekonstruktion des kulturhistorischen Entstehungskontextes auf der Basis einer Lektüre anderer Texte (wie kulturwissenschaftlich geschulte Leserinnen und Leser nahezu reflexartig annehmen mögen). Vielmehr gilt es, wiederum das vorliegende Werk zu befragen und „den Text, der uns fragt, selber auf eine Frage zurückzuführen, auf die er die Antwort darstellt― (20). Lobsien ist sich dabei durchaus bewusst, dass dieses hermeneutische Verfahren „auf eine perfekte Tautologie― hinausläuft (17). Diese kann aber im Frage-und-Antwort-Prozess so geöffnet werden, dass „ein Spielraum möglicher anderer Antworten― 1 Insbesondere Paul Ricœurs Hermeneutik ist nie ganz aus der Mode gekommen; eine interessante Reflexion über die Verknüpfung traditioneller hermeneutischer Lektüreverfahren mit narratologischen Methoden und Modellen findet sich in Julian Hanebecks (2017; im Druck), Understanding Metalepsis. Berlin: de Gruyter. 2 Siehe u.a. Claire Connolly (2012). A Cultural History of the Irish Novel, 1790-1829. Cambridge: Cambridge Univ. Press; und Julia Wright (2014). Representing the National Landscape in Irish Romanticism. Syracuse, NY: Syracuse Univ. Press. Rezensionen 168 erkennbar wird, wodurch die „besondere Funktion― der vorliegenden Antwort „im Spektrum der Möglichkeiten einsichtig wird― (17). Nachdem die Grundlagen des hermeneutischen Verstehens geklärt sind, setzt sich Lobsien intensiv mit der Vorstellung von den fünf Bewusstseinsformen auseinander, die Collingwood in Speculum Mentis entwickelt. Diese fünf Bewusstseinshaltungen manifestieren sich in den Denkmustern, die die „Wissensregionen― Kunst, Religion, Wissenschaft, Geschichte und Philosophie jeweils prägen. Gefragt wird danach, wie - das heißt genauer: unter Rückgriff auf welche Formen der Komplexitäts-reduktion - das Bewusstsein, das als „weltkonstituierendes Tun― (23) verstanden wird, die Welt erfasst. Die Kunst betrachtet Collingwood als den radikalste Modus des Fragens und Antwortens, denn die Imagination entwirft stets nur Als-ob- Welten und ist dabei lediglich der „Kohärenz und Geschlossenheit― des jeweils imaginierten Weltmodells verpflichtet, das in Form des (Kunst-)Werks als Ganzem vorliegt und vom „Werk-Zeichen― (29) nicht abgelöst werden kann. Kunst und Literatur produzieren Wissen, das „nicht wahrheitsfähig […] und nicht referentialisierbar― (34) ist, sondern vielmehr neue Perspektiven erprobt und alternative Welten entwirft. Während das künstlerische Bewusstsein entsprechend mit „hyperkomplexen Zeichen― umgeht, operiert die religiöse Bewusstseinsform mit offenbarten Wahrheiten. „Den Sinn von Kunst kann man nicht paraphrasieren, weil dann die Komplexität seiner Bezeichnung zusammenfiele. Den Sinn religiöser Zeichen braucht man nicht zu paraphrasieren, weil er allemal schon ‚da‗ ist und sich gegen jede Explikation sperrt― (39). Das wissenschaftliche Bewusstsein dahingegen ist klassifikatorisch. Seine Denkoperationen bestehen in Abstraktionsleistungen, die „die realen Tatsachen dieser Welt― (43) im Zuge der Schematisierungen und Klassifikationen, die es vornimmt, verwandeln. Collingwood (und mit ihm Lobsien) interessiert sich nun bekanntlich besonders für das historische Bewusstsein, das - anders als die anderen Wissenschaften - „die realen Tatsachen dieser Welt― in „ihrer widerspenstigen Singularität― wahrnimmt (43) und über diesen Akt der Wahrnehmung das Prinzip der Perspektivität allen Wissens und Verstehens ernst nimmt. Allein schon weil der Historiker mit Dokumenten arbeitet, operiert das historische Bewusstsein immer mit einer doppelten perspektivischen Brechung: nämlich mit der Wahrnehmungsperspektive, die durch den Standort der Person bedingt ist, die das Dokument verfasst hat, und mit der des Historikers, der die Gedanken der Autorin bzw. des Autors in der Lektüre nachvollzieht: „All history is the history of thought. […] The history of thought, and therefore all history is the re-enactment of past thought in the historian‘s own mind― (Collingwood, The Idea of History, zit. in Lobsien 49). Eine weitere perspektivische Brechung ergibt sich aus der in der Regel narrativen „Supplementierung der erfassten Daten zu einem Kontext― (45). An diesem Punkt wird das bekannte Prinzip der Collingwoodschen „historical imagination― relevant. Während Lobsien mit Collingwood (und Hayden White) betont, dass es sich beim historischen Bewusstsein anders als beim künstlerischen um ein „aufdeckendes Bewusstsein― (46) handelt, das davon ausgeht, „that there is a world of fact independent of the knowing Rezensionen 169 mind― (Collingwood, „The Nature― 46; zit. in Lobsien 46), gründet es doch nicht nur in einem Akt der Wahrnehmung, sondern zugleich in einem ebenso fundamentalen „Akt der Imagination―, der das faktische Einzelwissen im Zuge von „narrativen Inszenierungen― als Geschichte fasst (47). Ein für Collingwood und Lobsien entscheidendes Problem ist bei alledem die epistemologische Frage, wie das historische Bewusstsein Zugang zu Vergangenem gewinnt. Sie wird (bei Lobsien phänomenologisch gewendet) unter Rückgriff auf die folgende Konzeptualisierung des Leseaktes beantwortet: „Lesen heißt in der Tat: Andere Gedanken nachdenken― (49). Durch das „re-enactment of past thought in the historian‘s own mind― (Collingwood, „Human Nature― 215; Lobsien 49) wird dabei auch die „intentionale Gerichtetheit― des Dokuments - freilich unter den Bedingungen des gegenwärtigen, nicht des vergangenen Horizonts - vom Historiker oder der Historikerin aktiviert und nachvollzogen. Auf dieser Grundlage kann Lobsien nun eine hochinteressante These formulieren, die den literarischen Text zur perfekten historischen Quelle erhebt: Ein literarischer Text ist - als historisches Dokument - ein ganz ausgezeichnetes intentionales Aggregat. […] Literatur ist die einzig wirklich unbezweifelbare, keiner Kritik bedürftige historische Quelle, weil sie all das, was sie ‚bezeugt‗, selber generiert; sie handelt sich deshalb auch keine kritischen epistemologischen Rückfragen ein. (49 f.) Literatur, so Lobsien, ist zugleich historisches Dokument und historisches Faktum (52). Sie hält stets zwei Antworten für fragende Historikerinnen und Historiker bereit, denn in ihr geht „Semantik […] einher mit Symptomatologie und Ikonizität― (53). Zum einen generiert Literatur über das in ihr Dargestellte eine Antwort, die auf ein historisches Problem reagiert. Als „Evidenzfaktum― ist der literarische Text, „noch ehe wir uns seiner besonderen ‚Welt‗ zuwenden―, als Antwort auf die folgenden zwei symptomatologischen Fragen zu verstehen: „(1) Warum gibt es den Text überhaupt, was signifiziert die Tatsache seines Bestehens? (2) Warum ist der Text so, wie er ist? ― (53) Der über die Textwelt etablierte Sinn ist dabei von der „‚Form‗ des Faktums― natürlich nicht „abtrennbar― (54). Dies wiederum bedeutet letztlich, dass die funktionsgeschichtliche Literaturwissenschaft ebenso wie der Collingwoodsche „historian― stets den konkreten Einzelfall ernstnehmen muss. Nur über die gründliche Lektüre bzw. das ‚Nach-Denken‗ des hyperkomplexen Zeichens, das jeder literarische Text darstellt, erschließt sich die Frage, auf die der Text eine Antwort liefert, und damit auch der Sinn und das funktionsgeschichtliche Potential der Antwort. Der abschließende Blick auf das philosophische Bewusstsein, dessen zentrale Funktion darin liegt, „die notwendigen Grenzen der anderen Bewusstseinsformen aufzuweisen― (58), dient Lobsien vor allem dazu, der Frage, welche Rolle „Literatur in der Reaktualisierung von Geschichte― spielt (63), noch differenzierter nachzuspüren. Die entscheidende These, die Lobsien hier von Collingwood her entwickelt, betrifft die „Kernfunktion von Rezensionen 170 Literatur―, die darin besteht, „die Präsuppositionen unserer Welterfassung jenseits aller Wahrnehmbarkeit reflexartig aufscheinen zu lassen― (64). Verkürzt gefasst, kann das literarische Bewusstsein die unhinterfragten Präsuppositionen allen Denkens, die, solange sie in einer bestimmten Kultur Geltungskraft besitzen, „weder empirisch noch reflexiv eingeholt― werden können, deshalb aufscheinen lassen, weil das literarische Bewusstsein mit künstlerischen Regeln operiert, die als ‚Reflexe‗ von absoluten Präsuppositionen verstanden werden können. Die Form oder Struktur einer im literarischen Text entworfenen Welt lässt Rückschlüsse zu auf die „epochalen Präsuppositionen― der Welt, in deren Horizont sie imaginiert wurde (64). Zudem interessiert sich Lobsien für die Überlappungen von Philosophie und Literatur, deren wichtigste in der undogmatischen Natur dieser beiden Bewusstseinsformen liegt, die das in der Welt vorhandene Wissen aufnehmen und überarbeiten (73). Philosophie und Literatur öffnen die Sicht auf „Relativität, Perspektivität, Transitorität, ja Opportunität― (69). Der entscheidende Unterschied zwischen diesen Bewusstseinsformen liegt darin, dass im „literarischen Text […] Semantik zur prozesshaften Semiotik― (73) wird. Semantische Einheiten bleiben in Bewegung, verändern ihren Sinn und gehen vor allem „schließlich [auf] in der Konstitution eines Zeichens über alle Teilzeichen hinaus, aber nicht ohne Rücksicht auf diese― (73). Während der philosophische Text stets vor allem auch seiner inhaltlichen Aussage verpflichtet bleibt, ist für Lobsien die prozesshafte Semiotik das alles entscheidende Merkmal der Literatur: „content ist nur noch asymptotisch denkbar und sagbar. Genau das befähigt die Literatur, Antworten auf Fragen zu erarbeiten und zu vermitteln, die so in keiner anderen Sprache und durch keine andere intentionale Haltung erreichbar wären― (74). Bevor der erste Teil von Die Antworten und die Frage, der einer literaturwissenschaftlichen Funktionalisierung von Collingwoods Theorie der fünf Bewusstseinsformen gewidmet ist, mit einer hilfreichen Rekapitulation der wichtigsten Punkte endet, wirft Lobsien noch einen kurzen Blick auf die Phänomenologie Bernhard Waldenfels‘, mit Hilfe derer die für das funktionsgeschichtliche Anliegen entscheidende Dynamik der Frage-Antwort-Logik von Lobsien noch einmal präzisiert wird. Unter anderem betont Lobsien mit Waldenfels, dass sich der Radius einer Frage so weiten kann, dass „ganze diskursive Ordnungen ins Spiel― gebracht werden (75) und dass Fragen ein Möglichkeitsdenken bedingen und Aufforderungscharakter haben. Der zweite Teil von Lobsiens Studie, die funktionsgeschichtliche Analyse des irischen Romans von 1800-1850, beginnt mit einer Klärung des Begriffs Funktionsgeschichte, die die Positionen Isers und Flucks referiert und, aufbauend auf Isers Triade des Realen, Fiktiven und Imaginären (wie schon im Zuge des Vergleichs der Collingwoodschen Bewusstseinsformen Philosophie und Kunst/ Literatur), einen Literaturbegriff favorisiert, der die weltgestaltende, entgrenzende und transformative Kraft literarischer Texte betont. Die zentrale Frage, um die Lobsiens Ausführungen dabei kreisen, ist die nach der Vereinbarkeit der Begriffe ‚Funktion‗ und ‚Geschichte‗. Dem Problem, dass wir „freilich wissen [müssen], was Literatur ist und was sie leisten kann, noch vor jeder historischen Untersuchung― (96), begegnet Rezensionen 171 Lobsien dabei mit der Bestimmung des literarischen Texts als Globalzeichen: Literatur entwirft dank der Kraft des Imaginären immer Weltmodelle (die in Konkurrenz zu den jeweils aktuell gültigen Wirklichkeitsmodellen einer Gesellschaft stehen), „und zwar so, dass über alle Zeichen (Sinneinheiten) hinaus sich ‚ein‗ oberster Sinn aufbaut, der nicht mehr als er selber artikulierbar ist […], doch unabweisbar wirksam wird und fungiert.― (95) Hierin liegt die ahistorische Funktion der Literatur. Was sich historisch verändert und wofür sich die literaturwissenschaftliche Funktionsgeschichte interessiert, ist der jeweils für eine „spezifische Situation― feststellbare und für den Einzeltext charakteristische Aufbau des Globalzeichens. Schließlich werden die methodischen Prämissen, die sich aus den Vorüberlegungen ergeben, noch einmal für die „spezifische Situation― des irischen Romans im frühen 19. Jahrhundert auf den Punkt gebracht. Hier sei zunächst nur die für die Textlektüren wichtigste (und letzte) aufgeführt: Die Frage, auf die laut Lobsien „die irischen Romane [allesamt] eine Antwort erarbeiten―, ist die (erstmals explizit von Maria Edgeworth am Ende von Castle Rackrent aufgeworfene Frage [111, 255]), was ‚Irland‗ nach dem Act of Union von 1800 bedeutet bzw. „ob der Name überhaupt noch eine Referenz besitzt― oder, noch einmal anders gewendet, „was eine ‚Entität ohne Identität‗ mit dem Namen Irland sein kann― (111). Lobsien untersucht sodann 14 Romane von sieben Autorinnen und Autoren: Maria Edgeworth, Sydney Owenson (Lady Morgan), Michael und John Banim, Gerald Griffin, Samuel Lover, Charles Lever und William Carleton und lotet aus, welche Antworten die einzelnen literarischen Texte als Globalzeichen auf die zentrale Frage geben, um die sich der irische Roman von 1800-1850 dreht. Blättert man vor zur konzisen „Rekapitulation― der Ergebnisse am Ende des Buches, erkennt man schnell, worauf es der Lobsienschen Funktionsgeschichte vor allem ankommt: nämlich darauf, das Weltmodell, das jeder einzelne Roman als Antwort auf die Frage entwirft, in seiner spezifischen literarischen Gemachtheit ernst zu nehmen und zu zeigen, wie die Romane die Frage „Was kann ‚Irland„ nach Verlust seiner Identität noch sein? ― (260) überhaupt erst in die Welt bringen. Als Antworten wenden und perspektivieren sie diese Frage immer wieder neu und stecken so als Gruppe ein Antwort-Feld ab, das „die Reichweite der Frage immer neu verschiebt― (255). Lobsien interessiert sich dabei nicht dafür, textspezifische Erzählverfahren aufzudecken und zu funktionalisieren: „Natürlich gebrauchen unsere sieben Autorinnen und Autoren Verfahren, Techniken, Dispositionen, wie sie sich in hunderten englischer Romane der Zeit auch finden. Aber darauf kommt es funktionsgeschichtlich nicht an― (255). Vielmehr muss das je spezifische semantische und semiotische Problem- und Strukturensemble daraufhin abgeklopft werden, welches Irland-Phänomen mit all seinen epis-temologischen und ontologischen Implikationen der jeweilige Text entwirft. Dieses Erkenntnisinteresse gipfelt in der Zusammenfassung am Ende von Lobsiens Studie in einer Aufstellung der Ergebnisse, von deren Abstraktions-niveau wohl die allermeisten Leserinnen und Leser, die neugierig gleich ans Ende des Buches blättern, erschlagen werden. Edgeworths Castle Rackrent, so liest man, entwirft „eine Welt aus Rezensionen 172 kohärenter Inkohärenz―, ihr Roman Ormond dagegen eine „Welt konstanten Ebenmaßes―, Owenson‘s The Wild Irish Girl imaginiert „eine Welt überwältigender selbstevidenter Wahrheit― (256), ihr späterer Roman The O‟Briens and the O‟Flahertys liefert das Gegenteil: ein verwirrend multiperspektivisches und instabiles ‚Irland‗. Andere Romane operieren, mit je unterschiedlichem Effekt, gleichsam mit oder zwischen zwei Welten, Ordnungen oder Systemen. So etwa Banim‘s Crohoore of the Billhook, der zwischen einer „deiktisch korrekt verortet[en]― Irland-Welt und einem imaginierten Irland eine „unüberbrückbare Kluft erreichtet― (257); Lovers Rory O‟More „stellt die Ordnung der Dinge und die Ordnung der Wörter einander gegenüber― (258) und entwirft eine Welt, die „keine Synthesen― zulässt und durchweg auf - oft komische, mitunter aber auch tragische - „Fehlkommunikation angelegt ist― (258); Levers „Zweischichtenwelt― in The O‟Donoghue dahingegen entwirft ein Irland mit einem „stabilen Identitätskern―, zeigt aber auch, dass die stabilen Gewissheiten nicht immer lesbar sind, weil „die Zeichen und Anzeichen trügen― (259). Möglicherweise allzu abstrakt klingen diese Befunde, die vor allem von raumsemantischen, kommunikationsrelevanten und semiotischen Textverfahren und -strukturen auf die daraus resultierenden Weltmodelle rückschließen, aber letztlich wohl nur für ungeduldige Leserinnen und Leser, die gleich ans Ende des Buches blättern. Die einzelnen Analysekapitel im zweiten Hauptteil von Die Antworten und die Frage haben diese Ergebnisse in „mikroskopisch genauen Lektüren― (110) und ausgesprochen kohärenten Argumentationslinien vorbereitet. Lobsien nimmt in der Tat jeden einzelnen Roman als literarischen Text (d.h. als Globalzeichen) ernst und lotet minutiös aus, welchen imaginativen Entwurf jeder einzelne Roman den „unbewältigten Problemlagen― im Irland des frühen 19. Jahrhunderts entgegenstellt. Diese intensive Auseinandersetzung mit Werken von Autorinnen und Autoren, die im Bereich der internationalen Anglistik zum Teil mehr, zum Teil weniger bekannt sind, im Bereich der Irish Studies aber doch durchweg als einschlägig gelten, stellt zweifelsohne für die aktuelle Forschung zum irischen Roman von 1800-1850 eine enorme Bereicherung dar. Die luziden Textanalysen münden stets in überzeugend dargelegte Interpretationen, die man natürlich - sonst wäre das literaturwissenschaftliche Geschäft ja bald geschlossen und der wissenschaftliche (hermeneutische) Dialog allzu schnell beendet - im Einzelnen mal mehr, mal weniger überzeugend finden mag. So finde ich Lobsiens Interpretation der vieldiskutierten Erzählstruktur von Owensons The Wild Irish Girl beispielsweise überaus erhellend, zeigt sie doch, wie das für den Roman charakteristische Spiel mit und die Transformation von Erzähl- und Sprechsituationen - in Fußnoten und in der Textwelt sowie im epistolaren Hauptteil und im heterodiegetisch erzählten Ende des Romans - den Bildungsprozess des englischen Helden Horatio, der sich im Laufe der Geschichte das wahre Wissen über Irland aneignet, nicht nur nachzeichnet, sondern zudem auf der Textebene abbildet: „Schrittweise überwindet das ‚richtige‗ Wissen die Schwelle zwischen Kommentar und Briefen; es wandert auf den Seiten dieses Buches von unten nach oben― (141), bis schlussendlich ein Zustand erreicht wird, an dem die Textfiguren als Rezensionen 173 Vermittler und Kommunikatoren gänzlich überflüssig werden und sich Owensons ‚Irland‗ als „eine sich von sich selber her unwiderstehlich zeigende und durchsetzende Kraft des Wahren, Integral [sic] wahren Wissens, wahrer Quellen, wahrer Poesie― offenbart (144). Wenn eine Interpretation einmal etwas weniger überzeugend ausfällt, dann nicht etwa, weil die Ausführungen an sich irgendwo unschlüssig wären oder weil es zwischen Analyse und Interpretation zu unzulässigen Kurzschlüssen käme, sondern weil Lobsien etwas übersieht. So überzeugt mich zum Beispiel die Lektüre von Gerald Griffins The Collegians nicht vollends. Lobsiens These, der Roman arbeite vor allem mit Digressionen (184), Kontrasttechniken sowie „dem Indirektheitsbzw. Reflexprinzip― (180), ruht hier nämlich auf der Lektüre nur eines der beiden für den Roman konstitutiven Handlungsstränge, dem aufregenden Liebes- und Verbrechens- Plot des Byronischen Helden Hardress Cregan. Den berühmt-berüchtigt langweiligen, da handlungsarmen Plot um den zweiten ‚collegian‗, Kyrle Daly, der - so ließe sich zeigen - vor allem über die Ausgestaltung von narrativdeskriptiven Tableaux und eine komplexe Ausgestaltung des Chronotopos eine spezifisch irische Variante einer generationenübergreifenden modernen Bürgerlichkeit entwirft, blendet Lobsien schlicht aus. Geradezu virtuos fällt dahingegen die Interpretation von Carletons The Black Prophet aus. Im letzten, diesem Roman gewidmeten textanalytischen Kapitel werden zudem einige entscheidende Vorzüge deutlich, die den funktionsgeschichtlichen Zugriff Lobsiens auszeichnen. Anders als etwa Isers Theorie vom Imaginären ist Lobsiens Literaturverständnis erfreulich unelitär. Die Prämisse, „[g]ute wie minder gute Texte sind Texte―, müssen entsprechend ernst genommen und einer „mikroskopisch genaue[n] Lektüre― (110) unterzogen werden, bleibt kein Lippenbekenntnis. Im Gegenteil, mit Carletons melodramatischem Black Prophet bekommt in Lobsiens Funktionsgeschichte einer der vom ästhetischen Anspruch her sicher schwächsten Romane im Textkorpus eine herausragende Stellung, und zwar als diejenige literarische Antwort auf die Irlandfrage, die am deutlichsten „der Realität die imaginativen Deformationen des Realen― (253) aufzuzeigen vermag. Indem Carletons literarischer Versuch, das von Hungersnöten gebeutelte Irland historiographisch einzuordnen, eine „Welt ohne Hintergründigkeit― entwirft, in der Gut und Böse klar identifizierbar und überhaupt alle Zeichen stets transparent, bedeutungstragend und leicht entzifferbar sind, so Lobsien, verweist er schließlich mit besonderer Konsequenz auf das Phantastische und das Sprachlose in der nicht-fiktionalen Wirklichkeit. Und so zeigt sich am Ende noch einmal deutlich: Der Umstand, dass Lobsien auf einem starken Literaturbegriff beharrt und dabei aktuelle kulturwissenschaftliche Untersuchungen mitunter befremdlich pauschal als die „naive […] Sicht eines an Inhalten und Meinungen interessierten Publikums― (105) abtut, bedeutet nicht etwa, dass sich seine literaturwissenschaftliche Funktionsgeschichte nicht ihrerseits um eine präzise kulturhistorische Einordnung der literarischen Phänomene bemüht. Vielmehr geht es ihm immer auch darum, „den Einspruch, den die Literatur gegen ‚die Wirklichkeit‗ erhebt― (105), auszuloten. In diesem Zusammenhang ist es Rezensionen 174 besonders bedauerlich, dass die zwei bereits genannten anderen wegweisenden Studien zur irischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts, nämlich Claire Connollys Cultural History of the Irish Novel: 1790-1829 (2012) und Julia Wrights Representing the National Landscape in Irish Romanticism (2014) etwa zeitgleich mit Lobsiens Buch entstanden sind. Die Frage nach den methodischen Schwerpunktsetzungen und dem jeweiligen Literatur- und Kulturbegriff der Autorinnen und Autoren kann so in keinem der drei Bücher dialogisch entfaltet werden. Grundsätzlich stellt sich abschließend die Frage nach der Anschlussfähigkeit von Lobsiens Studie. 3 So ist insbesondere zu diskutieren, ob, wie und wo die funktionsgeschichtlich-hermeneutische Tautologie, die die Lobsiensche Argumentation prägt, auf einen literaturwissenschaftlichen Dialog hin geöffnet werden kann. Mir scheint, Lobsien bietet letztlich eine besonders anschlussfähige und produktive Variante des funktionsgeschichtlichen Ansatzes. Dies liegt - paradoxerweise? - an der Verankerung der hermeneutischen Frage- und Antwort-Dynamik im Bewusstsein des einzelnen Lesers bzw. der einzelnen Leserin. Die Leserinnen und Leser werden hier nämlich - auch wenn das bei Collingwood und Lobsien mitunter fast so klingen mag - nie als sich selbst-gegenwärtige und selbstgenügsame Entitäten gedacht. Vielmehr projiziert Lobsien - ähnlich wie Ricœur - eine feine, methodisch plausible Kombination von strukturalistischen und dekonstruktivistischen Denkbewegungen in das fragende, die Welt konstruierende Bewusstsein seiner idealen Leserfigur. Diese macht sich zwar für den Moment der eigenen Analyse und Interpretation auf die oben dargestellte hermetisch-tautologische Reise, die sie das vom Autor geschaffene Weltmodell ‚nach-denken‗ lässt. Sie bleibt aber grundsätzlich stets auch offen für die Fragen, die andere Leserinnen und Leser an denselben Text stellen. Die gemeinsame Bestellung und an sich unabschließbare Erarbeitung von Frage- und Antwortfeldern von unterschiedlichen subjektbezogenen Horizonten aus kann somit letztlich als ein Desiderat betrachtet werden, das die funktionsgeschichtlich orientierte, literatur-wissenschaftliche Arbeit stets begleitet. Die zentralen Prämissen - insbesondere die Vorstellung vom literarischen Text als widerständigem, irreduziblem Globalzeichen sowie von der produktiv tautologischen Frage-Antwort-Dynamik - muss man freilich zunächst erst einmal teilen. Von hier aus scheint aber ein produktiver und wissenschaftsförderlicher Dialog darüber, wie das Weltmodell, das der einzelne Text etabliert, genau zu fassen sei, nicht nur möglich, sondern unabdingbar. Kulturwissenschaftlich interessierte Leserinnen und Leser 3 Die mittlerweile übliche Floskel, wie bedauerlich es doch sei, dass das Buch nicht in englischer Sprache verfasst ist, weil so die internationale Wahrnehmung deutlich eingeschränkt ist, möchte ich mir verkneifen. An diesem Einwand ist natürlich immer etwas dran. Lobsiens Buch ist aber nicht zuletzt auch ein Paradebeispiel dafür, wie wohltuend und intellektuell stimulierend es sein kann, wenn sich ein Kollege einmal nicht dem allgemein üblichen angelsächsischen Wissenschafts-Jargon ergibt und stattdessen in der Muttersprache umsichtig und besonders wortgewandt Probleme vorsichtig abwägt und Konzepte und Begriffe in ihren Feinheiten sprachlich und gedanklich ausdifferenziert. Rezensionen 175 könnten Lobsiens Collingwood-Lektüre zudem dazu nutzen, die literaturwissenschaftliche ebenso wie die trans- und interdisziplinäre Text-Kontext- Debatte differenziert weiterzuführen, liefert sie doch zahlreiche spannende Anregungen zur Beantwortung der Frage, wie diskursanalytisch orientierte Studien textsortenbzw. wissenschafts-spezifische Unterschiede in Bezug etwa auf Relevanzsetzungen, semiotische Verfahren und performative Praktiken intensiver mitberücksichtigen können, als dies bisher oft der Fall ist. Ich jedenfalls wünsche Lobsiens Die Antworten und die Frage viele Leserinnen und Leser, die sich auf die letztlich immer nur scheinbar hermetische Argumentation einlassen und sich dem Prinzip des hier propagierten produktiv-tautologischen Denkens öffnen. Literatur Collingwood, Robin George (1964). ―The Nature and Aims of a Philosophy of History.‖ In: William Debbins (Ed.). Essays in the Philosophy of History. Austin: Univ. of Texas Press. 34-56. Collingwood, Robin George (1946). ―Human Nature and History.‖ The Idea of History. Oxford: Clarendon. 205-231. Katharina Rennhak Anglistik/ Amerikanistik Bergische Universität Wuppertal Jan Alber, Unnatural Narrative: Impossible Worlds in Fiction and Drama. Lincoln, NE/ London: University of Nebraska Press, 2016. Felicitas Meifert-Menhard Jan Alber‘s Unnatural Narrative: Impossible Worlds in Fiction and Drama constitutes a groundbreaking study of antimimetic, anti-illusionist, and antirealist strategies in literature. Rooted in the analysis of postmodern texts, but consistently and convincingly harking back to earlier periods of literature, Alber‘s book provides a comprehensive and wide-spanning survey of the startlingly pervasive presence of ‗unnatural‘ phenomena in fiction. These phenomena, he argues, not only hold ―unexpected story potential‖ (7), but also challenge our very perception of reality, both as it is represented in fiction and beyond. Far transcending a mere inventory of unnatural strategies throughout the history of fiction, Alber‘s diachronic perspective on impossible fictional occurrences, under which he compares postmodernist impossibilities to those found across earlier historical periods, not only provides a comprehensive survey of the unnatural across literary history, but constitutes a re-definition of the postmodern agenda itself. Such a re-definition is Alber‘s ultimate goal AAA Band 4 2 (201 7 ) Heft 1