eJournals lendemains 34/134-135

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Narr Verlag Tübingen
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2009
34134-135

Jürgen Grimm (1935-2009)

2009
Wolfgang Asholt
ldm34134-1350286
286 Wolfgang Asholt Jürgen Grimm (1935-2009) Am 20. Januar 2009 starb der Münsteraner Romanist Jürgen Grimm nach kurzer und schwerer Krankheit im Alter von 74 Jahren. Jürgen Grimm vertrat von 1974 bis 2000 den Lehrstuhl für Romanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der französischen Literatur und arbeitete nach seiner Emeritierung in Lehre und Forschung weiter; ein Leben ohne Universität war für ihn unvorstellbar. Bei meinem letzten Besuch, wenige Tage vor seinem Tode, überreichte mir Jürgen Grimm das soeben erschienene Jahrbuch 2008 des Theaters über Tage, das er mit Roland Ißler fertig gestellt hatte, kurz zuvor hatte er mir die Neuauflage seines La Fontaine bei Reclam gesandt. Damit ist Jürgen Grimm in dreifacher Hinsicht charakterisiert: mit seinen Arbeitsschwerpunkten im Jahrhundert der französischen Klassik, insbesondere La Fontaine und Molière, mit der Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, insbesondere dem Theater, und mit einem protestantischen Ethos, das kaum Arbeitspausen zuließ, und dem erst der Tod ein Ende setzte. Das Theater-Jahrbuch des vergangenen Jahres wurde so zu einer letzten Freundschaftsgabe. Sie wird mir den „homme de théâtre“, wie er in einer der ihm gewidmeten Festschriften apostrophiert wird, unvergessen bleiben lassen. Denn das Theater war seit vielen Jahren zu einem Teil seiner Lebenswelt geworden. Freilich ist der „homme de théâtre“ nicht seine einzige und erste Rolle auf der Bühne der universitären Welt. Als er vor mehr als 10 Jahren in Münster eine doppelte Ehrendoktorwürde für den Académicien Marc Fumaroli und den so wie er viel zu früh verstorbenen Michel Décaudin in die Wege leitete, portraitierte er mit dieser Wahl auch sich selbst. Marc Fumaroli steht für das geliebte und intensiv erforschte „siècle classique“, und Michel Décaudin für die französische Literatur zwischen der Krise der Moderne und den Avantgarden; diesen beiden Schwerpunkten ist Jürgen Grimm über Jahrzehnte hinweg treu geblieben. Seit den späten 1980er Jahren trat der „homme de théâtre“ in den Vordergrund, ohne dass deshalb das ursprüngliche Repertoire vergessen worden wäre. Damit hatte Jürgen Grimm seine drei Hauptrollen gefunden, und zugleich verwirklichte er das sich selbst gesetzte Programm, das schon der Titel der ihm zum 60. Geburtstag von Freunden und Schülerinnen gewidmeten Festschrift zitiert: Diversité, c’est ma devise. Jürgen Grimm zählte mit anderen Kollegen seiner Generation zu den Romanisten, die mit Münster identifiziert wurden und dem Romanischen Seminar Anerkennung und Ansehen verschafften. Denn Jürgen Grimm war nicht nur ein ausgesprochen produktiver und passionierter Literaturwissenschaftler, er engagierte sich auch permanent und konsequent: schon als Akademischer und später Wissenschaftlicher Rat setzte er sich in seiner Freiburger Zeit für Reformen ein, in Münster versuchte er (ohne Erfolg), innovative romanistische Studiengänge einzurichten 287 und er unternahm den bislang letzten Versuch, die miteinander konkurrierenden Fachverbände der Romanistik (wieder) zu vereinigen: dass ihm dies nicht gelungen ist (vielleicht auch nicht gelingen konnte), hat er zutiefst bedauert. Als Präsident des Deutschen Romanistenverbandes (von 1993 bis 1997) und anschließend des Romanistischen Dachverbandes organisierte er 1995 den Romanistentag in Münster und, vielleicht noch wichtiger, Romania I in Jena 1997, den bislang einzigen Kongress aller romanistischen Verbände. Dabei zeichneten ihn planerische Weitsicht genauso aus wie Kontinuität und Hartnäckigkeit in der Sache. Sachbezogene Arbeit und sachbegründete Deutlichkeit wurden zum Markenzeichen Jürgen Grimms, was ihm bei Kollegen nicht immer Beliebtheit, aber Respekt eintrug, und womit er bei Studenten stets großen Erfolg hatte. Sein letztes Seminar hat er im Sommersemester 2008 gehalten und trotz des Wissens um seine Krankheit zu Ende geführt. Eine wohldokumentierte, gründliche, historisch-kritische und philologisch stets solide Arbeit zeichnet seine Werke aus, und nach den bei Hugo Friedrich entstandenen Freiburger Qualifikationsschriften der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kann er sich seit Mitte der 1970er Jahre in Münster rasch entfalten. Trotz seiner akademischen Herkunft wird für ihn die gesellschaftlich-historische Perspektive der Literatur immer wichtiger und seine Veröffentlichungen dokumentieren dies immer deutlicher. So etwa die zu Beginn der Münsteraner Zeit in weniger als zwei Jahren erscheinenden La Fontaines Fabeln bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, die mit Frank-Rutger Hausmann und Christoph Miething verfasste Einführung in die französische Literaturwissenschaft bei Metzler und eine Roger Vitrac-Monographie bei Fink. In den 1980er Jahren folgen dann Das avantgardistische Theater Frankreichs bei Beck, ein Molière bei Metzler, La Fontaines Fabeln bei Reclam und 1989 erstmals die Französische Literaturgeschichte bei Metzler, die 2006 in der 5. Auflage erscheint und bei Studenten als „der Grimm“ bekannt und beliebt ist. Es würde zu weit führen, alle weiteren Arbeiten, etwa zu La Fontaine, Molière oder Apollinaire zu erwähnen. Jürgen Grimm arbeitete auch nach dem Ruhestand im gleichen Rhythmus weiter, noch 2006 veröffentlichte er ein Lehrbuch der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts bei Metzler, welches trotz seines Titels das traditionelle Bild der Französischen Klassik infrage stellt und die „diversité“ dieser Epoche hervorhebt. Dank der Französischen Literaturgeschichte, mit einer Auflage von mehr als 30.000 Exemplaren, gehört Jürgen Grimm zu den wirksamsten Romanisten der letzten Jahrzehnte, und angesichts der mit den Bachelor- und Masterstudiengängen einhergehenden Verschulung und Nivellierung wird dieses Werk, das einen profunden Überblick der französischen Literatur von ihren Ursprüngen bis heute auf mehr als 500 Seiten bietet, vielleicht ein letztes Monument solcher Dimensionen sein. Die „Theatromanie“ blieb keine Privatangelegenheit, sie veranlaßte ihn, begleitet vom Engagement für das TüT-Jahrbuch, auch seine Lehre zu erweitern. Die Theaterseminare, die er jedes Semester anbot, waren mit einem intensiven Exkursions- 288 programm zu den Bühnen der näheren und weiteren Umgebung verbunden, zudem führte er regelmäßig einwöchige Theaterexkursionen nach Paris durch. Nach dem Vorlauf der von ihm mitherausgegebenen Bände des Theaters im Revier (1997 und 1998) wurde das Theater über Tage-Jahrbuch seit dem ersten Band im Jahre 2001 zu einem Teil des Lebens von Jürgen Grimm. TüT führte dazu, dass er wöchentlich mehrmals nach Dortmund, Essen, Mühlheim, Duisburg oder Recklinghausen und Marl fuhr, um Stücke zu sehen und ihre Kritikwürdigkeit für TüT zu testen. Damit wurde er im wörtlichen Sinne zum „homme de théâtre“. Eines der schönsten Geschenke für Jürgen Grimm war, dass er das Erscheinen des TüT-Jahrbuchs 2008 noch erleben konnte und das gilt auch für die Neuauflage seines La Fontaine bei Reclam. Eigentlich für Februar 2009 geplant, wollte es eine glückliche Fügung, dass er auch diesen Band zu Weihnachten in den Händen halten konnte. Wie es um dieses Erbe in zehn oder zwanzig Jahren bestellt sein mag, was über die Zeit hinausgeht, ist heute wohl schwerer zu sagen als je zuvor. In jedem Falle hat Jürgen Grimm sein wissenschaftliches Haus solide gebaut, seinen Garten gut und unablässig bestellt und seine Bäume bis in die letzten Tage seines Lebens gepflanzt: kann man mehr verlangen? Bei seiner Trauerfeier habe ich eines seiner Lieblingsgedichte zitiert, mit dem ich auch diesen Nachruf beschließen möchte, „L’Adieu“ von Guillaume Apollinaire: J’ai cueilli ce brin de bruyère L’automne est morte souviens t’en Nous ne nous verrons plus sur terre Odeur du temps brin de bruyère Et souviens-toi que je t’attends