eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 39/2

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
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2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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Es ist nicht unangebracht, die Rezension von Jochen Petzolds Buch von hinten zu beginnen. In einer Art Nachtrag geht Petzold dort in der Zusammenfassung auf die Kritik von Jonathan Culler (2008) am jüngeren Umgang mit Dichtung ein. Culler greift vor allem die zunehmende Tendenz an, Gedichte wie narrative Texte zu behandeln und sich vornehmlich auf die Konstruktion binnenfiktionaler Sprechsituationen und die entsprechenden Ausformungen von Charakteren zu konzentrieren. Was er dabei als eine Intervention gegen die Sprechsituationsanalyse vorbringt, impliziert eine fundamentale methodische Herausforderung, in der es darum geht, wie mimetisch Lyrik zu lesen ist. Neben Angeboten der Historisierung lyriktypischen Sprechens, wie sie etwa von Jackson und Prins (1999) zu bedenken gegeben wurden, plädiert Culler wieder für eine stärkere Berücksichtigung und Einbeziehung dichterischer Ausdrucksebenen, die sich nicht dem Paradigma mimetischer Repräsentation unterstellen bzw. deren Verhältnis zum binnenfiktional Repräsentierten erst zu klären wäre. Zu denken ist hier beispielsweise an das bereits von Gumbrecht (1988) wie auch Mahler (2006: 229, Anm. 45) grundlegend kritisierte Konzept der Sekundärkodierung, bei dem dieses Verhältnis bereits hierarchisch zugunsten der mimetischen Lektüre geklärt ist.
2014
392 Kettemann

Jochen Petzold, Sprechsituationen lyrischer Dichtung: Ein Beitrag zur Gattungstypologie (ZAA Monograph Series 14). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012.

2014
Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 2 187 turn’. This does not so much concern the omnipresence of metareference in contemporary culture (that can hardly be doubted) as the analytic and explanatory value of the term. As Wolfgang Funk justly claims, a ‘turn’ becomes interesting and significant when it - much like the linguistic turn - starts to transform the very fabric of the phenomena it describes. In his essay, he thoughtfully demonstrates this potential of the concept of metareference by connecting it to strategies of authentication in postmodern literature. As he shows with regard to Dave Egger’s novel A Heartbreaking Work of Staggering Genius, metareference has the power to instantiate a new authenticity in the literary text and could, therefore, offer an alternative to the relentless deferral of truthfulness and authenticity that has become regarded as the hallmark of postmodern fiction. Not all of the essays in this volume penetrate thus far into the epistemological deep structure of postmodernism. Yet, the book as a whole makes an engaging and nuanced read that will be relevant to scholars from a wide variety of fields. Sarah Fekadu-Uthoff Institut für Englische Philologie Ludwig-Maximilians-Universität München Jochen Petzold, Sprechsituationen lyrischer Dichtung: Ein Beitrag zur Gattungstypologie (ZAA Monograph Series 14). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012. André Otto Es ist nicht unangebracht, die Rezension von Jochen Petzolds Buch von hinten zu beginnen. In einer Art Nachtrag geht Petzold dort in der Zusammenfassung auf die Kritik von Jonathan Culler (2008) am jüngeren Umgang mit Dichtung ein. Culler greift vor allem die zunehmende Tendenz an, Gedichte wie narrative Texte zu behandeln und sich vornehmlich auf die Konstruktion binnenfiktionaler Sprechsituationen und die entsprechenden Ausformungen von Charakteren zu konzentrieren. Was er dabei als eine Intervention gegen die Sprechsituationsanalyse vorbringt, impliziert eine fundamentale methodische Herausforderung, in der es darum geht, wie mimetisch Lyrik zu lesen ist. Neben Angeboten der Historisierung lyriktypischen Sprechens, wie sie etwa von Jackson und Prins (1999) zu bedenken gegeben wurden, plädiert Culler wieder für eine stärkere Berücksichtigung und Einbeziehung dichterischer Ausdrucksebenen, die sich nicht dem Paradigma mimetischer Repräsenta-tion unterstellen bzw. deren Verhältnis zum binnenfiktional Repräsentierten erst zu klären wäre. Zu denken ist hier beispielsweise an das bereits von Gum- Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 2 188 brecht (1988) wie auch Mahler (2006: 229, Anm. 45) grundlegend kritisierte Konzept der Sekundärkodierung, bei dem dieses Verhältnis bereits hierarchisch zugunsten der mimetischen Lektüre geklärt ist. Dass Petzolds Auseinandersetzung mit Culler sehr kurz gehalten ist und nicht am Anfang steht, wo man sie systematisch erwarten könnte, kann verschiedene Gründe haben, zeigt aber die methodische Gewichtung an, die sich bereits zwischen Titel und Untertitel andeutet. Denn es geht in diesem Buch nicht primär um hermeneutisch-epistemologische Fragen. Vielmehr bedeutet der Plural „Sprechsituationen“, dass Petzold vor allem an einer differenzierenden typologischen Beschreibung interessiert ist, die wiederum im Dienste dessen steht, was der Untertitel ankündigt. Das Hauptinteresse gilt einem gattungstypologischen Zugang, der versucht, lyrische Dichtung auf der Basis des Kriteriums der Sprechsituation gattungstheoretisch auszudifferenzieren. Im Vordergrund steht dabei vor allem auch eine erneute Abgrenzung lyrischer Dichtung von Dichtung im weiteren Sinne. Die Grundthese lautet, dass sich lyrische Gedichte durch besonders gestaltete und transhistorisch mehr oder weniger invariante Sprechsituationen auszeichnen. Um diese These zu verfolgen, argumentiert Petzold im Wesentlichen in drei großen Schritten. Zunächst profiliert er auf der Basis eines Überblicks über bisherige Gattungsdiskussionen mit dem Schwerpunkt auf Lyrik, der aber so zentrale Beiträge wie etwa die Hempfers weitestgehend ausspart, die Neuartigkeit eines kognitionstheoretischen Zugangs. Sodann entwickelt Petzold das mentale Gattungsschema ‚Dichtung‘, wobei er für sich in Anspruch nimmt, erstmals die kognitive Schematheorie systematisch für die Gattungstheorie fruchtbar zu machen (vgl. 59). Dieser Teil umfasst die Kapitel eins bis vier und nimmt mehr als ein Drittel des Buches ein. In einem zweiten Schritt diskutiert Petzold sehr detaillierte Beschreibungsparadigmen für Sprechsituationen in lyrischen Texten, die sich an Kategorien der Narratologie orientieren und vor allem auf unterschiedliche Modalitäten der Sprecherpräsenz und deren Leistung für die textuell angeregte Wahrnehmungslenkung ausgerichtet sind. Der letzte Teil ist schließlich einer makroskopischen Fallstudie gewidmet, in der anhand von Palgraves Golden Treasury die These einer relativen historischen Invarianz lyrischer Sprechsituationen bei sich verän dernden Ausdrucksmitteln überprüft wird. Gleich zu Beginn legt Petzold seine theoretischen Prämissen offen. Der auch in der Narrativik in letzter Zeit immer verbreitetere kognitive Zugang muss sich auf keine größere systematische Diskussion hinsichtlich der Existenz(weisen) von Gattungen einlassen. Aufgrund seiner Zentrierung auf die Bedeutungskonstruktion des Lesers in der Interaktion mit dem Text kann Gattungshaftigkeit als immer schon rezeptionslenkend postuliert werden, insofern ihr eine heuristische Funktion zugesprochen wird. Demnach kann man gar nicht ohne Gattungserwartungen lesen. Zugleich ist mit dem Schemabegriff auch der lang diskutierte ontologische Status der Gattungen bei Petzold klar und in diesem Rahmen auch sinnvoll entschieden: „Gattung wird […]als mentales Schema verstanden, in dem Strukturen und Regeln für die Rezeption (literarischer) Texte verknüpft sind“ (5). Es wird für die Bestimmung der Gattung daher um jene Textelemente gehen, die die Lesepro- - Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 2 189 zesse steuern und „kognitive Prozesse auslösen“ (8). Diese sind entsprechend modellbildend transparent zu machen. Daran koppelt sich die zweite wesentliche Grundthese, dass „die Sprechsituation eine wesentliche Rolle in der Gedichtrezeption spielt und insbesondere für die Unterscheidung von Lyrik im engeren Sinn und anderen Untergattungen der Lyrik im weiteren Sinn verantwortlich ist“ (8). Auf der Basis dieses funktionalen Gattungsverständnisses lässt Petzold für die Entwicklung seines Gattungsschemas ‚Lyrik‘ verschiedene Bestimmungen der Lyrik in einem Forschungsüberblick Revue passieren, wobei er zunächst zwischen Dichtung im weiteren Sinne der Goetheschen Gattungstrias und Lyrik unterscheidet. Die Diskussion der traditionellen Definitionen der Lyrik im engeren Sinne, die sich an den Kriterien der Musikalität, der Subjektivität bzw. Emotionalität und des Redekriteriums orientieren, mündet schließlich in einer Kritik des Mehrkomponentenmodells Müller-Zettelmanns (2000). Dieses wird zwar als bisher avanciertester, aber gleichzeitig auch zu weiter Vorschlag dargestellt, da die für Petzold wichtige Unterscheidung zwischen lyrischer Dichtung und Dichtung allgemein nicht ausreichend berücksichtigt ist. Vor allem kritisiert Petzold sowohl an Müller-Zettelmann als auch an Lampings (1993) am Redekriterium orientierter Definition, die dem Petzoldschen Ansatz der Profilierung der Sprechsituation grundsätzlich näher stehen dürfte, jedoch die fehlende Berücksichtigung „der Funktion von Gattungen im System literarischer Kommunikation“ (41). Ausgehend von Wolfs (2005) Vorschlag, das in der Gattungstheorie breit akzeptierte Konzept der Wittgensteinschen Familienähnlichkeit mit der Prototypentheorie zu kombinieren, entwickelt Petzold die funktional-kognitiv ausgerichtete These, „dass ‚Gattung‘ insbesondere als mentales Konstrukt mit heuristischer Funktion aufzufassen ist“ (42). Demnach informieren Gattungen am Schnittpunkt zwischen Text- und Weltwissen den Zugang zu Texten besonders anhand unserer Erwartung typischer Merkmale, da diese den Leseprozess in der Interaktion zwischen dem, was Texte uns anbieten, und unseren aus Erfahrungen gespeisten Erwartungen steuern. Wie Petzold in gut in die Kognitionstheorie einführenden Kapiteln (bes. 3.2 & 3.4) darlegt, wird dies in der Kognitionswissenschaft als Interaktion zwischen datenorientierten bottom up- und schemagelenkten top down-Prozessen beschrieben. Eines der wesent-lichen Argumente Petzolds für die Entwicklung des Gattungsschemas ‚Lyrik‘ ist nun, dass diese Interaktion nicht nur rein textuelle Merkmale betrifft. Einerseits betont er die starke Subjektivität der jeweiligen Erwartungshaltungen und Schemata unterschiedlicher Individuen zu unterschiedlichen historischen Zeiten. Andererseits gehen in das Gattungswissen auch Aspekte ein, die sich nicht unmittelbar textuell niederschlagen. Fünf systematische Aspekte konstituieren für Petzold das Gattungsschema: Informationen zur Position im System ‚Literatur‘, zum physischen Erscheinungsbild, zur Ebene der sprachlichen Vermittlung, zur Ebene vermittelter Inhalte und zur adäquaten Rezeptionshaltung (vgl. 60). In gewisser Weise entsprechen diese den kommunikationstheoretischen Ebenen, die auf der Basis von Ansgar Nünnings (1989) Modell literarischer Kommunikation entwickelt werden (vgl. 142), um eine Definiti- Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 2 190 on für die Sprechsituation auszuarbeiten, die bereits prägnant in der Einleitung geliefert wird: Als Sprechsituation soll in dieser Studie die Verknüpfung aus den Fragen nach der Sprechinstanz (‚wer spricht? ‘), der Fokalisierungsinstanz, also dem Wahrnehmungs- und Bewertungszentrum im Gedicht (‚wer sieht? ‘), dem Verhältnis der Sprechinstanz zum Redegegenstand (‚eigenes oder fremdes Erleben? ‘) sowie dem Verhältnis der Sprechinstanz zum fiktionalen Sprechakt (‚Betonung oder Verschleierung der Vermitteltheit? ‘) bezeichnet werden. (3) Bevor jedoch darauf näher eingegangen wird, kondensiert sich das Gattungsschema ‚Lyrik‘ entsprechend der Aspekte in (proto-)typischen Erwartungen, wie sie Petzold am Ende des dritten Kapitels in einem Schaubild zusammenfasst. Sie reichen von der Nebenordnung der Lyrik zum Drama und der Epik über markantes Druckbild und Kürze, dominant monologisches Sprechen, Reduktion des Dargestellten sowie Emotionalität und Betonung der Sprecherperspektive bis hin zur Er-wartung und Toleranz von Schwierigkeit im Leseprozess, grammatikalischer Abweichung sowie lautlicher Überstrukturierung und Fokus-sierung auf das Sprachmaterial (vgl. 135). Leider bricht das Kapitel mitten im Satz ab, wodurch die Zusammenfassung unabgeschlossen bleibt. Methodisch bedeutet der Zugang zu solchen Gattungsschemata über prototypische Merkmalskomplexionen bzw. Lesererwartungen, dass man sich nicht auf historische Diskussionen und Beschreibungen oder metapoetische und/ oder intertextuelle Verfahren des kritischen Gattungsbezugs stützt, sondern auf statistische Verfahren. Diese fragen auch nicht nach den Brüchen oder prägenden Texten, sondern nach einer Art Mittelmaß und common sense. Denn für Typizität ist ent-scheidend, was zu bestimmten Zeiten als breiter Erwartungshorizont bei Rezipienten gelten konnte. Zumindest konstruiert Petzold die Methodik so. Als Basis dienen ihm neben statistischen Erhebungen unter verschiedenen Studentengruppen vor allem drei Anthologien, die Repräsentativität garantieren sollen, auch weil sie über akademisch orientierte Segmente hinausreichen. Völlig plausibel und erwartbar ist die Inklusion von Palgraves Golden Treasury und ihren Neuauflagen, deren tendenziöse Selektionskriterien abgesehen von der Nichtberücksichtigung narrativer und längerer Gedichte, die ganz im Interesse der Petzoldschen Lyrikdefinition sind, aber leider nur sehr knapp etwa hinsichtlich der Exklusion John Donnes in Fußnoten angedeutet werden. Überraschender sind die beiden anderen Anthologien, die jedoch in der Tat auf breiten gesellschaftlichen Konsens zielen und somit belegen wollen, was man gemeinhin unter Lyrik versteht (bereits bezüglich des Begriffsgebrauchs argumentiert Petzold mit gemeinsprachlicher Verwendung, vgl. 15). Es handelt sich um Bücher, die sich der verkaufsstrategischen Tendenz zum Ranking und zur vermeintlich partizipativen Selbstversicherung der Kanonbildung bedienen: die vom Radiosender Classic FM herausgegebene Anthologie One Hundred Favourite Poems und den Band The Top 500 Poems von William Harmon, bei denen man etwa im ersten Fall, der auf Hörerumfragen basiert, natürlich bereits nach Zielgruppen und Partizipations- und statistischen Ermittlungsverfahren fragen kann. Diese Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 2 191 wurden, wie Petzold in einer Fußnote zugesteht, auch ihm nicht offen gelegt (81). Harmons Buch richtet sich wiederum nach einem Index der am häufigsten anthologisierten Gedichte. Dass dies jeweils zur Selbstperpetuierung eines Kanons führt, der auf diese Weise eigentlich kaum noch befragt werden kann, ist nur die eine Seite. Typizität stellt sich jedoch als eine Kategorie der fast schon klischeehaften Verfestigung einer bestimmten Vorstellung von Lyrik heraus. Diese folgt im Wesentlichen den spätromantisch und viktorianisch gefilterten Vorlieben und Befindlichkeiten, die in ihrer Wirkmächtigkeit ein Gattungsverständnis und eine common sense-geprägte Sensibilität nach ganz bestimmten Parametern dessen einüben, was Subjektivität und die damit einhergehenden Wertvorstellungen betrifft. Diese Probleme verweisen nicht zuletzt auch auf eine methodische Grundfrage des Buches insgesamt. Denn obgleich Petzold in seiner Darstellung gattungsspezifischer Erwartungen eine Transhistorizität anstrebt, die durch die lange Tradition des Nachdenkens über die Gattung ‚Lyrik‘ ratifiziert wird, scheint seine nicht weiter begründete Dringlichkeit in der Fokussierung und Differenzierung der Lyrik im engeren Sinne gegenüber Dichtung im Allgemeinen just Prämissen zu entsprechen, wie sie sich vor allem in Palgraves Anthologie und ihren Präferenzen kondensieren. Ein entscheidendes Kriterium sowohl für die Unterscheidung lyrischer Dichtung von Dichtung allgemein als auch für die typologisch ausdifferenzierende Beschreibung der Lyrik sind für Petzold zu Recht die je unterschiedlich ausgearbeiteten Sprechsituationen. Über diese ist, entgegen Cullers Bedenken, ein kognitiver und auch didaktischer erster Zugang zu Gedichten wesentlich erleichtert, lassen sich doch daran bereits entscheidende Strukturierungen und Aussagemodalitäten ab-lesen, die sich zugleich mehr oder weniger illusionsstiftend über mentales Modellieren auf den Horizont des Lesers projizieren lassen. Ganz im Sinne dieser mentalen Modellierung legt Petzold nach der grundsätz-lichen Unterscheidung von fünf narratologischen Ebenen nach Nünning, die er allerdings für die Sprechsituationsanalyse im Wesentlichen auf drei Sphären (primäre Sprechinstanz, sekundäre Sprechinstanz, Gedichttext) reduziert (vgl. 142 f.), große Aufmerksamkeit auf die ebenfalls aus der Narratologie übernommenen Grundunterscheidungen zwischen primärer und sekundärer Sprechinstanz einerseits sowie andererseits zwischen Sprech- und Wahrnehmungsinstanz und deren Beziehung zum Sprechgegenstand. Während der Aufwand für die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Sprechinstanz durchaus übertrieben erscheint, stellt die sekundäre Sprechinstanz doch einen Teil der von der primären Sprechsituation aufgerufenen fiktiven Welt dar, birgt die Differenzierung in Sprech- und Wahrnehmungsinstanz verschiedene Möglichkeiten der Sensibilisierung für die Konstruktion und Bewertung des Sprechgegenstands. Besonders hilfreich sind Petzolds detaillierte und intensive Ausführungen zur relativen Sprecherpräsenz. Hier zeichnet er verschiedene Verfahren der expliziten, aber vor allem auch impliziten Sprechersituierung nach, die über die bloße Deixis weit hinausgehen und den Blick für die raum-zeitlichen wie auch emotionalen oder wahrnehmungslogischen Positionierungen und Markierungen schärfen. So wird neben der anregenden Übertragung des narratologischen Fokalisierungsbegriffs auf Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 2 192 die Sprechsituationen der Lyrik auch ungewöhnliche Metaphorik als Anzeichen einer Sprecherpräsenz stark gemacht. Allerdings findet dort, wie Petzold auch anmerkt, eine Kollision zweier textueller Ebenen statt. Zu fragen ist nämlich, ob diese Metaphorik auf den Sprecher zurückzuführen ist oder auf das Gedicht. Ähnliche Zweifel betreffen Instanzen der ironischen Distanzierung des Textes von der Sprechinstanz oder grundsätzlich der Verschleierung der Sprechinstanz. Zwar geht Petzold vielfach auf diese Probleme ein, doch zeigt sich hier ein grundlegender methodischer Nachteil, der unter anderem die Kritik Cullers wieder ins Spiel bringt. Denn so sinnvoll der narratologisch geprägte Zugang über mentales Modellieren imaginär auszuarbeitender Sprechsituationen für einen Einstieg in Lyrik gerade auch für unerfahrenere Gedichtleser und Studienanfänger ist, scheint er doch einem Mimetismus unterworfen, der der Komplexität poetischer Textualität kaum gerecht wird. Dies zeigt sich nicht zuletzt am Problem des Verhältnisses der unterschiedlichen textuellen Ebenen zueinander. Während etwa Horst Weich bereits in seiner Arbeit zu Parisgedichten der Moderne (1998) ein Modell für die Analyse poetischer Sprechsituationen entwickelt hat, das diese ganz wesentlich in ein Verhältnis zu den anderen poetischen Ausdrucksebenen stellt, und Mahler (2006) ebenso in seinem pragmasemiotischen Ansatz von einer Textkonstitution ausgeht, die von dem komplexen Zusammenspiel der nur analytisch zu trennenden Ebenen bedingt ist, liegt Petzolds Hauptaugenmerk vorrangig auf der Sprechersituierung und damit auf einer binnenfiktional-mimetischen Kategorie, wobei weder Mahler noch Weich erwähnt werden. Darüber hinaus ist es wohl hauptsächlich dem typologischen Ansatz geschuldet, dass die kurzen Beispielanalysen Petzolds in erster Linie auf das Aufspüren unterschiedlicher Grade der Markiertheit einer fiktionalen Sprechsituation ausgerichtet sind. Dabei wäre es vor allem im Rahmen zu historisierender Poetiken interessant, sich über die Funktion mehr oder weniger ausgearbeiteter Sprechsituationen einerseits Gedanken zu machen und dadurch womöglich auf Erkenntnisse hinsichtlich der Konzeptualisierung von Subjektivität, der Macht der Sprache oder unterschiedlichen epistemologisch bedingten Weltkonstitutionen andererseits abzuzielen. Für diese wäre etwa die gezielte Unmarkiertheit einer konkreten Sprechsituation von großer Bedeutung. Zwar fielen derartige Texte womöglich nicht mehr in den engeren Bereich der Lyrik, doch scheint sich hier eben ein weitgehend zirkuläres Argument zu schließen, was man wiederum über die historische Differenzierung zwischen Lyrik im engeren und Dichtung im weiteren Sinne aufgreifen könnte. Der letzte Teil des Buches, die Fallstudie, scheint in gewisser Hinsicht genau darauf abzuzielen, insofern hier die Frage der Histori-sierung im Raum steht. Anhand von Palgraves Golden Treasury untersucht Petzold, ob sich die lyrischen Sprechsituationen über die in der Anthologie abgedeckten Zeiträume wesentlich verändert haben. Wieder geht er dabei überaus statistisch vor, indem er für einzelne Epochen besonders typische Gedichte über die Nähe zu den quantitativen Durchschnittswerten auswählt, die sich nach Länge der Gedichte und Häufigkeit der Sprecher- und Adressatenmarkierungen richten. Auf diese Weise kommt er zu dem Befund, dass die Häufigkeit der Sprecher- und Adressatenmarkierungen sich historisch zwar durchaus ändert und dies Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 2 193 auch Ausdruck korrespondierender historischer Entwicklungen ist, die sehr schematisch skizziert werden. Im Wesentlichen bleiben die Verfahren der Sprechsituationskonstitution jedoch stabil. Es ändern sich, laut Petzold, lediglich die „literarische[n] und poetische[n] Moden, insbesondere was die rhetorische Ausgestaltung eines Gedichts betrifft“ (272). Bereits, dass hier über Rhetorik und poetische Ausdrucksformen in der Oberflächlichkeit der Moden gesprochen wird, geht entscheidend an wesentlichen Forschungserkenntnissen der letzten Jahrzehnte vorbei, die immer wieder die Rolle der Sprache in Bezug auf epistemische Formationen betonen. Doch dazu bedarf es letztlich auch eingehenderer Analysen als Petzold sie hier typologisch liefern kann. Diese beträfen dann zunächst vor allem jenes Verhältnis von Sprechinstanz zu Sprechgegenstand, das Petzold zwar mit Blick auf die Wichtigkeit der Textebene als Konterkarierung der Ebene der binnenfiktionalen Sprechsituation ausweist, deren grundlegende Bedeutsamkeit für etwa historisch-episte mologische Belange aber nicht einmal angedeutet wird. Denn was bedeutet es etwa, wenn Sprechsituationen bereits dadurch extrem instabil werden, dass die Möglichkeit einer ironischen Distanzierung in den Text eingeschrieben wird? Dergleichen Phänomene sind aber gerade nicht über Verfahren zu beschreiben, die statistisch zu ermitteln wären, sondern sind stark von historischen Kontexten und beispiels-weise der Art und Weise abhängig, wie die Wirkmächtigkeit von Sprache gedacht wurde. Leider wird dafür bei Petzold keinerlei Sensibilisierung geschaffen. Stattdessen werden etwa im systematischen Teil zur Sprechsituations-typologie immer wieder Beispiele angeführt, ohne sie auch nur kurz in irgendeiner Form zu situieren und dadurch ein differenzierteres Nachdenken über eine für die Petzoldsche Lyrikde-finition so entscheidende Kategorie wie Subjektivität und Individualität zu ermöglichen. Ein romantisches Gedicht und ein frühneuzeitlicher Text mit statistisch ähnlichen Werten hinsichtlich der Sprechermarkierung können nämlich deshalb noch nicht als auf gleiche Weise die lyrische Selbstaussprache propagierend behandelt werden, weil sie unterschiedlichen Konventionen der rhetorisch völlig anders gedachten Verfahren der Sprecherkonstitution folgen. Da dies auf der reinen Sprachoberfläche natürlich nicht sofort ersichtlich ist, sind Petzolds Analysemethoden gerade für die Einführung in die Lyrikanalyse, auf die das Buch im Wesentlichen zu zielen scheint und für die es sonst gute Ansätze bietet, durchaus gefährlich. Um dagegen die systematischen Typologisierungskriterien historisch fruchtbar zu machen, müsste man gerade auf die Übergänge zwischen den analytischen Ausdrucksebenen des Textes achten, auf das Verhältnis ihrer gegenseitigen dynamischen Konstituierung, die dann auch die Kritik Cullers an der Sprechsitua-tionsanalyse produktiv integrieren könnte, statt sie mehr oder weniger auszublenden. Denn dabei käme man zu solch grundlegenden Fragen wie der nach der Rolle, die die mimetisch zu denkende binnenfiktionale Sprechsituation für das jeweilige Gedicht überhaupt spielt und in welchem Verhältnis zu den anderen Ausdrucksebenen sie steht. Wie Sprechsituation, besprochene Situation und Gedichttext interagieren und sich gegenseitig sowohl konstituieren als auch problematisieren, wird in Petzolds typologischem Ansatz letztlich ebenso wenig greifbar wie die historisch- - Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 2 194 epistemologischen Unterschiede, die sich daraus ableiten ließen und auf jene Phänomene verweisen könnten, die ein Gedicht jenseits der Mimesis an die vermeintliche Emotionalität der Sprechsituation leisten könnte. Allerdings begäbe man sich mit solchen Erkenntnisinteressen auch durchaus in Gebiete, die womöglich nicht mehr der typischen Lyrikrezeption entsprechen. Literatur Culler, Jonathan (2008). “Why Lyric? ”. PMLA 123/ 1. 201-206. Gumbrecht, Hans Ulrich (1988). „Rhythmus und Sinn“. In: Ders./ K. Ludwig Pfeiffer (Eds.). Materialität der Kommunikation. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. 714-729. Jackson, Virginia & Yopie Prins (1999). “Lyrical Studies”. Victorian Literature and Culture 27/ 2. 521-530. Lamping, Dieter ( 2 1993). Das lyrische Gedicht: Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mahler, Andreas (2006). “Towards a Pragmasemiotics of Poetry”. Poetica 38/ 3-4. 217-257. Müller-Zettelmann, Eva (2000). Lyrik und Metalyrik: Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst. Heidelberg: Winter. Nünning, Ansgar (1989). Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung: Die Funktion der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots. Trier: WVT. Weich, Horst (1998). Paris en vers: Aspekte der Beschreibung und semantischen Fixierung von Paris in der französischen Lyrik der Moderne. Stuttgart: Steiner. Wolf, Werner (2005). “The Lyric: Problems of Definition and a Proposal for Reconceptualisation”. In: Müller-Zettelmann, Eva & Margarete Rubik (Eds.). Theory into Poetry: New Approaches to the Lyric. Amsterdam: Rodopi. 21-56. André Otto Institut für Englische Philologie Freie Universität Berlin