eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 41/1

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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2016
411 Kettemann

Pascal Klenke, Laura Muth, Klaudia Seibel und Annette Simonis (eds.), Writing Worlds: Welten- und Raummodelle der Fantastik (Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik 1). Heidelberg: Winter, 2014.

2016
David Klein
Rezensionen AAA Band 41 (2016) Heft 1 94 Winkler, Hartmut (2004). Diskursökonomie: Versuch über die ‚innere Ökonomie‟ der Medien. Suhrkamp: Frankfurt am Main. Wolf, Werner (1998). „Aesthetic Illusion in Lyric Poetry? “. Poetica 30: 251-289. Wolf, Werner (2009). „Illusion (Aesthetic)“. Peter Hühn, John Pier, Wolf Schmid & Jörg Schönert (Eds.). Handbook of Narratology. Berlin/ New York: de Gruyter. 144-159. David Klein Institut für Romanische Philologie Ludwig-Maximilians-Universität München Pascal Klenke, Laura Muth, Klaudia Seibel und Annette Simonis (eds.), Writing Worlds: Welten- und Raummodelle der Fantastik (Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik 1). Heidelberg: Winter, 2014. David Klein Ein Diktum Ernst Cassirers aufgreifend, demgemäß der “ästhetische Raum [...] [als] echter „Lebensraum‟ [...] aus den Kräften des reinen Gefühls und der Phantasie aufgebaut ist” (Cassirer 1931/ 2006: 499), schickt sich der erste Band der jüngst beim Universitätsverlag Winter begonnenen Reihe Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik an, genau dieses Verhältnis von Raum und Phantasie (oder literarischer Phantastik) systematisch zu erkunden. Ausgangspunkt des Buchs, das zugleich Beiträge der 4. internationalen Tagung der Gesellschaft für Phantastikforschung (Wetzlar, September 2013) versammelt, bildet die These, dass sich “die welterzeugende und raumkonstruierende Ausrichtung, die [...] zu den Grundzügen literarischer Fiktionen überhaupt zählt” (9), besonders deutlich im Modus des Phantastischen artikuliert. Das Phantastische, so die Überlegung, macht sichtbar, dass und inwieweit (vorgestellte) Weltordnungen immer auch Raumordnungen sind oder zumindest einer räumlichen Logik gehorchen. So gesehen, erkundet das Phantastische also weder imaginierte Räume noch imaginierte Welt- oder Wissensordnungen, sondern das Verhältnis zwischen den beiden. Phantastik erzählt, was Raum und Welt zusammenhält. Mit insgesamt 19 Einzelbeiträgen, die nach fünf Schwerpunktsetzungen gegliedert sind, bietet der Band ein breites Panorama dessen, was derzeit dem Bereich der Phantastikforschung zufällt. Neben systematisch-theoretischen Perspektiven sind dies zum einen Texte, die der Vermittlung neuer naturwissenschaftlicher Paradigmen im Modus des Phantastischen dienen, zum anderen phantastische oder Fantasy-Filme, wie sie im Kino seit den 1990er Jahren einen neuen Boom erlebt haben, zudem Texte, die gleichermaßen in den Kanon der modernen und postmodernen Literatur hineinfallen, und schließlich auch Videospiele, graphic novels oder gar antike Werke, die neuerdings nach Elementen literarischer Phantastik befragt werden. Das thematische Spektrum Rezensionen 95 ist weit gespannt, begriffliche Konzepte sind entsprechend elastisch. Aus diesem Grund werden der breiten gebotenen Fülle an dieser Stelle eher Stichproben entnommen. Im Einzelnen präsentiert werden vor allem diejenigen Beiträge, die ein hohes Maß an Anschlussfähigkeit mit anderen Beiträgen aufweisen, um den panoramatischen Charakter des Bandes zu verdeutlichen. Den konzeptionellen Auftakt machen die Überlegungen Hans Krahs (“Rotkäppchen und der Wald. Narrative Funktionen fantastischer Welten”, 15-36). Räume oder Raumkonzepte werden hier als “Link zwischen Denksystem und sozialer Praxis” begriffen, “indem mittels ihnen das Nicht-Fassbare in Substanz überführt werden kann” (18). Vereinfacht gesagt: Was wir nicht begreifen, das stellen wir uns räumlich dar. Einerseits dienen Räume und Raumkonzepte der Begrenzung dessen, was sich nicht in geläufige Denk- und Handlungsroutinen einordnen lässt. Andererseits gibt es auch solche Räume, die nach innen „entgrenzt„ sind und auf diese Weise mit besonderen Graden der Freiheit aufwarten, so dass in ihnen auch das Nicht-Geläufige und Ungültige zur Geltung kommen kann wie beispielsweise in Foucaults Heterotopien (vgl. Foucault 1967/ 1993, auf den sich Krah gleichermaßen beruft). In welcher Fassung auch immer sind Räume basal und grundsätzlich durch eine Grenze definiert. Ohne Grenze kein Raum. Die Tatsache des Vorhandenseins einer Grenze sowie ihre permanente Strukturierungsleistung treten nirgends so deutlich hervor wie dort, “wo diese Leistung gebrochen wird” (19). In phantastischen Erzählungen, aber auch im Horror- und Fantasy-Genre geschieht dies - so die Überlegungen Krahs - besonders häufig am Waldrand, genauer: auf “freie[m] Feld zwischen Wald und Dorf” (17). Als Bereich des Übergangs, “als Korridor” (ebd.), exponiert eine solche Grenzzone markant das Verhältnis von kultureller Semantik und ihrer räumlichen Modellierung. Ausgehend vom Märchen, hat das Motiv des Waldes oder des Waldrands in dieser Funktion und in zahlreichen Spielarten insbesondere im phantastischen Film einen festen Platz gefunden, wie Krah anhand einiger Beispiele des jüngeren Hollywoodkinos ausführlich zeigt. Ein ähnliches Argument verfolgen Stephanie Großmann und Stefan Halft (“Transitorische vs. transformierende fantastische Räume. Versuch eines diachronen Vergleichs der kulturellen Funktion fantastischer Räume”, 69-83), die den phantastischen Raum ebenfalls als Zone des Übergangs definieren und seine Eigenschaft der konstanten Vermittlung und Neuvermittlung von Wissen und Räumlichkeit zusätzlich historisieren. So führen die Überlegungen durch einen Parcours von drei narrativen Texten und einem Spielfilm, angefangen bei Goethes Wilhelm Meister (1796), weiter über E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819) sowie Joseph von Eichendorffs Das Marmorbild (1819) und enden schließlich in der Gegenwart bei Christopher Nolans Inception (2010). Den roten Faden bildet dabei die Beobachtung, dass die jeweils destillierbaren Raumkonzepte zunehmend stärker in Abhängigkeit von den in ihnen agierenden Perspektivträgern gebracht werden. Verhält sich der Raum im Wilhelm Meister gegenüber der Figur “prinzipiell statisch” (72) - Wilhelms Reise führt durch einen Raum, “der betreten und wieder verlassen wird” (ebd.) -, so wird der Außenraum in der Erzählung E.T.A. Hoffmanns einerseits homolog auf den zentralen Perspektivträger projiziert (vgl. 77) Rezensionen 96 “und die Figur dadurch selbst verräumlicht”, während andererseits nun auch “das Innere der Figur [...] in der dargestellten Welt” (ebd.) lesbar wird (dies ist mit dem Konzept der romantischen Korrespondenzlandschaft durchaus vereinbar; vgl. Hess 1953 sowie Matzat 1990). Diese wechselseitige Bespiegelung von Außenraum und seelischem Innenraum erfährt im Marmorbild eine weitere Zuspitzung. Denn hier wird das Seelenleben des Perspektivträgers Florio in auffälliger Weise in räumlichen Kategorien beschrieben. Dies zeigt “sich vor allem an der redundanten Metaphorik der Tiefe, mit der [...] auf Florios Gefühlswelt Bezug genommen wird” (79). In Inception schließlich wird die Kategorie Raum als alleinig “relationales sowie relatives Phänomen präsentiert” (81). Denn erstens sind die räumlichen Eigenschaften der Traum-welten, in die die Figuren eindringen, nur mehr kreatives Produkt eines sogenannten Traumarchitekten. Die Räume sind also von Anfang an subjektiver Entwurf. Zweitens werden diese Räume nicht von Menschen, sondern von feindseligen und unbewussten Projektionen des ahnungslos Infiltrierten bevölkert. Diese Projektionen zeigen sich den Traumspionen nur in Menschengestalt, während sie eigentlich keine Menschen sind. Und drittens führt die metadiegetische Staffelung und Überlagerung von Traum und Realität am Ende so weit, dass im Rückblick selbst die vermeintlich für real geglaubten Räume immer auch potentiell als Traumebenen lesbar werden. Somit sind alle Räume (und die sich darin befindlichen Elemente) als Produkt mindestens eines diese Räume und sich zugleich darin selbst entwerfenden Subjekts denkbar. Weltentwurf und Selbstentwurf fallen hier also dynamisch in eins. Die thesenhafte Überlegung von Stephanie Großmann und Stefan Halft, dergemäß sich bereits im Raumkonzept im Marmorbild “eine konstruktivistische Denkfigur abzeichnet” (80), erfährt in diesem Punkt also eine weitere Bestätigung. Liest man die phantastische Vergleichgültigung von Realität und Traum, wie sie in Inception erkennbar wird, als Darstellung einer kreativen Konstruktions- und Dekonstruktionsleistung eines Subjekts, so stellt sich die Frage, ob eine Erzählung, die um nichts weiter als diese Leistung kreist, überhaupt in der Lage ist, einen für die Lebenswelt der Rezipierenden verbindlichen Sinn herzustellen? Was, so könnte man fragen, ist die „Moral von der Geschicht‟, geht es in ihr doch nicht um ein Ergebnis, sondern um den Prozess der Ergebnisgewinnung. Auch Tom Reiss hat sich diese Frage gestellt und ihre Antwort im Stellenwert des Ereignisses in der literarischen Phantastik gesucht (“Mehr Raum, mehr Freiheit? Überlegungen zum Ende der Postmoderne und dem [Neu-]Beginn des Phantastischen bei David Foster Wallace”, 153-162). In Anlehnung an Alain Badiou fasst Reiss das Ereignis als “Raum zwischen Sein und Nicht-Sein” (153). Ein Ereignis ist damit eine Situation oder ein situativ Gegebenes, das sich zugleich selbst enthält. Es ist, so gesehen, “weder Nichts noch Etwas” (155), sondern es ist selbst ein „Werden‟, insofern es - beispielsweise als historisches Ereignis - ein Davor und Danach generiert. In diesem sonderbaren prozessualen Zwitterstatus des Ereignisses erkennt Reiss nun dessen strukturelle Ähnlichkeit mit dem Phantastischen. Dieses wird in Anlehnung an Tzvetan Todorov und Uwe Durst ebenfalls als ein suspendiertes Dazwischen definiert, als etwas, das zwei Seiten auseinanderfaltet und aufei- Rezensionen 97 nander bezieht und nur auf diesem Weg in die Welt kommt (vgl. Todorovs Rede vom Phantastischen als „Unschlüssigkeit‟ hinsichtlich des Wunderbaren oder des Unheimlichen, was Durst als „realitätssystemischen Konflikt‟ bezeichnet; Todorov 1970/ 1992: 42, und Durst 2010: 60 f.). Das Phantastische trägt damit immer auch die Signatur des Ereignisses und umgekehrt. Diese Parallele hat weitreichende Implikationen insbesondere für den ewig relativierenden Gestus postmoderner Literatur. Denn sorgt dieser dafür, dass jede Sinnzuschreibung fortwährend von Alternativen zerstreut wird (vgl. 160; Reiss beruft sich diesbezüglich auf Eshelman 2000/ 2001), so lässt sich das Auftauchen von phantastischen Elementen in dem ewigen Verweisspiel des Postmodernen als Appell an die Lesenden verstehen, selbst eine Entscheidung zu treffen und die „Moral von der Geschicht‟ selbst zu formulieren. Eine Entscheidung wird auf diese Weise vom Text gefordert, gleichwohl aber verweigert. Mittels phantastischer Unschlüssigkeit wird der “Leser in die Verantwortung gezogen, ethisches Handeln wird ihm unumgänglich abverlangt” (162). Der Ereignischarakter des Phantastischen - so ließe sich folgern - zwingt zur Stellungnahme. Dies scheint sich im Fantasy-Epos Cloud Atlas (2012), mit dem sich Sabine Zubarik beschäftigt, zu bestätigen (“Übertretung = Eliminierung. Biotechnische Kontrolle und Bewegungs[un]freiheit in dystopischfantastischen Raumentwürfen”, 115-123). Denn hier wird die regelverstoßende Grenzüberschreitung eines in einer dystopischen Zukunft lebenden Klons für nachfolgende Generationen einer anderen fernen Zukunft zum handlungsleitenden Beispiel. Der versklavte Klon Sonmi 451 widersetzt sich den Geboten der kaltherzigen Herrenmenschen und muss dies mit dem Tod bezahlen, wird dafür aber in ferner Zukunft als Gottheit verehrt. Dass aber die Grenzübertretung Sonmis ganz im Zeichen dramatischer Ironie steht, ergibt sich durch den Umstand, dass die begangenen Normverletzungen letztlich in den Dienst derjenigen herrschenden Klasse gestellt werden, deren Interesse von Anfang an das Einhalten dieser Normen war. Sonmis Devianz wurde von Beginn an zum Zweck der Abschreckung von ganz oben eingefädelt: “Die Abweichung ist, wie alles, vorherbestimmt” (122). Ganz in diesem Sinne aber - so ließe sich kritisch hinzufügen - funktioniert auch die messianische Wiederkunft Sonmis in ferner Zukunft. Denn indem einer der kaltherzigen Funktionäre kurz vor der Hinrichtung der devianten Sonmi beginnt, zumindest ein bisschen an ihre hoffnungsverheißenden Lebenslektionen zu glauben, bestätigt sich für die Zuschauer nur einmal mehr die Gewissheit, dass am Ende - ganz am Ende eben - doch die Guten siegen werden. Sonmis Ungehorsam wird schließlich mit Unsterblichkeit und Apotheose belohnt. Man könnte vor diesem Hintergrund sagen, dass der Kinofilm Cloud Atlas, indem er die Zuschauer vor ethischen Imperativen schützt und am Ende doch niemanden in Entscheidungsnot bringt, das aktiv vollzieht, wogegen er anschreibt. Auch die „Abweichung‟, durch die Sonmi am Ende von der Geschichte belohnt und die Bösen bestraft werden, war von Anfang an eingefädelt. Auf diesen Umstand fällt in dem hier genannten Beitrag jedoch leider wenig Licht, was umso mehr verwundert, als das audiovisuelle Medium Kino in Cloud Atlas - zumindest auf Handlungsebene - selbst zum Stichwortgeber der Normverletzung wird. Einmal das futuristische Taschenkino in Betrieb ge- Rezensionen 98 nommen, einmal den lustig flackernden Bildern zugeschaut, fangen die ansonsten braven Klonmädchen an, sich gegen unflätige Übergriffe männlicher Konsumenten zur Wehr zu setzen und phantasieren in der Welt da draußen auch einen Platz für sich. Kino - so könnte man sagen - macht eigenständige Subjekte und unterwirft sie sich am Ende doch. Wie dies funktioniert, untersucht Johannes Pause (“Das kinematographische Subjekt. Zur Raum- und Mediengeschichte filmischer Reisen ins Ich”, 205-218) anhand einiger jüngerer Filme des Hollywoodkinos, die von einer „Reise ins Ich‟ erzählen wie Dreamscape (1984), Innerspace (1987), Flatliners (1990), The Cell (2000) und, last but not least, Inception (2010). Im Vordergrund steht dabei die Beobachtung, dass die “phantastische Eroberung der Psyche in den genannten Werken durch wissenschaftliche und technischapparative Verfahren” (205) ermöglicht wird. Das „Innere‟, die Psyche, das „Ich‟ lässt sich im Film also besonders anschaulich in Form eines Apparats abbilden und erkunden. Gerade im jüngeren und jüngsten Hollywoodkino scheint ein solches Modell einen festen Sitz zu haben. Man denke zum Beispiel an den erst 2015 erschienen Pixar-Film Inside Out (in der die Psyche eines Teenagers als eine sagenhaft vielschichtige Kommandozentrale entworfen wird, in der prototypische Emotionen in Cartoon-Gestalt je nach Außensituation um Bedeutungshoheit konkurrieren). Zugleich aber - so Pause weiter - dient die Darstellung solcher Apparate nicht allein der Modellierung von Innenleben, sondern bietet in ihrer technisch-apparativen Gestalt immer auch eine Reflexionsfläche für ein Nachdenken über “die Wirkungsästhetik des Kinos” (209). (Die Emotionsmonster in Inside Out beobachten die Außenwelt über einen riesigen Bildschirm gleich einer TV-Steuerzentrale und die Traum- Spione in Inception greifen nicht von ungefähr auf das im Hollywood-Kino dominante Vater-Sohn-Thema zurück, um ihrem Opfer eine tiefsitzende Überzeugung einzupflanzen). “Filmische Reisen ins Ich entwerfen den psychischen Apparat […] als konstitutiv durch Medienerfahrungen geprägten Handlungsraum” (207). Kurz gefasst, Selbsttechnik ist Medientechnik, näherhin: Kino- und Fernsehtechnik. Das Verhältnis von (dargestelltem) Innenraum und (darstellender) Medientechnik weist seit den 1980er Jahren gewisse Veränderungen auf. Denn zeigten sich die tiefsten Tiefen des Ich in den Anfängen des Kinos, beginnend bei Geheimnisse einer Seele (1926) von Georg Wilhelm Pabst, „vor allem in Form von Angstträumen oder Visionen […], die sich Versuchen des intentionalen Eingriffs oder der bewussten Gestaltung weitgehend entziehen” (ebd.), so modelliert der Spielfilm seit den 1980er Jahren “die Psyche als in epistemische Evidenz überführbaren und intentional bereisbaren Erfahrungsraum” (210). Diese These generalisierend, ließe sich sagen, dass die Vorstellung von einer durch Medientechnik kontrollier- und bereisbaren Innenwelt ab den 1980er Jahren zum Paradigma wird. Pause zeigt dies am Beispiel von Ken Russells Altered States (1980) und der Matrix-Trilogie (1999- 2003). Das Unergründliche und Gefährliche ist in beiden Filmen nicht wie vormals noch die Untiefe der menschlichen Psyche, sondern vielmehr die Eigendynamik der Apparate, die diese Psyche erkunden und kontrollieren sollen. Im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Psyche werden diese Apparate seit den 1990er Jahren zusätzlich aufgewertet. Denn mündet die Suche nach Rezensionen 99 wahrer Identität in Altered States noch in einem existenzbedrohenden, alles verschlingenden Wasserstrudel gleich einer “überdimensionale[n] Leerstelle” (211), so erscheinen die mittels Medientechnik erschließbaren Zonen in jüngeren gattungsnahen Filmen wie Avatar (2009), der Fernsehserie Fringe oder Inception (2010) “gleichzeitig als Innen- und Außenwelten, als gleichberechtigte Natur und als programmierbare Simulation” (215, meine Herv.). Auch die anfänglich düstere Matrix-Trilogie endet mit einem Friedensvertrag zwischen Mensch und Maschine vor Sonnenaufgang. Dies entspricht strukturell einer phantastischen Vergleichgültigung von zwei ontologisch getrennten Sphären, seien diese nun Realität und Traum oder, wie hier, Apparatives und Menschliches. In einem solchen Paradigmenwechsel zeigt sich - wie Johannes Pause weiter ausführt - mindestens zweierlei: Erstens traut man einer Medientechnik, die in der Lage ist, Innen- und Außenwelt zur Deckung zu bringen offenbar zu, die traditionsreiche und hinlänglich problematisierte Gespaltenheit des Subjekts aufzuheben. Und zweitens entpuppt sich die Sehnsucht, diese Gespaltenheit zu überwinden, selbst “als mediales Implantat” (218). Letzteres zeigt sich besonders deutlich in Inception: Denn der Gedanke, von dem sich die Frau Cobbs, des Protagonisten des Films, nicht befreien kann, dass nämlich diese Welt nicht real ist, wurde ihr schließlich von ihrem Ehemann qua Medientechnik (dreamsharing, inception) eingepflanzt. Und dieser Gedanke ist nun so stark, dass er die, die ihn denken, entweder in den Tod treibt - wie Cobbs Frau - oder sie zur Hingabe nicht mehr an die Illusion von Realität, sondern an die Realität der Illusion zwingt - wie Cobb selbst, für den es am Ende keine Rolle mehr spielt, ob er seine Kinder in der Realität oder im Traum wieder sieht. Beiträge wie die hier besprochenen machen Writing Worlds zu einem äußerst lesenswerten Kompendium zum aktuellen Forschungsstand zur Phantastik. Und auch die hier nicht näher behandelten Aufsätze, insbesondere diejenigen, die auf das Verhältnis von Phantastik und der Vermittlung naturwissenschaftlicher Paradigmenwechsel eingehen, seien in diesem Zusammenhang genannt (vgl. Meret Fehlmann, “Weltkonstruktion in der Prehistoric Fiction”, 87-101, sowie Ulrike Kruse, “Die wissenschaftlich-fantastische Welt in Bernhard Kellermanns Der Tunnel [1913]”, 103-123). Hochspannend ist überdies die von Markus Oppolzer angestellte Lektüre von Shaun Tans The Arrival (265-276), zumal hier systematisch Licht auf allein visuell kodierte Phantastik fällt. Beiträge wie diese sind als Impulsgeber und Wegweiser für eine Fortsetzung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phantastischen kaum zu unterschätzen. Dies umso mehr, wenn man gewillt ist, anzuerkennen, dass die systematischen und gattungsspezifischen Fragestellungen zur Phantastik hinlänglich umrissen und allseits zugänglich sind. Es mag vor diesem Hintergrund also einerseits verwundern, wenn sich der ein oder andere Beitrag erneut solchen systematisch-konzeptionellen Fragestellungen zuwendet, die man in der Forschung seit längerem für konsensfähig hält. Andererseits aber mag man dies als Antwort auf den zum Teil unreflektierten Umgang mit dem Begriff des Phantastischen verstehen, wie er ebenfalls noch häufig zu finden ist. Phantastik wird in der Forschung teilweise noch immer mit einer bestimmten Motivwahl gleichgesetzt und leichtfertig mit Fantasy, Rezensionen 100 Utopie oder schlichtweg der Darstellung von Traum-, Innen- oder Anderswelten vermischt. Davon hält sich Writing Worlds glücklicherweise hinreichend fern. Denn problematisch ist eine solche Vermischung vor allem im Hinblick auf die quasi automatische Zuordnung von Video- und Rollenspielen zum Bereich des Phantastischen. Ist aber ein Videospiel, das seine Benutzenden in nicht-lebensweltliche Sphären führt, deswegen gleich phantastisch? Gibt es überhaupt Videospiele, die das nicht tun? Sind Videospiele also phantastisch qua Gattung oder gar Medium? Und wenn ja, wären dann nicht alle Spiele, computerbasiert oder nicht, phantastisch? Unterließe man bei einer solchen unreflektierten Gleichsetzung jeden Einwand, dann wäre man in die tautologische Falle getappt, die dem Phantastikbegriff anhaftet. Denn im Grunde genommen, so hat der argentinische Meistererzähler Jorge Luis Borges einmal augenzwinkert angeregt, ist jede Literatur phantastisch, denn jede Literatur führt in Welten, die es nicht gibt, auch der Realismus (vgl. Borges 1985: 18). Das aber, was Borges in der Folge „absichtlich‟ phantastisch nennt, kündigt sich angeblich dort an, wo beispielsweise ein Don Quijote feststellt, dass er eine Figur in einem Buch namens Don Quijote ist. Eine derartig bewusste Vertauschung von (ohnehin immer schon) magischer Textwelt mit (ohnehin immer schon) nicht-magischer Realität führe nun auf Seiten der Lesenden zur bösen Vorahnung dessen, was es bedeuten könnte, wenn letztere erstere wäre und umgekehrt. In einem solchen Szenario wären wir nicht mehr nur Lesende eines Textes, sondern potenziell auch Figuren in einer Erzählung. Wir wären nicht Zuschauende einer Illusion, sondern Produkte dessen, was sich ein Anderer nur ausgedacht hat. Ist man gewillt, das Phantastische (erst) hier festzumachen (oder besser: erahnen zu wollen), dann wäre es nicht (schon) dort zu finden, wo eine Gruppe Industriespione (bloß) in den Traum eines ahnungslosen Firmenerben einsteigt, sondern (erst) dort, wo diese Spione sich selbst nicht mehr sicher sind, ob sie träumen oder geträumt werden, wo sie also nicht mehr sinnvoll zwischen Realität und Traum unterscheiden können, wo diese Unterscheidung hinfällig wird. Das Phantastische würde sich also dort ankündigen, wo der Protagonist von Inception sich „absichtlich‟ nicht mehr rück-versichert, ob er träumt oder wacht. Und es wäre dann auf Dauer gestellt an die Rezipierenden delegiert, wenn der Film dieselbe Geste nachempfindet, wenn er „absichtlich‟ dort abblendet, wo sich Aufklärung erwarten ließe. Dies macht den Protagonisten von Inception - sein voller Name lautet übrigens Dom Cobb - zum Erbe des spanischen Landjunkers Don Quijote, der als Leser (oder Träumer) auszieht, um als Gelesener (oder Geträumter) heimzukommen. Gewiss: Filme, in denen Videospielende zu Gespielten werden, sind denkbar. Ob und mit welchen Mitteln aber Video- und Rollenspiele in der Lage sind, dieses Verhältnis phantastisch zu vertauschen, bleibt eine spannende Frage. Vielleicht liefert der für 2016 erwartete Band (LIT) zur 5. Jahrestagung der Gesellschaft für Phantastikforschung (Klagenfurt, September 2014) Antworten, ging es dieses Mal doch dezidiert um Spiele und Spielwelten. Spannend bleibt auch die Frage, inwieweit und ob sich die game studies vor tautologischen Fallen schützen wollen, wenn sie mit dem Phantastischen in Berührung kommen. Rezensionen 101 Literatur Borges, Jorge Luis (1985). “Jorge Luis Borges: Coloquio”. Jorge Luis Borges et al. Literatura Fantástica. Madrid: Siruela. 13-36. Cassirer, Ernst (1931/ 2006). “Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum”. Jörg Dünne & Stephan Günzel (Eds.). Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 485-500. Durst, Uwe (2010). Theorie der phantastischen Literatur. Berlin: Lit. Eshelman, Raoul (2000/ 2001). “Performatism, or the End of Postmodernism”. Anthropoetics 6. [online] http: / / www.anthropoetics.ucla.edu/ ap0602/ perform. htm (Zugriff am 10.12.2015). Foucault, Michel (1967/ 1993). “Andere Räume”. Karlheinz Barck et al. (Eds.). Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam. 34-46. Hess, Gerhard (1953). Die Landschaft in Baudelaires “Fleurs du Mal”. Heidelberg: Winter. Matzat, Wolfgang (1990). Diskursgeschichte der Leidenschaft: Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac. Tübingen: Narr. Todorov, Tzvetan (1970/ 1992). Einführung in die fantastische Literatur. Trans. Hans Kepler. Frankfurt a.M.: Fischer. David Klein Institut für Romanische Philologie Ludwig-Maximilians-Universität München