eJournals lendemains 33/132

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Narr Verlag Tübingen
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2008
33132

Ch. Jérusalem: Jean Echenoz

2008
Christian v. Tschilschke
ldm331320165
165 Comptes rendus CHRISTINE JERUSALEM: JEAN ECHENOZ: GEOGRAPHIES DU VIDE. PARIS, 2005 Spätestens seit der Verleihung des Prix Goncourt im Jahr 1999, die das Interesse des Publikums und der Literaturkritik noch einmal sprunghaft ansteigen ließ, darf Jean Echenoz als Klassiker der französischen Gegenwartsliteratur gelten. Nach Jean- Claude Lebruns essayistischer Annäherung an das Werk von Echenoz aus dem Jahr 1992 und nach einer ganzen Reihe von Arbeiten, die Echenoz zusammen mit anderen Autoren - je nach Sichtweise des Verfassers - als Vertreter eines minimalistischen, ambivalenten, ironisch-spielerischen, neobzw. hyperrealistischen, inauthentischen, postmodernen oder postliterarischen Erzählens präsentieren, ist Christine Jérusalems Buch die erste Veröffentlichung - wenn auch nicht die erste Dissertation -, die sich ausschließlich Echenoz widmet. Durch die verhältnismäßig späte Publikation der Arbeit - die zugrunde liegende Dissertation wurde bereits im Jahr 2000 verteidigt - erklärt sich auch, dass Echenoz’ Romane nur bis zu Je m’en vais (1999) Berücksichtigung finden und Au piano (2003) nicht mehr erwähnt wird. Das Erscheinungsdatum suggeriert damit eine Aktualität gegenüber früheren Veröffentlichungen, die der Band nicht wirklich besitzt - was an der Qualität seiner Aussagen zu den bis 1999 von Echenoz veröffentlichten Texten indessen nichts ändert. Christine Jérusalem, die am Universitätsinstitut für Lehrerausbildung (IUFM) in Lyon unterrichtet, ist sicherlich eine der besten Kennerinnen des Werks von Echenoz überhaupt. Ein Resultat dieser Vertrautheit ist offenbar auch die in ihrer Arbeit zu beobachtende Tendenz, den Selbstauskünften des Autors in Interviews und Briefen oberste Autorität einzuräumen. Von einer Äußerung des Autors sind dann auch der Titel, Géographies du vide, und der thematische Fokus der Arbeit, die Verknüpfung von Raum- und Referenzproblematik, inspiriert. In einem Interview mit der Zeitung Libération hatte Echenoz einmal erklärt: „J’écris des romans géographiques, comme d’autres écrivent des romans historiques.“ An sich liegt es nahe, das Werk von Echenoz im Hinblick auf die Kategorie des Raums zu untersuchen. Welche Bedeutung Echenoz selbst dem Raum beimisst, lässt sich ja bereits an den Titeln seiner Texte ablesen, angefangen mit Le méridien de Greenwich (1979) über L’équipée malaise (1986), L’occupation des sols (1988) und Lac (1989) bis hin zu den kurzen essayistischen Texten „Le sens du portail“ (1989) und „Souvenirs du triangle“ (1997). Dabei scheint Echenoz’ Privilegierung des Raums in ähnlicher Weise mit der postmodernen Abkehr von einer dominant zeitorientierten Moderne in Verbindung zu stehen wie Jérusalems Themenwahl mit der sich seit einigen Jahren in den Kultur- und Sozialwissenschaften abzeichnenden Hinwendung zu räumlich-geographischen Kategorien. Allerdings darf man sich von Jérusalem keinen stringenten, theoretisch fundierten Beitrag zur Analyse des literarischen Raums im Allgemeinen und bei Echenoz im Besonderen erwarten. Vielmehr dient ihr der Begriff „géographie“ als Universalmetapher und thematische Klammer für eine umfassende Analyse des Gesamtwerks von Echenoz, die vieles von dem, was bereits - nicht zuletzt von ihm selbst - über seine Werke gesagt wurde, aufgreift, neu ordnet und um eigene Beobachtungen und Beispiele ergänzt - und sich dabei teilweise sehr weit von räumlichen Bezügen im engeren Sinne entfernt. Jérusalem schätzt die topographische Metaphorik vor allem wegen ihres heuristischen Potenzials (10). Im Anschluss an Philippe Hamon beschreibt sie ihr Vorhaben als „poétique des sites“ (11). Die literarischen und ideologischen Merkmale des Werks gelten ihr als Konstituenten eines Spannungsfeldes, das in letzter Instanz von 166 Comptes rendus den Polen „déconstruction“ und „réconstruction“ beherrscht wird, deren Zusammenspiel sich ihr wiederum als Symptom einer soziologisch wie literaturgeschichtlich verstandenen „condition postmoderne“ darstellt (229f.). Auch die Gliederung der in sechs große Kapitel eingeteilten Arbeit folgt diesem raumorientierten Konzept, denn sie richtet sich ausschließlich nach thematischen Gesichtspunkten und verzichtet darauf, die Werke in ihrem zeitlichen Nacheinander zu präsentieren, eine Vorgehensweise, durch die nicht zuletzt die von der Verfasserin immer wieder betonte Kohärenz des Werks von Echenoz unterstrichen wird. Die Argumentation beschreibt dabei einen Bogen, der vom „roman géographique“, der literarischen Repräsentation einer vornehmlich unter räumlichen Aspekten wahrgenommenen Wirklichkeit, zur „géographie du roman“, der Entfaltung eines rein textuellen Raums, führt. Wie eng diese beiden Aspekte in den Romanen von Echenoz beieinander liegen, verdeutlicht bereits das erste Kapitel. Jérusalem zeigt darin, wie sich die von Echenoz dargestellten Orte und Landschaften, die Schauplätze der zumeist rast- und ziellosen Bewegungen der Figuren, als Produkte einer „écriture seconde“ erweisen, die sich zu großen Teilen aus dem Gedächtnisraum der Literatur speist. Der Reichtum der intertextuellen Bezüge, die Vielfalt der Genreanleihen und der lustvolle Umgang mit Klischees sorgen dafür, dass aus Topologie Typologie wird (48). Unterstützt wird dieser Effekt durch verschiedene textuelle Distanzierungsstrategien, deren Leistung zum einen darauf beruht, die für Echenoz’ Erzählen typische Spielhaltung zu erzeugen, und zum anderen, den im Titel der Arbeit genannten Eindruck der referenziellen „Leere“ hervorzubringen. Im Unterschied zu vielen anderen Interpreten, die es dabei bewenden lassen, die unhintergehbare Ironie von Echenoz’ Schreibweise zu konstatieren, betont Jérusalem jedoch, wie sehr die phantastischen, unsinnigen und albernen Züge seiner Prosa an die vom Intellekt verdrängten Ansprüche einer naiv-kindlichen, im Grunde aber genuin romanesken Lektüre rühren. Jérusalem scheut sich nicht, für diese Neigung auch biographische Erklärungen zu bemühen, indem sie den Kindheitslektüren des Autors eine „dimension matricielle“ (196) zugesteht. Dabei insistiert sie vor allem auf dem überragenden Einfluss von Robert Louis Stevensons Roman The Master of Ballantrae, den sie als imaginativen Kern des gesamten Werks von Echenoz bezeichnet (69). Im folgenden zweiten Kapitel setzt sich Jérusalem unter anderem mit der zentralen Frage auseinander, wie sich die für Echenoz typische Exaktheit der topographischen Details mit dem Simulationscharakter und der unabweisbaren Künstlichkeit verbindet, von denen die literarische Darstellung durchgehend geprägt ist. „Réalisme irréel“ (68) lautet die Formel, die sie zur Beschreibung dieses Paradoxes anbietet. Fortgesetzt werden diese Überlegungen im dritten Kapitel, in dem Jérusalem hauptsächlich der auf allen Textebenen greifbaren Beziehung zum Kino nachgeht, wobei sie zu dem Schluss kommt, dass Echenoz’ filmische Rhetorik letztlich der Hervorhebung der „subtilités de l’écriture“ (99) dient. Eine größere Nähe zur Raumthematik weist dann wieder das vierte Kapitel auf, das dem Zusammenhang zwischen Raum und Leere gewidmet ist und insbesondere Echenoz’ Vorliebe für Vorstädte, Autobahnen, Baustellen usw., also für die von Marc Augé so genannten „non-lieux“, in den Mittelpunkt rückt. Die soziologische und existenzielle Bedeutung, die sich dieser Topik abgewinnen lässt, klingt auch im fünften Kapitel an, das sich mit der Figurendarstellung und der sich in ihr manifestierenden Entleerung und Auflösung des „modernen Subjekts“ beschäftigt. Im letzten Kapitel wendet sich Jérusalem vom „espace référentiel“ ab und konzentriert 167 Comptes rendus sich ganz auf den „espace textuel“ (193), den sie in erster Linie durch Fragmentierung und Diskontinuität gekennzeichnet sieht. Jérusalems Studie eröffnet keine grundsätzlich neuen Perspektiven auf das Werk von Echenoz. Dafür entfernt sie sich zu wenig von den Texten, und dafür geht sie nicht weit genug bei der Einordnung und Kontextualisierung der Ergebnisse. Auch das durchaus viel versprechende Raumkonzept bleibt letztlich zu vage und metaphorisch. Als fundierte poetologische Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk von Echenoz besitzt die Arbeit gleichwohl ihren Wert. Ihre Stärken liegen vor allem im Detail: in der Vielfalt der behandelten Aspekte, in der Überzeugungskraft ihrer Beispielanalysen und in der Gründlichkeit, mit der Motivketten verfolgt und intertextuelle Bezüge aufgedeckt werden. Christian v. Tschilschke (Regensburg) PATRICK WALD LASOWSKI (ED.): ROMANCIERS LIBERTINS DU XVIIIE SIECLE. 2 BDE. BD. I, PARIS, BIBLIOTHEQUE DE LA PLEIADE, GALLIMARD, 2000, 1343 S.; BD. II, 2005, 1668 S. MICHEL DELON: LE SAVOIR-VIVRE LIBERTIN. PARIS, HACHETTE, 2000, 348 S. Wer sich vor fünfzehn Jahren mit dem roman libertin beschäftigen oder einzelne der höchst heterogenen, unter diesem Begriff zusammengefaßten Werke lesen wollte, war dankbar, daß Fayard zwischen 1984 und 1988 immerhin sieben Bände aus dem kurz zuvor geöffneten Enfer de la Bibliothèque Nationale publiziert hatte. In den 90ern erschienen dann viele Romane und Romänchen, 1993 der verdienstvolle Sammelband Romans libertins du XVIII e siècle, ein Dutzend Texte herausgegeben von Raymond Trousson (Bouquins, Robert Laffont). Gleichzeitig haben die Arbeiten von Robert Darnton aufgezeigt, welch wesentlichen Anteil der literarische Untergrund und die ebenfalls als „livres philosophiques“ bezeichneten Erotika an der Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts hatten. Inzwischen ist auch der Marquis de Sade in die Reihe der Pléiade-Autoren aufgenommen (Ed. Michel Delon) und Crébillon fils zum Thema der agrégaton auserkoren worden. Da ist es gewissermaßen eine logische Konsequenz, daß nun den unbekannteren Romanciers libertins du XVIII e siècle in der Bibliothèque de la Pléiade zwei Bände gewidmet wurden, von denen im Jahre 2000 derjenige zur ersten Jahrhunderthälfte erschienen ist und nun auch der zweite mit Werken von 1750 bis 1800. Der Herausgeber, Patrick Wald Lasowski, hat bereits in den 80er Jahren Essays über die Libertines, die Syphilis sowie über L’ardeur et la galanterie verfaßt. Hier setzt er sich einleitend erst mit dem Begriff der „libertinage“ in seiner historischen Entwicklung auseinander, dann mit der Gattung des „roman libertin“, um mit einigen Ausführungen über die Produktion und Verbreitung klandestiner Literatur sowie über die Zensur zu schließen. Dabei greift er weitgehend auf bereits vorliegende Forschungsergebnisse zurück, so daß der eingeweihte Leser wenig Neues erfährt, doch liefert diese Préface viele Informationen mit klugen Gedanken (so wird die Gattung des Romans als „essentiellement libertin“ bezeichnet) in einem dem Sujet durchaus angemessenen Stil. Sehr hilfreich ist am Ende des zweiten Bandes die Zusammenstellung von mehr als vierzig Definitionen der Begriffe „libertin/ libertinage“ aus Wörterbüchern und Nach-