eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 41/2

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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Dieser Artikel blickt zunächst auf ein breites Korpus von Filmen, die Vater-Tochter Beziehungen inszenieren. Er spürt den häufig vorhandenen patriarchalen Missbrauchsstrukturen nach und wirft Fragen nach der Marginalisierung/Absenz der Mutter und einem damit verbundenen Dilemma der Triangulation auf. Schließlich wendet sich der Blick von ausbeuterischen und missbräuchlichen Bildern auf ein junges Kino, welches Töchtern neue Beziehungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet.
2016
412 Kettemann

Daddy’s Girls

2016
Klaus Riesner
Daddy’s Girls Vater-Tochter Beziehungen im Film Klaus Rieser Dieser Artikel blickt zunächst auf ein breites Korpus von Filmen, die Vater- Tochter Beziehungen inszenieren. Er spürt den häufig vorhandenen patriarchalen Missbrauchsstrukturen nach und wirft Fragen nach der Marginalisierung/ Absenz der Mutter und einem damit verbundenen Dilemma der Triangulation auf. Schließlich wendet sich der Blick von ausbeuterischen und missbräuchlichen Bildern auf ein junges Kino, welches Töchtern neue Beziehungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Auf den ersten Blick wirkt es, als würde das Kino Familiendarstellungen nach Lust und Laune verdrehen und verzerren. Tatsächlich werden im Vater-Tochter Kino ganz spezifische - manifeste oder auch latente - Inhalte verhandelt, die sich komödienhaft oder tragisch um Gefürchtetes, Begehrtes, Gehasstes und Geliebtes drehen. Rein quantitativ gesehen erfahren die Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen signifikant mehr Aufmerksamkeit als jene zwischen Vätern und Töchtern (Bruzzi 2006: xv). Erstere konstituieren zudem via das Moment der Ödipalität ein autonomes Motiv, während letztere unter andere Genres subsumiert werden. 1 Auch in die feministische Filmtheorie mit ihrem sorgfältigen Fokus auf die (Re)konstruktion von Patriarchalität im Film fand diese Beziehung (anders als zwischen Mutter und Tochter) bislang wenig Eingang. Feministische Filmwissenschaft hat sich von Anbeginn auf die Analyse von Vaterschaft konzentriert, schließlich stellt sie die Rolle des Kinos für die Kontinuität patriarchaler Episteme ins Zentrum ihrer Forschung. Dabei fokussiert sie allerdings mehr auf die symbolische Vaterschaft - die patriarchale Macht- und Gewaltkonstellation - als auf den realen Vater als 1 So etwa unter Thriller (z.B. Hustle, 1975), Komödien (z.B. Father of the Bride, 1950, 1991; Parenthood, 1989) oder Drama (To Kill a Mockingbird, 1961; Beasts of the Southern Wild, 2012), etc. AAA - Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik Band 41 (2016) · Heft Gunter Narr Verlag Tübingen 2 Klaus Rieser 4 komplexe und konflikthafte Figur. Weitgehend unbeachtet blieben damit bisher auch Vater-Tochter-Konstellationen. Dabei würden sich diese hervorragend für die Analyse weiblicher Subjektwerdung im Spannungsfeld patriarchaler Strukturen anbieten. So wird etwa die Zentralität von Vaterschaft zumeist über eine Marginalisierung der Mutter erkauft und bemerkenswert oft in positive Repräsentationen quasi-/ inzestuöser Beziehungen verpackt, die wiederum einer Quasi-Legitimation von patriarchalen Missbrauchspositionen gleichkommen. Dazu stellt Linda Nielsen (2012) fest: In [an] analysis of movies and Broadway plays from the 1930s through the 1960s, the father-daughter relationship is often problematic, tense, or dysfunctional. Their problems range from the father‟s refusal to let his daughter grow up to his being sexually attracted to her. He is often overbearing, suspicious, critical, demanding, distant, narcissistic, or exploitative (Nash 2005). Dysfunctional, distant, awkward relationships between fathers and daughters continue to be a common theme in contemporary films (Stetz 2007). Teil 1 dieses Artikels identifiziert die in Vater-Tochter-Filmen vorherrschenden Topoi als jene Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die soziale Konstruktion von Vaterschaft einerseits und die töchterliche Sozialisation andererseits gestaltet. Teil 2 enthüllt, beispielhaft am Film The Descendants (2011), ein genretypisches Phänomen der Repräsentation von Vater-Tochter Beziehungen: die Marginalisierung der Mutter und die damit einhergehende Problematik der Triangulation. Teil 3 schließlich widmet sich anderen rezenten Filmbeispielen wie Winter‟s Bone (2010), in denen Töchtern gegenüber Vätern neue Handlungsmöglichkeiten zugestanden werden. 1. Topoi Klassische Machtstrukturen: Vulnerabilität und Protektion Töchterpositionen als Metapher für Verletzlichkeit und Vaterpositionen als Metapher für das Protektorat inszenieren klassische Muster. Drehbücher mit entführten/ vergewaltigten Töchtern und rettenden/ rächenden Vätern werden heute meist ins Action-Kino und diverse B-Genres (Horror, Western, Rape-Revenge Filme) verwiesen 2 . Die Opfersituation der Tochter (passiv) ‚aktiviert„ den Vater und ermöglicht seine Inszenierung als Heros. Die familiäre Situation spiegelt zugleich die nationale Ebene, in welcher 2 Vgl. Hustle (1975), Law Abiding Citizen (2009), Edge of Darkness (2010), Taken (2008), The Last House on the Left (2009), The Horseman (2008). In Mainstreamfilmen wie Steven Spielbergs War of the Worlds (2005), John Badhams Nick of Time (1995), oder Len Wisemans Live Free or Die Hard (2007) wird der rächende Vater üblicherweise in einen rettenden Vater transformiert. Daddy’s Girls 5 das Mädchen in seiner Gebärfähigkeit die zu schützende Heimat symbolisiert (sie soll keine „fremden“ Bürger gebären) und der Vater den - maskulinen - Protektor gibt: I would suggest that, just as in all pre-feminist eras (and, it now appears, in a so-called “post-feminist” era), femininity remains a trope in general for vulnerability. The young girl is still the collective emblem for that which is in need of guarding. She remains, in effect, the embodiment of the problem - to employ a politically loaded phrase - of homeland security. (Stetz 2007: 367) Romantisierung und Ästhetisierung von Inzest/ Missbrauch Vater-Tochter-Paare können auch in anderer Hinsicht unter einem patriarchalen Paradigma, nämlich dem Inzest bzw. Missbrauch, vereint werden. Dabei wird die Problematik, entsprechend dem Inzesttabu, häufig auf eine Konstellation „väterlicher Senior - sehr junge Frau“ verschoben, exemplarisch in Daddy Long Legs (1955), wo ein reicher Playboy (Fred Astaire) ein sehr junges Mädchen aus dem Waisenheim holt, um sich dann in sie zu verlieben. Auch Lolita (1962, 1997), American Beauty (1999), Starting Out In The Evening (2007) oder The Wrestler (2008) rekurrieren auf ähnliche Muster. Den Negativrekord hält Woody Allen; Kristin Iversen (2014) hat die Altersunterschiede von Liebespaaren in 16 seiner Filme mit 20 bis über 40 Jahren (! ) berechnet: „That‟s not the age difference of very many romantic couples, rather that‟s the age difference of a father and daughter. Or, maybe, a man and his girlfriend‟s daughter.” Freilich verharmlosen oder ästhetisieren nicht alle Filme die Problematik, einige, wie A Thousand Acres (1997) oder The War Zone (1999), werfen ein sehr schmerzliches Licht auf die katastrophalen Folgen für das Leben von missbrauchten Töchtern. Inzest und Patriarchat sind nicht nur auf der Leinwand eng verknüpft: Feministische Forschungen aus historischer (Gordon 1988), psychologischer (Herman & Hirschman 1981) oder textwissenschaftlicher Perspektive (Giffen 2003) belegen, dass väterlicher Missbrauch nicht eine Perversion innerhalb, sondern vielmehr ein Effekt normativer patriarchaler Familienkonstellationen ist. 3 Das auf die Töchter projizierte inzestuöse Begehren gegenüber dem Vater „hilft“ diesen in eine „richtige“ (subordinierte) Weiblichkeit hineinzufinden. Dem entsprechend liest Kathleen Rowe Karlyn etwa American Beauty (1999) als „incest scenario that guides the daughter to learn the skills of femininity.” (2004: 84) In The Ballad of Jack and Rose (2005) wird Inzestuosität schließlich offen (aber verharmlosend) inszeniert: Während die Eröffnungssequenz die Vater-Tochter Intimität visuell etabliert, zirkelt die Narration anschließend um wechselseitige Lösungsversuche. Schließlich kippt die wiedererlangte Nähe mit 3 Vgl. auch Modleski 1988. Klaus Rieser 6 erotischen Küssen ins Inzestuöse. Der Vater wird dabei exkulpiert: Es ist die Tochter, die den Kuss begonnen hat, während er sich - nach einiger Zeit - schockiert abwendet. The Wrestler (2008) lässt eine Vater-Tochter- Aussöhnung in einer romantischen Tanzszene kulminieren, in der das „Paar“ in einen abgesperrten Ballsaal einbricht, also verbotenes Territorium betritt. Die vorausgegangene väterliche Kindesvernachlässigung wird hier ausgerechnet durch ein romantisch-erotisches Mann-Frau- Schema überwunden. Kathleen Rowe Karlyn stellt, ausgehend von American Beauty, väterliche Gefühle gegenüber der Tochter generell als durch inzestuöses Begehren motiviert dar: „When [the father's] desire stops short of overstepping conventional boundaries it can manifest itself as an intense ‚protectiveness„ or an emotional involvement with the daughter …“ (2004: 70) Soweit möchte ich nicht gehen, denn dann wäre jede Vater-Tochter-Emotion a priori proto-inzestuös und damit positive Bevaterung unmöglich. Einzuräumen ist jedoch, dass das Repertoire filmischer Vater-Tochter-Nähe zumeist nicht von Eltern-Kind-Beziehungen, sondern von Romantik und solcherart von inzestuöser Latenz geprägt ist. Entfremdung Ein drittes, schmerzliches Beziehungsthema stellen Entfremdungen aller Nuancierungen dar. Filme wie On Golden Pond (1981), Regarding Henry (1991), Magnolia (1999), About Schmidt (2002), Million Dollar Baby (2004), The Wrestler (2008), The Kids Are All Right (2010) widmen sich typischerweise der väterlichen Reue oder dem Altersleid und werben beim Publikum um Verständnis für den Vater und seine oft lebenslangen Verfehlungen. Gutes Bevatern Gute Väter ergeben sich am einfachsten durch den Kontrast mit schlechten Vätern - To Kill a Mockingbird (1962), American Beauty (1999) - oder schlechten Müttern - American Beauty (1999), Daddy‟s Little Girls (2007). Dazu gesellen sich Väter, die „endlich“ ihre Rolle annehmen möchten: Raining Stones (1993), The Snapper (1993), Fly Away Home (1996), Million Dollar Baby (2004), The Game Plan (2007). Auffallend häufig wird die Frage des positiven Bevaterns über Ersatzväter abgehandelt, mit durchaus heterogenen politischen wie textuellen Ergebnissen: Paper Moon (1973), Alice in the Cities (1974), Three Men and a Baby (1987), Million Dollar Baby (2004). Million Dollar Baby (2004) ist ein düsteres Beispiel für Grenzen, die ein Ersatz-Vater im Unterschied zu einem biologischer Vater überschreiten darf. Hier drängt sich die junge Maggie einem alternden Boxtrainer (Clint Eastwood) auf. Von ihrer Zielstrebigkeit eingenommen, trainiert er sie Daddy’s Girls 7 zuerst unwillig und begleitet sie schließlich wider besseres Wissen in einen fatalen Kampf. Auf ihren Wunsch hin tötet er zuletzt die Querschnittgelähmte, wobei seine Lage - nämlich das moralische Dilemma - als das tragisch-heroische Drama inszeniert wird. In „Million Dollar Baby: A Split Decision“ nennt Tania Modleski diesen Film, welcher das Leid des Vaters über jenes der geopferten Wahltochter situiert, ein „male weepie“ (Sklar & Modleski 2005: 10): Frankie„s Verantwortung verschwindet hinter der melodramatischen Verbrämung, während Maggies Mutter nur durch Geldgier charakterisiert wird. 4 In Beispielen wie Paper Moon (1973) und Alice in the Cities (1974) dient der Ersatzvater hingegen als positives Rollenmodell für eine vorsichtige, empathische Vaterschaft, wie sie für biologische Filmväter schwer zu erreichen scheint: Vaterschaft wird als Aufgabe angenommen, zunächst widerstrebend, dann vorsichtig und schließlich von ganzem Herzen. Die sich entwickelnden Beziehungen sind wechselseitig und emotional, jedoch frei von Frivolitäten. Die (Neo-)Väter entdecken ihr Verantwortungsgefühl und beginnen schließlich nicht nur das Kind, sondern auch ihre Rolle zu schätzen. Generell weisen Filme, welche die Vaterschaft ins Zentrum rücken, eine an sich nur implizite, erst in der Analyse zu explizierende, Vorstellung von guter Vaterschaft auf. Diese besteht aus einem Konglomerat disparater, auch kontradiktorischer Qualitäten. Der ideale Vater, meist unerreicht von den dargestellten realen Vätern, wäre einerseits erwachsen und verantwortungsbewusst, andererseits offen und verspielt; emotional, aber in voller Kontrolle seiner (sexuellen) Bedürfnisse; liebevoll, aber nicht inzestuös; souverän und autonom, aber doch beziehungsfähig - und solcherart im Imaginären und im Symbolischen gleichermaßen zu Hause. Der filmisch dargestellte, „reale“ Vater tritt jedenfalls üblicherweise nicht als Vertreter des machtvollen Patriarchats (des Phallus in der Lacanschen Terminologie) auf, sondern ist recht machtlos, ja „kastriert“: ein erfolgloser Aussteiger, ein abgetakelter Ringer, oder ein Niemand mit Midlife- Crisis. Damit werden diese Filmväter Embleme einer Paradoxie auch in der Realität: die Vaterschaft als imaginärer Zugang zu patriarchaler Macht wird dadurch unterlaufen, dass konkrete Vaterschaft „entmännlicht“. So unterstreicht Stella Bruzzi in einem Interview: „Something of a renunciation of masculinity happens when one becomes a father. […] There is a sense in which the father becomes emasculated, despite, and this is the huge irony of it all, becoming a symbol for what men supposedly aspire to be” (Zee-Jotti 2006: 16). Wenn also reale Vaterschaft aus Verantwortlichkeit, Emotionalität und Unterordnung unter das Gesetz des VATERS besteht, dann ist Vaterschaft zumindest in Teilen gleichbedeu- 4 Das Drehbuch weicht hier vielsagend von der realen Vorlage ab, denn Katie Dallam hat den Kampf mit bleibenden Verletzungen überlebt und wird seitdem von ihrer Familie gepflegt. Klaus Rieser 8 tend mit Kastration. Das Gros der Filme überdeckt diesen Widerspruch durch imaginäre Bestätigung des Patriarchalen; anspruchsvolle Filme hingegen tendieren dazu, Väter mit diesen Idealen zu konfrontieren. Individuation / Loslösung Von Interesse in der Vater-Tochter-Beziehung ist aber nicht nur das Hineinwachsen der Männer in die Vaterrolle, sondern auch das Herauswachsen von Mädchen aus der Tochterrolle. Welche Angebote zur Individuation und Subjektwerdung finden Mädchen? Seichte Komödien im Stil von Father of the Bride (1950, 1991), Meet the Parents (2000), Meet the Fockers (2004), Nicht ohne Meinen Schwiegervater (2005), oder The In-Laws (2003) beschwören einerseits männliche Konkurrenz und väterlichen Verlust und verharmlosen andererseits inzestuöse Begehrensstrukturen - wie sie im emotionalen Tohuwabohu rund um Hochzeiten aufblitzen - entsprechen dem von Claude Levi-Strauss formulierten Modell: The total relationship of exchange which constitutes marriage is not established between a man and a woman, but between two groups of men, and the woman figures only as one of the objects in the exchange, not as one of the partners ... this remains true even when the girl‟s feelings are taken into consideration, as, moreover, is usually the case. (1969: 115) Allison Giffen weist in ihrer Analyse von gehorsamen Töchtern in der Literatur des 19. Jahrhunderts darauf hin, dass die Notwendigkeit der Lösung der Töchter von ihren Vätern durch die patriarchale Familienstruktur mit ihren inhärenten Missbrauchsstrukturen verschärft wird. Sie rekurriert auf Linda Boose, [who] observes that in many of Western culture‟s central narratives, … while the central conflict between fathers and sons is displacement and usurpation, between fathers and daughters is separation and retention: bad daughters fleeing their fathers or bad fathers retaining their daughters (32-3). Unlike sons, whose destiny within the family is to assume their father‟s name and inherit his property, daughters function as property, to be (first possessed and later) given away by fathers. (Giffen 2003: 258). Es überrascht also nicht, wenn Tochter-Vater Loslösungen oft tragische Dimensionen annehmen. Denn die Lösung ist mit der Maturität der Tochter, also ihrer Identität als sexuelle Frau, verflochten und impliziert die potenziell inzestuöse Konstellation. Seriöse Darstellungen wie Yasujirō Ozu‟s Late Spring (1949) oder Claire Denis‟ 35 Shots of Rum (2008) repräsentieren demgegenüber ein weites Spektrum von weiblicher Individuati- Daddy’s Girls 9 on über Trennungsmelancholie bis hin zur biographischen Entwicklung. 5 Beide Filme beschwören die Väter, ihre Töchter loszulassen, beide gestehen diesen Emanzipation und Individuation zu. Beide konzedieren aber auch die emotionalen Kosten einer Gesellschaft, in welcher eine negativödipale Entwicklung für Töchter vorgezeichnet und in der ihre radikale Loslösung von beiden Eltern verlangt wird. „Drei-Mäderl-Haus“ Einen Sonderfall stellt die Konstellation eines alleinerziehenden Vaters mit gleich mehreren (häufig drei) Töchtern dar. Am nachvollziehbarsten ist dies wohl in A Thousand Acres (1997), da dieser Film, aus der Perspektive der ältesten, jahrelang missbrauchten Tochter erzählt, deutlich auf King Lear rekurriert. 6 In anderen Fällen stellt die Mehrtochterfamilie hingegen eine Abweichung von der klassisch-ödipalen Narration - diese Töchter haben keine Brüder - dar. Überdies wird durch die Mehrzahl von Töchtern, die - laut Konvention - in besonderem Maße einer Mutter bedürfen, den Filmvätern besonders umfassend elterliche Verantwortung zugewiesen. Dieser löst das Problem der Mutterabsenz entweder durch Wiederverheiratung (The Sound of Music, 1965) oder „Integration“ der Mütterlichkeit - so in Eat Drink Man Woman (1994) oder Daddy‟s Little Girls (2007). Die Anwesenheit von mehreren Töchtern erlaubt zudem ein Rollensplitting: Tochtersein wird hier aufgeteilt in Kindlichkeit einerseits und - inzestuöse - Übernahme der Funktion der „kleinen Frau“ andererseits, wie es in verstörender Weise in The Descendants (2011) geschieht. 2. Triangulation und die abwesende Mutter Während die oben genannten Topoi die Heterogenität von Beziehungsstrukturen in Vater-Tochter Filmen kategorisieren, lässt sich ein durchgängiges Phänomen identifizieren: die Marginalisierung der Mutter (zugleich Frau) und die dadurch bedingte gesellschaftliche Konstruktion von Tochterschaft. Bis dato gibt es keine umfassende Antwort darauf, warum filmische Vater-Tochter Repräsentationen typischerweise ohne Mutter auskommen - wohl aber werden in der Filmtheorie verschiedene Motive und Effekte der Ehefrau/ Mutter-Absenz aufgezeigt. 5 Mit Late Spring (1949) und 35 Shot of Rum (2008) setzte ich mich im Detail in einer anderen Publikation auseinander. 6 Vlg. Leslie (1998) oder Lynch (2002). Klaus Rieser 10 Märchen und Demographie als Basis Viele Filmnarrative basieren auf traditionellen Erzählungen, in denen Mutterlosigkeit demographisch begründet war: Aufgrund der hohen Müttersterblichkeit wurde die elterliche Kontinuität oft nur von Vätern gewahrt. Das Leiden der Kinder an Mutterlosigkeit ist daher weltweit zu einem zentralen Motiv von Märchenerzählungen geworden. In Disney- und anderen Animationsfilmen, in denen Mütter oft gleich in den ersten Minuten getötet oder eingesperrt werden, 7 wird dieses Motiv jedoch mehr als überstrapaziert. Textuelle Reaktion auf real abwesende Väter Alleinerziehende Filmväter können auch als Reaktion auf die sinkende Präsenz realer Väter gewertet werden. Neben der „normalen“ Absenz von Vätern im Alltag vieler Kinder hat sich der Prozentsatz jener Kinder, die getrennt von ihren biologischen Vätern aufwachsen von 1970 bis 1990 verdoppelt und ist bis 2009 auf 24 Prozent gestiegen (Kreider & Ellis 2011). Nicht wenige Filme schlagen Kapital aus einer Sehnsucht nach Vätern, indem sie diese als besonderen, oft „besseren“ Elternteil rezentrieren (von Kramer vs. Kramer, 1979 bis Daddy‟s Little Girls, 2007). Die Mutter als Spaßbremse Mütterliche Behütung wird als lästig und überflüssig entlarvt (Disney! ), wenn kleine Filmhelden und -heldinnen auch ganz alleine atemberaubende, actionreiche Risiken mit garantiertem Happy End erleben können. Zentrierung der Tochter-Vater Beziehung Was auch immer die Gründe für die Mutterabsenz sein mögen, ihre (ideologischen) Effekte sind beunruhigend. Für eine Deutung bietet sich das psychoanalytische Konzept der Triangulation an. Aus Freudscher Sicht wird der ödipale Prozess - der Übergang von Kind zu erwachsener Person, von Familie zu Gesellschaft - durch die „Intervention eines dritten Terminus“ (Stam 2005: 133) ausgelöst, welche letztlich zu einem „subjektiven Gefühl der Kontrolle über Aggression und Sexualität“ (Holtzmann & Kulish 2003: 1146-7) führen sollte. In der (Freudschen) patriarchalen 7 Im Internet findet sich reiches Datenmaterial zu Matriphobie in Disney- Produktionen. Selina Kyle etwa listet folgende mutterlose ProtagonistInnen auf: Pinocchio, The Great Mouse Detective, Beauty and the Beast, Aladdin, Pocahontas, Chicken Little, The Hunchback of Notre Dame, The Little Mermaid, Bambi, The Fox and the Hound Tod, Dumbo, Jungle Book, Finding Nemo… Ähnlich einige “Nicht-Disney”- Filme: Lilo & Stich, Brother Bear, Ice Age, How to Train Your Dragon, A Little Princess, Casper, The Neverending Story… Daddy’s Girls 11 Konstellation bilden Mutter und Kind eine Dyade, welche durch den Vater als dritten Terminus idealerweise „gestört“ oder gar aufgelöst wird. So postuliert Lebeau, Kristeva folgend, dass [T]he loving father becomes the break on the fusion between the mother-child dyad … saving the child from abjection in the sense of an auto-erotic submersion that blocks any recognition of a difference between self and other, thus cutting the child off from love and from the social. (Lebeau 1992: 245) Der Vater als dritter Terminus führt damit jene Differenz ein, welche das Kind aus der primären Verbindung heraus in das Soziale katapultiert. Was aber, wenn ein kultureller Text die primäre Verbindung der Tochter nicht zur Mutter, sondern zum Vater setzt? In diesem Fall müsste eine andere Person den dritten Terminus stellen, etwa die Mutter. Eine solche Umkehrung wird durch die herrschenden Verhältnisse negiert: Schwangerschaft, Gebärakt und Stillzeit positionieren Mütter nach wie vor als primäre Hauptbezugspersonen. Die daraus resultierenden kulturellen Kodes kreieren beim Publikum die fixe Erwartungshaltung, bei Anwesenheit beider Eltern in einem Text die Dyade zwischen Mutter und Kind, die Transformation hingegen durch den Vater anzunehmen. Somit scheint eine intensive Vater-Tochter Beziehung, zumindest im Film, am ehesten über den Ausschluss der Mutter/ Frau zu funktionieren. Filme, welche die Vater-Tochter Beziehung ins Zentrum stellen, blenden im Regelfall Mütter komplett aus oder peripherisieren sie zumindest. Ist diese abwesend, gerät der Vater in dyadische Beziehung zur Tochter und kann seine Funktion als dritter Terminus nicht oder nur erschwert einnehmen. Dies ermöglicht es den Filmen, die Tochter in ein ‚ödipales„ Verhältnis zum Vater zu setzen. Silencing (Othering) the Mother Typischerweise erhalten Mütter aufgrund der angesprochenen Marginalisierung keine Stimme - ein Phänomen, das E. Ann Kaplan (1993) als „silencing of the mother“ bezeichnet hat. Kathleen Rowe Karlyn geht so weit zu behaupten, dass die fehlende Mutter per Definition eine schuldige Mutter sei (2004: 85). Diese implizite Schuld wird in The Descendants (2011) zum unterschwelligen Leitmotiv. Der Film zirkuliert um die Figur des schwerreichen Anwalts Matt King, Nachkomme eines hawaiianischen Familienklans. Der ‚arme„ Matt hat es dennoch nicht einfach: Er verhandelt über den Verkauf von riesigen Ländereien, als seine Frau Elizabeth verunglückt und er sich erstmals um seine verwöhnten Töchter kümmern muss. Die Erzählung nimmt aber erst Schwung auf, als Matt herausfindet, dass Elizabeth ihn für ihren Liebhaber verlassen wollte: Mit seinen Töchtern im Schlepptau will Matt nun diesen aufspüren. Klaus Rieser 12 Der Text bringt die Mutter nicht nur zum Schweigen (unfallbedingtes Koma), er lässt uns wissen, dass sie es, durch ihre Untreue und Leichtsinnigkeit, nicht besser verdient. Ihre Hilflosigkeit - entsprechend Elizabeths Patientenverfügung sind die lebenserhaltenden Maschinen in Kürze abzuschalten - wird überdies für einen running gag benützt: Im Krankenhaus wird die Sterbende beleidigt und verhöhnt. Den Anfang macht Ehemann Matt, besetzt mit einem der größten Sympathieträger des zeitgenössischen Kinos - George Clooney: Matt: You were going to ask me for a divorce? So you could be with some fucking fuckhead Brian Speer? Are you kidding me? Who are you? Because the only thing I know for sure is that you're a goddamned liar. So what do you have to say for yourself? Go ahead, make a little joke and tell me I've got it all wrong. Tell me again I'm too out of touch with my feelings and need to go to therapy. (Pause) Isn't the idea of marriage to make your partner's way in life a little easier? For me it was always harder with you. And you're still making it harder. Lying there on a ventilator and still fucking up my life. You're relentless. You know what? I was going to ask you for a divorce some day. (grabbing a DOLL, tossing it) Daddy's little girl. (Payne, Faxon & Rash 2011: 54) Etwas später spricht die ältere Tochter Alexandra, vom Vater bedrängt, „etwas Nettes“ zu sagen: „Hi, Mom. Sorry for being bad. For wasting your money on expensive private schools. Money you could have used on facials and massages and sports equipment.” Und nach einem Blick zu ihrem Vater: „Sorry we weren't good enough for you - especially Dad” (Payne/ Faxon/ Rash 2011: 55). Zuletzt tritt auch die Frau von Elizabeths Liebhaber ans Krankenbett: „Elizabeth, I'm Julie. Brian's wife. I just want to say I forgive you. I forgive you for trying to take Brian. I forgive you for almost destroying my family …” (Payne/ Faxon/ Rash 2011: 110). Wer denkt, dass solch aggressives mother bashing nur exotische Perversionen bedient, sei daran erinnert, dass der Oscar-gekrönte Film ein enormer Bild 1: The Descendants (2011) Die zum Schweigen verdammte Frau/ Mutter Daddy’s Girls 13 Publikumserfolg war. Das renommierte Lexikon des internationalen Films jubilierte gar, der Film sei „[e]in bewegender … Film über die Neuentdeckung von Familienwerten, der eindrucksvoll die komplexe Seelenlage des Vaters beschreibt … [und dabei] stets den richtigen Ton [findet]“ (Descendants, The). Im Zentrum des Films steht konsequent der betrogene Ehemann. Was dem Film tatsächlich gelingt, ist, dessen egozentrische und skrupellose Manöver zu verschleiern. An der Oberfläche ist er ein etwas gedankenverlorener und unvollkommener, im Herzen jedoch sympathischer Charakter. Dass er sich nie um seine Kinder gekümmert hat, wird damit ‚geadelt„, dass er seinen Lebensunterhalt - trotz Erbe - selbst bestreiten wollte, wobei sich der Film nicht um Glaubwürdigkeit bemüht, denn Matt wird kaum je beim Arbeiten gezeigt. Sein Reichtum kommt hingegen, neben der patriarchalen Erbfolge, als Kolonialismus in Disneyverpackung daher: „Matt: My missionary ancestors came to the islands and … made business deals along the way - buying an island, or marrying a princess and inheriting her land” (Payne/ Faxon/ Rash 2011: 1). Diese ethnischen Wurzeln begründen bei ihm jedoch keinerlei Verbindlichkeit gegenüber dem Land oder der Urbevölkerung. Bei aller Widersprüchlichkeit der Figur wird Matt uns doch als primäre emotionale Identifikationsfigur angeboten. Mit einer Mischung aus neu erwachsenem Verantwortungsgefühl (für seine Kinder, die nächsten „descendants“), Emotionalität (Ausbrüche, Eifersucht) und Unternehmungsgeist wird er uns als „everyman“ nähergebracht. In eklatantem Widerspruch zu Matt‟s Zeichnung als superreichem Erbe, gespielt vom begehrtesten Leinwandstar unserer Zeit, charakterisiert Drehbuchautor und Regisseur Alexander Payne seine Protagonisten folgendermaßen: „They‟re just people. They‟re like me or like you or like people I know.” (Foundas 2011: 27) 8 Der größte Widerspruch allerdings besteht wohl zwischen von Kritikern gepriesenen „Familienwerten“ und dem mother bashing. Wie Livingstone & Liebes (1995) in ihren soap opera-Analysen gezeigt haben, dient dieses meist der Desidentifikation mit der Mutterrolle: Demnach sind „böse“ Mütter - solche, die ihre Töchter vernachlässigen oder im Stich lassen - in Soaps sehr populär. Livingstone & Liebes postulieren, dass Soaps die Mutter als das ‚andere„ positionieren und damit eine (patriarchale) Tochterposition für das Publikum anlegen (1995: 155-6). Auch The Descendants (2011) bietet neben der Identifikation mit dem ‚leidgeplagten„ everyman (Clanchef/ Großgrundbesitzer) sekundär eine solche patriarchal-töchterliche Muttermord-Identifikation an. Während wir uns über Elizabeth‟s Herabwürdigung amüsieren (sollen), entwickelt sich die Tochter exemplarisch zur Ersatzpartnerin des 8 Scott Foundas selbst geht noch weiter: „All of them, up to and including Matt King in The Descendants, are people who have become waylaid on life‟s highway, stopped somewhere short of their own expectations ….” Klaus Rieser 14 Vaters. Alexandra komplettiert die rigorose Ablehnung der Mutter mit Zuwendung zum Vater, den sie als Gefährtin auf seiner inselhüpfenden Odyssee beim Aufspüren des Rivalen begleitet. Der Eintritt der Tochter in die Mutter/ Partnerin-Rolle forciert eine inzestuöse Latenz: Die Übernahme von Mütterlichkeit (Kinderversorgung u.a.m.) durch die Tochter könnte zu weiteren ‚ehelichen„ Agenden führen (mehr dazu später). Narrative wie diese mythifizieren (d.h. sie stellen dar und verschleiern gleichzeitig) missbräuchliche Beziehungen in verschiedener Intensität, zum Beispiel durch die Besetzung von Matt mit dem ‚Frauenliebling„ George Clooney in The Descendants (2011). 9 Sie laden dazu ein, die Brutalität eines sozialen Paradigmas zu verdauen, das sich gegenüber inzestuösem Missbrauch zumindest blindstellt. Das Drehbuch kommt Matt insofern entgegen, als Elizabeth ihre Rolle als Mutter ohnehin nie erfüllt hatte und das erlaubt ihr auch nicht, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Ein einziges Mal nur wird ihr Blick inszeniert - wenn wir das Boot mit der mutterlosen Familie und die auf dem Wasser schwimmenden hawaiianischen Blumenkränze von unten, aus ‚Sicht„ der zu Asche gewordenen Mutter sehen. ‚Über Leichen„ gehen die Descendants schließlich in der Schlusseinstellung, in der Patrilinearität verabsolutiert wird: Vater und Töchter sitzen auf dem Sofa, zugedeckt mit dem Quilt von Elizabeths Sterbebett. Im Fernseher läuft dabei March of the Penguins (2005) - wohl nicht zufällig als Hommage an die legendären Vaterqualitäten dieser Vögel. Selbst wenn die Schlussszene ironisch sein sollte, so wäre es eine kritiklose Ironie: Niemand scheint Elizabeth zu vermissen, während sich die diversen Verfehlungen der Töchter (Aggressionen und Alkoholexzesse) ebenso erledigt haben wie die des Vaters (Vernachlässigung und Narzissmus), sodass das Bild einer ‚ganz normalen„ Familie entsteht - Eis essend, vor dem TV. Am Ende ist alles gut, obwohl (oder weil) die Mutter fehlt. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Publikum wie Kritik die fehlende Mutter nicht nur als Mutter nicht vermissen, sondern auch nicht als Partnerin, also als erwachsene, sexuelle Frau. Tatsächlich fehlt in The Descendants (2011) - wie in den anderen Filmen mit Mutterabsenz - ja nicht nur die Mutter, sondern auch die Ehefrau. Die Täuschung gelingt - die Mutter/ Gattin wird nicht als fehlend wahrgenommen. Haushaltsführung und Kinderbetreuung werden von Matt bald problemlos neben seinen beruflichen Verpflichtungen geleistet. Als ‚Partnerin„ springt ja Alexandra ein, sodass der Film uns als Schlussbild besagtes Familienidyll bietet (Bild 2). 9 Mythifizierung ist ein Begriff von Roland Barthes, der meinte „myth hides nothing and flaunts nothing: it distorts“, d.h. er verschleiert Machtverhältnisse durch Naturalisierung (Barthes 1972: 129). Daddy’s Girls 15 Im Vordergrund des Films stehen aber nicht ‚Familienwerte„, wie das Lexikon des Internationalen Films behauptet, sondern weibliche Untreue und männliche Eifersucht, welche die Rache-Erzählung motivieren. Wenn Matt im Lauf des Films seinen Plan, die Familienlatifundien gewinnbringend an ein Immobilien-Konsortium zu verkaufen ändert, dann nicht aus ökologischen Gründen, sondern um dem Ex-Rivalen, der davon ökonomisch profitieren würde, ‚eins auszuwischen„. Muttervakanz als Identifikationspotentiale Nicht alle matrivakanten Filme sind so ausgeprägt misogyn und matriphob. Grundsätzlich kreiert die mütterliche Abwesenheit zunächst eine Leerstelle innerhalb des Textes. Während diese in The Descendants (2011) mit patriarchalen Zoten gefüllt wird, öffnet sie in anderen Filmen (etwa 35 Shots of Rum, 2008) Raum für die Entwicklungsgeschichte einer Tochter hin zur Maturität. Es gibt aber eine dritte Option: Die Leerstelle kann auch als solche im Text konserviert werden, wodurch sie - bei entsprechend imaginativer Textkonstruktion - heterogene und flexible Publikumspositionen im Verhältnis zu dieser Leerstelle ermöglicht. Entgegen der Schlussfolgerung von Livingstone/ Liebes (1995) aus ihren Soap-Recherchen muss die Abwesenheit der Mutter nicht notwendigerweise dazu führen, dass diese als „das andere“ und die sich von ihr abgrenzende Tochter als einzige Identifikationsfigur kreiert wird. Tania Modleski etwa hat bemerkt, dass das Publikum von Soaps oft selbst in eine Position der „guten Mutter“ eingeladen wird, wo es liebevollesorgende Anteilnahme gegenüber allen Charakteren (Kindern! ), unabhängig von deren individuellen Schwächen, entwickelt (1979: 14). In anderen Fällen öffnet sich die Mutterleerstelle für heterogene Identifikationen unabhängig von der „primäre[n] Identifikation“ (i.S. von Christian Metz, Bild 2: The Descendants (2011). Am Schluss des Films ein trautes ‚Familien‘bild Klaus Rieser 16 also jener mit Kameraposition und narrativer Fokalisierung). In 35 Shots of Rum (2008) etwa wird subjektive Kameraführung weitgehend vermieden und die narrative Perspektive zwischen Vater und Tochter ausbalanciert: Das Publikum kann die Identifikation wählen und wechseln. In diesem Sinn bietet das oben angesprochene Schlussbild von The Descendants rund um die befremdliche Abwesenheit von Trauer der nun mutterlosen Familie eine weitere Lesart des Films an. Denn die Leerstelle (der fehlenden Trauer) öffnet eine neue Identifikationsmöglichkeit: Die Zuseherin kann sich als Bezugspunkt dieser ‚Familie ohne Frau„ sehen: Der geläuterte Matt ist nun auch als Partner attraktiv (George Clooney! ), die Töchter sind gebändigt. Solange die Zuseherin kooperiert, indem auch sie alles Böse in Elizabeth projiziert, kann sie sich komplementierend in die Familienidylle hineinimaginieren. Dem würde der Blickwinkel der Schlusseinstellung entgegenkommen. Denn Matt und die Töchter blicken nicht nur auf den Fernseher, sondern direkt in die Kamera. Das ist durchaus mehr als ein selbstreferenzieller Gag (in Hinblick auf die folgende DVD-Version); es ist diese zum Tableau geronnene Familienfotografie, deren Blickbezug etwas außerhalb des Bildes sucht - und damit die Positionierung der Zuschauerinnen vis-à-vis der Familie forciert. In dieser Lesart ist die Zuseherin der angesprochene Bezugspunkt. Indikator normativer Heterosexualität Das Motiv der Matrivakanz kann schließlich auch als Indikator normativer Heterosexualität gesehen werden, welche die Beziehung der Tochter zur Mutter kompliziert oder behindert. Judith Butler (1990) zufolge muss in heteronormativen, patriarchalen Gesellschaften die Tochter, um eine heterosexuelle Weiblichkeit einzunehmen, sowohl ihr Begehren für den Vater als auch das für die Mutter überwinden. Im Unterschied zu Freud deklariert Butler letzteres als den dramatischeren Verlust der Tochter: „Whereas it is possible to grieve the consequences of the incest taboo in a heterosexual culture, the taboo against homosexuality cannot be grieved and so the response to the taboo against homosexuality is melancholia rather than mourning” (1990: 69). Tatsächlich scheint die Vakanz der Frauen-/ Mutterstelle in Filmen Melancholie statt Trauer zu evozieren. 10 Folglich kann die Matrivakanz auch die Schwierigkeit der Tochter darstellen, unter heteronormativen Bedingungen die Beziehung zur Mutter aufrecht zu erhalten oder diesen Verlust zu betrauern. Wie wir gesehen haben, handeln matrivakante Filme oft vordergründig von inzestuösödipalen Problemen, z.B. den Leiden der Loslösung der Tochter vom Vater (Inzesttabu). Die Mutter-Tochter-Beziehung bzw. deren „Überwindung“ (indikativ für das Tabu gegen Homosexualität) wird jedoch nur über die Abwesenheit der Mutter abgehandelt. Das heißt, die fehlende 10 Vgl. Late Spring, 1949; Million Dollar Baby, 2004; 35 Shots of Rum, 2008; etc. Daddy’s Girls 17 Mutter bezeichnet einen a priori Verlust, der nicht betrauert werden kann, eine homosexuelle Cathexis, die - für die heterosexuelle Frau - nicht Trauer, sondern Melancholie begründet. 3. Transformationen und Gegentrends Vater-Tochter-Filme können das Dilemma beleuchten (und zugleich in Barthes„ Sinne verschleiern), welches heteronormative patriarchale Kulturen für die psychosoziale Entwicklung von Töchtern produzieren. Manche Filme ‚lösen„ dies durch Affirmation des Patriarchats (The Descendants, 2011), andere, indem sie dessen Normen Skepsis entgegenbringen (35 Shots of Rum, 2008). Zwar gilt nach wie vor, dass viele Texte die Mutter als Abjekt konstruieren und Söhne über Töchter privilegieren, es entstehen aber auch zunehmend Filme, die die Welt von Töchtern in ihrer Komplexität, inklusive ihrer Beziehungen zu Vätern, darstellen. Sie entsprechen damit auch einem allgemeinen, ‚kindzentrierten„ Trend. Joan Driscoll Lynch jedenfalls meint: Many family melodramas of the 'eighties and 'nineties can no longer be considered gynocentric (Kuhn 339) or patricentric (Seiter 25); rather they are child-centered. While the parents may still claim the majority of screen time, there has been a shift in the focus of the narrative from the adults to the effects that the negative dynamics of the parental relationship have on children, particularly the child who is positioned as the protagonist or key character. (1999: 48) Dennoch bleibt die oben angesprochene Parentifizierung (Übernahme der Frauen-/ Mutterrolle) der ersten Tochter ein häufiges Phänomen in solchen pädozentrischen Texten. In seinen Studien zu dysfunktionalen Familien hat John Bradshaw (1988) aufgezeigt, dass Töchter häufig Versorgungsrollen übernehmen und die emotionalen Bedürfnisse von Eltern erfüllen müssen, ein Faktum, das Joan Driscoll Lynch als emotionalen Missbrauch bezeichnet: „When a parent uses a child for emotional support and companionship that should be found in a spouse, the relationship may be viewed as emotional incest” (1999: 54). Die Emotionen der Töchter können dann nicht im Umgang mit peers ausgelebt werden, sondern werden durch die Väter konsumiert. Allison Giffen hat aufgezeigt, dass die bloße vermehrte Darstellung von ‚frühreifen„, d.h. sexualisierten, Mädchen als Konstruktionen eines väterlichen Begehrens gelesen werden können: Contemporary images of ‚daddy‟s little girl,„ the sex kitten, and the nymphet merely offer a more explicit version of displaced paternal desire. These sexua- Klaus Rieser 18 lized daughters offer their fathers, or father figures, a potent (and titillating) combination of childishness and sexuality. (2003: 275) Allerdings weisen töchterzentrierte Filme nicht nur Rückfälle in heteronormativ patriarchale Verhältnisse auf, sondern bieten zunehmend auch weiblich-ödipale (medusische) Entwürfe. Die Protagonistin des gleichnamigen Actionfilms Hanna (2011) etwa dient weder als Ersatzfrau noch als erotischer Bezugspunkt für den Vater; sie tritt ganz nach Sohnesmanier in die väterlichen Fußstapfen und erlernt Kampfkunst und Tötungstechniken. In ähnlicher Weise begibt sich die 14-jährige Mattie in True Grit (2010) auf eine Western-Odyssee, um ihren Vater zu rächen und solcherart die Vorzeichen des revenge movie umzudrehen. Im Südstaatendrama Beasts of the Southern Wild (2012) lernt die kleine Hushpuppy von ihrem todkranken Vater Überlebenstechniken. Er ermächtigt sie (wenn auch mitunter grob) wo immer möglich - und obwohl sie bei ihm lebt, ist sie frei und gut in die Gemeinschaft eingebunden und maximal befähigt, nach seinem Tod einer ungewissen, aber selbstbestimmten Zukunft entgegen zu schreiten. Ein weiteres Beispiel für dieses neue Paradigma ist die preisgekrönte unabhängige Produktion Winter‟s Bone (2010) von Debra Granik. Im Stil eines melancholisch neorealistischen Dramas mit Thriller-Elementen paart der Film Lokalkolorit mit archaischen Kräften: Ree Dolly (Jennifer Lawrence), ein 17-jähriges Mädchen in white trash Missouri, hat eine schwer depressive Mutter und muss ihre beiden jüngeren Geschwister versorgen. Ihre größte Herausforderung beginnt jedoch, als ihr das Gericht nur eine Woche Zeit gibt, um ihren Vater - tot oder lebendig - zu finden: Denn der Vater, auf Bewährung freigesetzt und seither abgängig, hatte das Haus als Sicherheit verpfänden müssen. Ree, überzeugt, dass der Vater sie niemals freiwillig im Stich gelassen hätte, begibt sich auf eine Tour-de-Force durch ein desolates amerikanisches Hinterland voll Gewalt und Drogenkriminalität. Die staatlichen Institutionen sind dysfunktional, die regionale Ökonomie besteht aus illegalen Crystal Meth Laboren, die Bewohner sind aggressiv. Im Verlauf ihrer Erkenntnissuche beweist Ree enormen Mut und Willensstärke um ihre doppelte Aufgabe - den Vater zu finden und die Familie zu retten - zu meistern. Schließlich erwirbt sich Ree den Respekt der Frauen eines regionalen Drogenclans, sodass diese sie eines Nachts zu jenem See bringen, in dem die Leiche ihres Vaters (zum Schutz der Mörder) versenkt wurde. Da Ree es nicht schafft, den Leichnam an Bord zu ziehen - um seinen Tod vor Gericht zu beweisen - hält sie nun seine toten Hände, während die Milton-Frauen diese mit einer Kettensäge abtrennen. Sein Tod bezeugt, dass er die Familie nicht im Stich gelassen hat - und bestätigt jenes Vertrauen seiner Tochter, das ihre Odyssee überhaupt erst motiviert hat. Ree trägt die abgesägten Hände zum Sheriff und verhindert die Delogierung. Hier übernimmt eine Tochter nicht nur in die Position der Mut- Daddy’s Girls 19 ter (sie versorgt ihre Geschwister), sondern auch jene des Vaters (sie sorgt für das Haus). Die tiefenpsychologischen Aspekte dieser Sukzession werden nicht geglättet, sondern in starke Symbolbilder gepackt, wenn Ree die Zerlegung des patriarchalen Körpers - einen Akt der Kastration - mithilfe anderer Frauen selbst vornimmt. Die emotionale Bindung an den Vater, auf den sie stolz ist, und die quasi-ödipale Nachfolge machen sie nicht zu einem Daddy‟s Girl (Papas Liebling): Schließlich besteht sein Erbe, also seine patriarchale Gabe, nur aus seinem Leichnam - den Rest muss sie sich selbst erarbeiten. Tatsächlich leitet ein harter, ironischer Schnitt von der Szene am See über zur Polizeistation, wo wir Ree mit einem Plastiksack (die abgesägten Hände enthaltend), mit folgendem Aufdruck sehen: „THANK YOU; THANK YOU; THANK YOU; THANK YOU; Have a Nice Day”. Die Dankbarkeit gegenüber dem Vater und der staatlichen Institution wird ad absurdum geführt: Die familiäre wie auch die gesellschaftliche Hegemonie wird durch einen Plastiksack repräsentiert. Auf der Polizeistation kann sich Ree noch einmal von der patriarchalen Instanz abgrenzen. Der Sheriff, der zuvor von einigen hillbillies eingeschüchtert worden war, versucht Ree nun mit seiner Position zu beeindrucken und seine Demütigung schönzureden. Doch sie bleibt unbeeindruckt: Sheriff: Hey! I didn‟t shoot the other night „cause you were there in the truck. He never backed me down. Ree: It looked to me like he did. Sheriff: --- Don‟t you let me hear that‟s the story getting around. Bild 3: Winter’s Bone (2010) Ironischer Verweis auf patriarchale Institutionen Klaus Rieser 20 Ree: I don‟t talk much about you, man. --- Ever. (Granik & Rosellini 2010: 69-70) Hier begegnen wir also einem Film, der auf die oben dargestellten Muster rekurriert - eine abwesende Mutter, eine Identifikation der Tochter mit dem Vater, sowie deren Parentifizierung - diese aber in eine neue Richtung wendet. Dies gelingt nicht zuletzt deshalb, weil hier konsequent der Blickwinkel der Tochter dominiert. Dolly in Winter„s Bone (2010), Mattie in True Grit (2010), Hanna in Hanna (2011) und Hushpuppy in Beasts of the Southern Wild (2012) - sind die Heldinnen eines neuen Genres. Filme wie diese lassen hoffen, dass ein neues, töchterzentriertes Kino entsteht. Ein Kino, in welchem Töchter von ihren Vätern nicht verraten, missbraucht und zerstört werden, sondern in dem sie durch die väterliche Unterstützung und Ermächtigung, mehr noch, durch die Auseinandersetzung mit dem realen Vater und mit der Gesellschaft, ihren Weg finden. Bibliographie Barthes, Roland (1972). Mythologies. London: Jonathan Cape. Boose, Lynda E. (1989). “The Father‟s House and the Daughter in It: The Structures of Western Culture‟s Daughter-Father Relationship”. In: Lynda E. Boose & Betty S. Flowers (Eds.). Daughters and Fathers. Baltimore: Johns Hopkins UP. Bradshaw, John (1988). Bradshaw on: The Family. Deerfield Beach: Health Communications. Bruzzi, Stella (2006). Bringing Up Daddy. Fatherhood and Masculinity in Postwar Hollywood. London: British Film Institute. Butler, Judith (1990). Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge. “Descendants, The.” Lexikon des Internationalen Films. Zweitausendeins. 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