eJournals lendemains 34/134-135

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Narr Verlag Tübingen
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2009
34134-135

Chancen und Risiken des Bologna-Prozesses

2009
Gerda Haßler
ldm34134-1350188
188 Gerda Haßler Chancen und Risiken des Bologna-Prozesses Zum Bologna-Prozess lässt sich vieles sagen, was von seinen Gegnern als Argument für ihre Position gedeutet werden könnte. So könnte man die zahlreichen Dokumente, die seit der Erklärung der Bildungsminister europäischer Länder am 19. Juni 1999 erschienen sind, aufarbeiten und miteinander vergleichen. Dabei würden sich manche Widersprüche und Wendungen ergeben, deren Erklärung ich lieber den Spezialisten überlasse. Ich erlaube mir, meinen Beitrag aus persönlicher Sicht zu schreiben: Sechs Jahre lang, von 2001 bis 2006, war ich an der Gestaltung des Bologna-Prozesses an der Universität Potsdam beteiligt und trug sogar die Verantwortung dafür in meiner Funktion als Prorektorin für Lehre und Studium. Mir war dabei sehr wohl bewusst, dass die Universität durch den Bologna-Prozess eine andere werden würde. Obwohl ich die Perspektive dieser Veränderungen positiv sah, dachte ich in dieser Zeit fast täglich ganz bewusst einen imperativen Satz: „Vor allem nicht schaden“. Bewährtes sollte nicht zerstört werden, vor allem sollten die in den alten Studiengängen vorhandenen Möglichkeiten weiter genutzt werden und die Angehörigen der Hochschule (ich verstehe darunter Dozenten, Verwaltungspersonal und Studierende) sollten den Veränderungsprozess bewusst gestalten und nicht notgedrungen über sich ergehen lassen. Die Betrachtung des heutigen Zustands ist allerdings ernüchternd. Gerade für die Geisteswissenschaften überwiegen die Risiken des Bologna-Prozesses, denen sie wenig entgegenzusetzen haben. Teilweise sind bereits ganze Fächer dabei, ihre Identität aufzugeben und sich an ökonomische Maßstäbe anzupassen. Derartige Anpassungen sind in der Wissenschaftsgeschichte nicht neu und sie haben auch in der Vergangenheit zum Verschwinden bzw. zur kurzzeitigen Konjunktur bestimmter Fächer geführt. Doch wo liegen dabei die Chancen und Risiken für die Romanistik? Zunächst muss festgestellt werden, dass der Zustand der Universitäten im Allgemeinen und der Romanistik im Besonderen zu Beginn des Bologna-Prozesses tatsächlich in erheblichem Maße reformbedürftig war. Die romanistischen Studiengänge vermittelten für den Betrachter von außen den Eindruck geringer Effizienz: bei hohen Eingangszahlen der Studierenden blieben die Absolventenzahlen gering. Die Zahl von 18,6% an Absolventen bezogen auf die Studienanfänger im Magisterstudiengang an der Universität Potsdam musste natürlich Empörung bei Politikern und Vertretern der Wirtschaft hervorrufen. Wurde hier nicht verantwortungslos mit Ressourcen umgegangen und nicht zuletzt auch mit der Lebenszeit junger Menschen? Lehrten die Dozenten am Bedarf vorbei, zu wirklichkeitsfern oder möglicherweise sogar zu „theoretisch“? Derartige Fragen sind verständlich und auch nicht damit abzuweisen, dass die Absolventenquote in den meisten anderen Universitäten bei Magisterstudiengängen noch viel niedriger lag. Freilich gibt es viele gute Gründe für einen Studienabbruch, denn in zahlreichen Berufsfeldern kommt 189 es auf das Können und Wissen und nicht auf das Vorlegen eines Zeugnisses an. Schließlich führten wir auch Beispiele erfolgreich arbeitender Wissenschaftler an, die in der Anfangsphase ihres Studiums auch ein paar Semester Romanistik studiert hatten, jedoch niemals die Absicht hatten, dieses Studium auch abzuschließen. Dennoch ergab eine Analyse der Gründe für den Studienabbruch einige Tatsachen, die im alten System lagen und denen durch die Reform entgegengewirkt werden sollte: 1. Die Diskrepanz zwischen Erwartungen der Studierenden und der Realität des Studiums führte häufig zu Enttäuschungen und nicht selten zur Distanz zu den Inhalten des Studiums und zu Desinteresse. 2. Die Unübersichtlichkeit des Studiums ließ so manchen Studierenden den Faden verlieren und führte zur Resignation. 3. Schließlich war auch das Fehlen praktischer und berufsfeldbezogener Studienanteile ein Faktor, der Studierende aufgeben ließ. Wofür, für welche Tätigkeit nach dem Studium sollten sie ihre Zeit investieren? Realistischerweise kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit der Studierenden Interesse an der Forschung entwickelt oder ihr Studium als reinen Bildungserwerb betreibt. Natürlich müssen die hier in ihren negativen Konsequenzen festgestellten Tatsachen auch dialektisch betrachtet werden. Die positive Seite des wenig regulierten Studiums für motivierte und an ihrem Fach hochgradig interessierte Studierende ist seit langer Zeit erwiesen. Doch wenn nicht einmal ein Viertel der Studierenden davon wirklich profitiert, schien ein Umdenken notwendig zu sein. Als besonders problematisch erscheint mir nach wie vor ein Studienverständnis, bei dem die durchaus erwünschte individuelle Selektion exemplarischer Inhalte zu Lasten des Überblicks über das Fach in seiner Gesamtheit geht. Die Studierenden wählen Lehrveranstaltungen aus, die ihnen leicht fallen, und sie bereiten sich zu Prüfungsschwerpunkten vor, die Zusammenhänge und Methodenwissen ausblenden. Bis heute gibt es Studierende, die zum Staatsexamen in Französisch den Schwerpunkt „das Bretonische“ wählen und auf die Frage, mit welchen Schwerpunkten der französischen Sprachwissenschaft sie sich denn noch beschäftigt hätten, keine Antwort wissen. Das punktuelle Lernen für die Abschlussprüfung führte auch zu einer Dehnung der Studienzeit. Nachdem man viele Semester studiert hatte und „scheinfrei“ war, bereitete man sich anhand oft fragwürdiger Quellen auf möglichst ausgefallene Prüfungsthemen vor. Ich erinnere mich an eine Studentin, die nach Fehlgriffen in der Literaturauswahl eine äußerst schwache, auswendig gelernte Prüfungsleistung darbot. Als ich sie dann bat, einen einfachen Satz zu analysieren, antwortete sie mir wütend, das habe sie nicht als Schwerpunkt gewählt und das werde sie doch erst im Referendariat lernen. Da solche Fälle durchaus nicht einzeln auftraten, halte ich von dem Lob des ganzheitlichen Studiums, das in den alten Magister- und Staatsexamensstudiengängen betrieben worden sein soll, gar nichts. Zwar lernen die heutigen Bachelorstudierenden natürlich für die studienbegleitenden Prüfungen und es gibt keine Garantie für und keine Untersuchungen über die Nachhaltigkeit des kurzschrittig erworbenen Wissens. Dennoch müssen sie sich mit den als Kerninhalte definierten 190 Bestandteilen des Faches auseinandersetzen und wenigstens einmal eine Leistung dazu erbringen. Das Studium ist nicht mehr eine Technik zur Vermeidung von Schwierigkeiten, durch die bestimmte Gegenstände umgangen werden, weil sie voller Schwierigkeiten stecken und weil man an ihnen scheitern kann. Die Nutzung dieser Chance setzt natürlich eine Gestaltung von Studiengängen voraus, in denen die Module und ihre Inhalte nicht wieder der Beliebigkeit überlassen werden. Sieht man Module mit Bezeichnungen wie „Literaturwissenschaft 1“, „Literaturwissenschaft 2“, „Sprachwissenschaft 1“ usw. vor, zu denen beliebige Seminare zugeordnet werden können, wird man auch manchen Bachelor-Absolventen ohne die geringste Ahnung von französischer, spanischer oder italienischer Grammatik hervorbringen. Das heißt natürlich nicht, dass im Bachelorstudium keine Freiräume bestehen dürfen. Die freie Wahl der Lehrveranstaltungen muss jedoch auf soliden Kenntnissen aufbauen, sonst belügen wir uns selbst und unsere Studierenden. In der Einführung der zweistufigen Studiengänge sah ich von Anfang an eine Chance für ein besser organisiertes Studium. Unabhängig davon, ob diese Chance immer genutzt wurde, besteht sie in folgenden Faktoren: 1. Durch das Eingehen auf die Eingangsvoraussetzungen und Erwartungen der Studierenden könnte eine positive Entwicklung eingeleitet werden. Die Bachelorstudiengänge ermöglichen es, durch den Einsatz von Tutoren und durch kleinere Gruppen in den Lehrveranstaltungen auf die erheblichen Differenzen in den Eingangsvoraussetzungen der Studierenden Rücksicht zu nehmen. Die Differenz im sprachlichen Niveau der Studienanfänger hat sich in den letzten Jahren vergrößert. So gibt es in zunehmendem Maße Muttersprachler oder Studierende mit fast muttersprachlichem Niveau und andererseits eine nicht geringe Anzahl von Null- Anfängern in Spanisch und Italienisch, die in Propädeutika zunächst das Niveau B2 nach dem europäischen Referenzrahmen erwerben müssen. Erhebliche Differenzen gibt es auch in der Lesefähigkeit der Studierenden. Zunehmend studieren auch junge Menschen, denen das Lesen keinen Spaß macht, ein philologisches Fach, während andere die Literaturliste bereits zu Beginn des Studiums abgearbeitet haben und auf dem Stand der letzten Neuerscheinungen sind. Als Studienvoraussetzungen auf sprachwissenschaftlichem Gebiet ist es fast zum Standard geworden, dass Studierende Wortarten und Satzglieder nicht mehr bestimmen können. Wie auch? Diese Inhalte wurden in der Grundschule vermittelt, wo die Kinder noch gar nicht in Lage sind, sie zu erfassen, und spielten dann bis zum Abitur keine Rolle mehr. Andererseits gibt es Studienanfänger, die den Überlegungen in einem linguistischen Kolloquium folgen können. Nicht selten wird ein romanistisches Fach gewählt, weil die Studierenden von Urlaubserfahrungen ausgehen oder weil ihnen andere, z.B. mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer zu schwer waren. Andererseits gibt es Studierende, die mit erheblichem Aufwand und Erfolg in die Kulturen, Literaturen und Sprachen der Romania eindringen und damit auch ein klares Ziel verfolgen. Dass sich die Eingangsvoraussetzungen deutlich voneinander unterscheiden, ist auch durch einen NC (den wir in Potsdam seit sechs Jahren haben) nicht zu än- 191 dern. Ein Mittel, dem zu begegnen, wären mehr Tutorien, doch hierfür sind die Gelder begrenzt oder werden durch Beschluss der Entwicklungsplanungskommission für anderes, z.B. Lehraufträge, eingesetzt. Ein Ausweg besteht in der Bereitstellung von Materialien auf einer Lernplattform, die von den Studierenden nach ihrem Bedarf und ihren Interessen genutzt werden kann. 2. Die Verkürzung der Studiendauer ist ein wesentliches Moment, das die zweistufigen Studiengänge attraktiv macht. Für viele junge Menschen waren die langen Magisterstudiengänge eine Hürde, die sie sich gar nicht zumuten wollten oder die sie dann nicht nahmen. Der dreijährige Bachelor mit festgelegten Inhalten ist für die Studierenden überschaubar und - auch wenn viele von vornherein eine Dehnung auf vier Jahre vorsehen - mit ihrer Lebensplanung verträglich. Das zeigt sich auch bei zahlreichen Bachelorstudierenden der fünften und sechsten Semester, die lieber erst einmal in die Praxis wollen und zunächst keinen Masterstudiengang in Erwägung ziehen. Dieses Verhalten der Bachelorstudierenden ist zu vielen Erwartungen gegenläufig. Argumentationen dazu, dass man mit einem Bachelor keinen berufsqualifizierenden Abschluss hat, scheinen für unsere Fächer ins Leere zu laufen. Dies mag damit zusammenzuhängen, dass auch ein Magisterabschluss (und letztlich auch ein Master) keine Karriere in einem spezifischen Berufsfeld sichert, sondern mit Eigeninitiative der Absolventen verbunden werden muss, die viele Bachelor schon früher entfalten wollen. Die Verkürzung der Studiendauer ergibt sich auch durch das Wegfallen der Prüfungszeiträume. Doch ist auch dies nur eine Chance, denn in Deutschland wurde zeitweilig versucht, das alte Prüfungssystem auf „Modulprüfungen“ zu übertragen. Modulprüfungen, bei denen die Inhalte eines ganzen Moduls abgeprüft werden, bedürfen einer gesonderten Anmeldung und haben natürlich zwangsläufig zur Folge, dass die Vorbereitungszeit auf die Prüfungen wieder erheblich ansteigen kann. Zum Glück ist man in den meisten Universitäten auf das kumulative Absolvieren der Modulprüfungen übergegangen, wohl vor allem aufgrund des sonst nicht zu bewältigenden organisatorischen und prüfungstechnischen Aufwands. Wollte man ganze Module durch eine Prüfung abprüfen, so wäre letztlich auch das Anrechnen von Leistungen aus dem Ausland nicht mehr möglich, was die Qualität des Studiums an der Potsdamer Romanistik deutlich herabsetzen würde. 3. Die Förderung wissenschaftlich begabter Studierender ist in den Masterstudiengängen gezielt möglich. Hier können sie, auch durch Einbeziehung in Forschungsvorhaben der Hochschullehrer, zu selbständigen Forschungsleistungen geführt werden und auch ihren Horizont für die Landschaft des Faches erweitern. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften, wo ein Fast-Track-Modell denkbar ist, in dem Studierende ausgehend vom Bachelor gleich ins Promotionsstudium wechseln, erhält der Masterstudiengang für die Romanistik eine wichtige Funktion. Während im Bachelor die Grundlagen gelegt werden und in der Promotionsphase eine starke Spezialisierung vorgenommen wird, erhalten die Studierenden im Masterstudiengang einen wissenschaftlich vertieften Überblick über die Methoden und Inhalte des Faches, die sie selbst bereits anwenden. Auch die Vorbereitung auf 192 eine berufliche Tätigkeit kann in einem anwendungsbezogenen Master durchaus über Praktika und entsprechende berufsfeldbezogene Module erfolgen. 4. Eine polyvalente Nutzung von Modulen in unterschiedlichen Studiengängen trägt zur Interdisziplinarität und zur sinnvollen Profilierung, insbesondere der Masterstudiengänge, bei. Kleinere Institute mit geringen kapazitären Möglichkeiten (dies trifft auf die meisten romanischen Seminare zu) sind gezwungen, ihre Module polyvalent zu gestalten, d.h. sie für philologische Bachelorstudiengänge, lehramtsbezogene Bachelorstudiengänge und kulturwissenschaftliche Bachelorstudiengänge anzubieten. Auch im Master gibt es Module, die in unterschiedlichen Masterstudiengängen Verwendung finden und diesen ihr spezifisches Profil verleihen. So können in Potsdam kulturwissenschaftliche Module in literaturwissenschaftlichen Masterstudiengängen auch Lehrveranstaltungen aus dem Institut für Künste und Medien beinhalten und Studierende der Masterstudiengänge Romanistische Linguistik oder Fremdsprachenlinguistik belegen das Modul Phonologie am Institut für Linguistik. Damit ergibt sich allerdings ein Spannungsfeld zwischen der Chance des klaren Berufsfeldbezugs und der gleichzeitigen Wahrung der Polyvalenz. Letztere erlaubt nicht immer vollkommen, das Risiko des Verlusts von Professionalität auszuschließen. Wenn Studierende, die keine romanischen Sprachen können, an Literaturseminaren teilnehmen, wird nur noch auf der Basis von Übersetzungen gearbeitet, weil die Seminare für Kulturwissenschaftler und allgemeine Literaturwissenschaftler verständlich sein müssen. Problematisch in dieser Hinsicht ist bereits die Durchführung übergreifender Seminare für mehrere romanische Sprachen. Diese können durchaus produktiv sein, indem sie die Studierenden zum Vergleichen und Übertragen erworbenen Wissens anhalten. Werden sie jedoch dominant oder gar zur alleinigen Form der Wissensvermittlung, geht zweifellos die vertiefte Beschäftigung mit einer romanischen Sprache und Literatur verloren. Die Chance liegt hier in einem ausgewogenen Verhältnis sprachspezifischer und übergreifender Lehrveranstaltungen, das Risiko in einer definitiven Spaltung der Romanistik in Einzelphilologien, aus denen heraus der Blick auf benachbarte Sprachen und Literaturen schwer fällt, oder - im Gegensatz dazu - in globalem Wissen, dem das einzelsprachliche Fundament fehlt. 5. Eine wirkliche internationale Gestaltung von Studiengängen bietet beträchtliche Möglichkeiten für die Romanistik. Vielfach wird beklagt, dass mit der Einführung der Bachelorstudiengänge weniger Studierende das Erasmus-Programm nutzen und ein Semester oder ein Jahr im Ausland verbringen. Für die Universität Potsdam trifft dies in der Romanistik nicht zu, allerdings gingen im Studienjahr 2008/ 2009 zwei Drittel aller Studierenden über Programme der Romanistik ins Ausland. Dies sagt in erster Linie natürlich aus, dass in anderen Fächern die Bachelorstudiengänge nicht genügend Raum für Auslandsaufenthalte ermöglichen. Über den kumulativen Erwerb von Studienleistungen haben wir eine problemlose Anrechnung von im Ausland erworbenen Leistungspunkten ermöglicht. Die Studierenden bewegen sich bereits heute in unterschiedlichen Hochschultraditionen und können dabei auch mit Schwierigkeiten umgehen. So war der Streik der Hochschulangehörigen in Frankreich im Studienjahr 2008/ 09 für unsere Erasmus-Stu- 193 dierenden eine echte Herausforderung, dennoch haben sie, vielleicht gerade durch die Kenntnisnahme des gesellschaftlichen Umfelds im Gastland, während ihres Aufenthalts Kenntnisse erworben und sind persönlich gereift. Um ein Auslandsstudium problemlos einbauen zu können, müssen die Module so gestaltet sein, dass sie nicht durch spezifische Festlegungen ein Studium an einer anderen Universität behindern. Vor allem dürfen die Module nicht zu groß sein und zu spezifische Abfolgen von Lehrveranstaltungen zwingend vorgeben. Nachdem ich bisher einzelne Faktoren, die mit dem Bologna-Prozess wirksam werden, betrachtet und ihre Chancen und Risiken abgewogen habe, möchte ich nun zu einigen problematischen Entwicklungen in der jüngsten Umsetzung des Bologna-Prozesses kommen. Vorausgeschickt sei, dass sich all diese Entwicklungen aufhalten ließen und nichts mit der Natur der zweistufigen Studiengänge zu tun haben, die als solche ihre Funktion erfüllen könnten, wenn man die Universitäten und ihre Lehrenden sinnvoll damit umgehen ließe. Das erste Problem betrifft die sogenannten Schlüsselkompetenzen, die eigentlich eine sinnvolle Idee repräsentieren. Studierende sollen im Studium ihrer Fächer und auch darüber hinaus Fähigkeiten erwerben, die es ihnen ermöglichen, Tätigkeitsfelder zu erschließen und im Prozess des lebenslangen Lernens zu bestehen. Die Lösungen der Universitäten für dieses Feld sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von betreuten Berufspraktika bis zu Trainingsstunden des guten Umgangstons. Das Wort Kompetenz, das früher einmal Zuständigkeit’ bedeutete, hat inzwischen auch von fachbezogenen Inhalten des Studiums Besitz ergriffen. In Modulbeschreibungen müssen die Inhalte von den zu erwerbenden Kompetenzen getrennt werden, was zu so aussagekräftigen Formulierungen führte wie: „Die Studierenden kennen die grundlegenden literaturgeschichtlichen Zusammenhänge und deren Einbettung in übergeordnete ästhetische Entwicklungen.“ Als Metapher aus dem betriebswirtschaftlich-erziehungswissenschaftlichen Bereich hat das Wort Kompetenz inzwischen Können ersetzt und ist Verbindungen mit den Benennungen der verschiedensten Bereiche, in denen Kompetenz erworben werden soll, eingegangen: Teamkompetenz, interkulturelle Kompetenz, Präsentationskompetenz, Unterstreichkompetenz, Konfliktkompetenz… Nun könnte man sich naiverweise fragen, ob ein Student, der im Seminar, in dem ein Drittel ausländische Studierende sind, einen Vortrag hält, den er gemeinsam mit zwei weiteren Studierenden vorbereitet hat, nicht dabei Teamkompetenz, interkulturelle Kompetenz und Präsentationskompetenz erwirbt. Natürlich nicht. In speziellen Veranstaltungen, die nichts mit dem studierten Fach zu tun haben, werden derartige, auch Softskills genannte Kompetenzen erworben. Auch Basistechniken wissenschaftlichen Arbeitens, Zugang zur Themenfindung, Eingrenzung und Strukturierung wissenschaftlicher Arbeiten sollen auf diese Weise vermittelt werden. Die entsprechenden Lehrveranstaltungen sollen möglichst für alle Studienanfänger fachunabhängig angeboten werden, wozu sogar die Idee entwickelt wurde, das Bachelorstudium auf vier Jahre auszudehnen und im ersten Jahr nur (in der Schule nicht vermittelte) Basiskenntnisse und „Bildung“ zu lehren. Der Bildungsbegriff wird in diesem Zusammenhang stark überstrapaziert, z.B. wenn man Studienanfänger beliebiger Fächer in eine Vorlesung 194 (die es nicht gibt) setzen möchte, in der sie einen Überblick über Epochen der Literaturgeschichte erhalten sollen. Noch vielmehr geht es jedoch um das Einüben von Fähigkeiten, die die Schule nicht vermitteln konnte, wie das Halten von Vorträgen (natürlich nicht im Fach), die Lesekompetenz, die Diskussionskompetenz… Es scheint offensichtlich, dass hier eine von außen der Universität verordnete Selbstüberschätzung vorliegt. Was die häufig besser ausgestatteten Schulen den Abiturienten nicht vermitteln konnten, soll an der Universität mit dafür nicht vorhandenem oder nicht ausgebildetem Personal nachgeholt werden. Natürlich ist ein Angebot an fächerübergreifenden Veranstaltungen und auch an Maßnahmen, die auf Berufsfelder vorbereiten, unbedingt erforderlich. Dieses muss jedoch flexibel eingesetzt werden und von den Studierenden nach ihren Bedürfnissen ausgewählt werden können. Kompetenzen können nicht losgelöst von Gegenständen des Faches vermittelt werden, wenn man sich nicht auf eine Abstraktionsebene begeben will, die als solche wieder neue und nicht zu lösende Schwierigkeiten mit sich bringt. Auch Bildung erreicht man nicht durch eine Vorlesung über Faktenwissen zur Literaturgeschichte, sondern durch das Wecken von Interesse an der Literatur und am Lesen. Als der Begriff Bildung’ im 18. Jahrhundert prominent wurde, war damit Erziehung zur Individualität gemeint. Auch die Erziehung zu elementarer Selbständigkeit ist etwas, was unseren heutigen Studienanfängern Not tut, was man aber schlecht in Modulen mit Leistungspunkten unterbringen kann. Eine weitere, für unser Fach schädliche Tendenz möchte ich mit Manie der Vereinheitlichung bezeichnen. In den Dokumenten des Bologna-Prozesses ist nirgendwo davon die Rede, dass alle Fächer gleich große Module haben müssen und dass alle Fächer auf die gleiche Art und Weise Prüfungen abnehmen müssen. Die Einführung der zweistufigen Studiengänge hatte nicht das Ziel, die Traditionen der Fächer in der Lehre zu brechen. Zum Beispiel ist es in den Naturwissenschaften üblich, Vorlesungen jedes Semester oder jedes Jahr - mit den erforderlichen Aktualisierungen - immer wieder identisch anzubieten. Ein solches Vorgehen würde in den Geisteswissenschaften zur Sterilität der Lehre beitragen. Lehrende, die so vorgehen, werden von ihren Kollegen natürlich etwas von der Seite angesehen. Dass die Themen und die Inhalte der einzelnen Lehrveranstaltungen von Semester zu Semester wechseln, dabei aber trotzdem bestimmte Kerninhalte immer wieder vermittelt werden, ist für Vertreter einer anderen Fächerkultur schwer nachvollziehbar. Aus dem Wechsel der Inhalte ergibt sich jedoch auch, dass Modulprüfungen sinnvollerweise nicht möglich sind, denn ein Prüfer müsste die Kenntnisse der Studierenden an Inhalten feststellen, die er selbst nicht vermittelt hat und die von Semester zu Semester wechseln. Die Konsequenz wären Kollektivprüfungen von mehreren Prüfern, die die organisatorischen und zeitlichen Möglichkeiten der Institute weit übersteigen würden. Zum Glück wenden sich die Akkreditierungsagenturen gegen das Erteilen ganzer Modulnoten auf der Basis nur eines Teils des Moduls, denn dann würden wir wieder bei der alten Prüfungspraxis ankommen, sie nur einfach multiplizieren. Die einzig sinnvolle Lösung für unsere Fächer scheint mir in einer kumulativen Prüfung zu bestehen, wobei die Teilprüfungen allerdings in ihrer Form variieren müssen. Mit einer Monokultur von Klausuren wären nicht nur 195 nicht alle zu erwerbenden Fähigkeiten abprüfbar, sondern wir würden unsere Studierenden auch physisch überfordern: drei zweistündige Klausuren an einem Tag stellen nicht nur das Wissen, sondern auch das einfache Schreibvermögen auf die Probe. Fatal wäre es allerdings auch, wenn bei einem solchen Verfahren nicht bestandene Leistungen einfach mit einer 5 in die Gesamtnote eingehen würden. Das würde dazu führen, dass Studierende, die über bestimmte Grundlagen nicht verfügen, den Bachelor problemlos erwerben könnten. Eine wichtige Voraussetzung für ein sinnvolles Studium eines romanistischen Faches sind sehr gute Sprachkenntnisse, die zum Abschluss des Bachelors dem Niveau C1 des europäischen Referenzrahmens entsprechen müssen. Dies zu erreichen, setzt eine intensive Arbeit voraus, die in Zeit gemessen, häufig weit über dem liegt, was den Studierenden letztlich als Leistungspunkte bescheinigt wird. Sinnvoll ist das Angebot umfangreicher Propädeutika, in denen die Studierenden eigentlich als Studienvoraussetzungen geltende Sprachkenntnisse vermittelt werden. Die Unterschätzung des Sprachunterrichts hat sich auch in den Bachelorstudiengängen vielfach noch fortgesetzt und es werden weitaus weniger Leistungspunkte als für theoretische Veranstaltungen im Fach erteilt. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass die Realität des Zeitaufwands an die dafür zugestandenen Leistungspunkte angepasst wird, d.h. die sprachpraktische Ausbildung der Studierenden erheblich reduziert wird. Auch unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen Fähigkeiten ist natürlich die feste Integration eines Studienabschnitts im Ausland in romanistische Studiengänge sehr wünschenswert. Ein weiteres Problem, das an den meisten Universitäten nicht optimal gelöst ist, betrifft die Ausbildung für die Lehramtsstudierenden im Rahmen der zweistufigen Studiengänge. Hier hatten wir in den Staatsexamensstudiengängen in Potsdam mit 60 bis 70% an Absolventen bezogen auf die Studienanfänger durchaus vorzeigbare Ergebnisse, die jedoch den genannten inhaltlichen Einschränkungen unterliegen. Auch für die mit Blick auf das Lehramt Studierenden ergeben sich aus der zweistufigen Gestaltung der Studiengänge durchaus Chancen, nicht zuletzt dadurch, dass im Rahmen des Bachelorstudiums ein Überdenken der Eignung für das Lehramt möglich wird. Eine verstärkte erziehungswissenschaftliche, fachdidaktische und mit Praxisanteilen versehene Ausbildung im Master kommt den Anforderungen für den Lehrerberuf entgegen. Die im Bachelorstudium zu studierenden fachdidaktischen und erziehungswissenschaftlichen Anteile reichen aus, um den Studierenden einen Eindruck von der Arbeit in der Schule zu vermitteln, darüber hinaus haben wir berufsfeldbezogene Fachmodule eingebaut. Letztere sollten die Möglichkeit bieten, solche Inhalte aufzunehmen, die für die Tätigkeit als Lehrer an der Schule wichtig sind. Freilich haben das nicht alle Lehrenden verstanden und so kam es zu unspezifischen Angeboten und auch zu empörten Rückfragen: sollten etwa Germanisten jetzt Jugendliteratur (= Trivialliteratur! ) lehren? Dennoch haben sich die berufsfeldbezogenen Module im Wesentlichen bewährt und haben verhindert, dass hohe Zahlen an Leistungspunkten für Fachdidaktik erteilt werden müssen, wobei das Personal hierfür fehlt. An vielen Universitäten wurde das Problem nicht ausreichend vorhandener Fachdidaktiker einfach durch die Erhöhung der 196 Zahl an Leistungspunkten für entsprechende Lehrveranstaltungen gelöst, was natürlich den Sinn der Leistungspunkte, die am Arbeitsaufwand der Studierenden orientiert sein sollten, aufhob. Innerhalb weniger Jahre wurden viele Fachdidaktikprofessuren geschaffen, für die geeignetes Personal fehlt. Dabei beruhte in einigen Bundesländern das exorbitante Ansteigen der erforderlichen Stunden an Lehrveranstaltungen in den Fachdidaktiken auf einem Denkfehler der Anfangsphase der Einführung zweistufiger Studiengänge: Wenn man von einer Drittelung der Anteile der beiden Fächer und der Erziehungswissenschaften/ Fachdidaktiken ausgeht, wobei der Schwerpunkt für die Erziehungswissenschaften in der Masterphase liegen sollte, ist eine sinnvolle Gestaltung des Studiums durchaus möglich. Die Drittelung wurde jedoch als imperativer Maßstab auch auf die Fächer übertragen. Ein Drittel sollte für die Fachdidaktik reserviert werden und das möglichst auch in der Bachelorphase, was den Anteil der fachwissenschaftlichen Ausbildung unter das Mindestmaß drückte. Doch auch in Potsdam, wo wir durch gute Kontakte zum zuständigen Ministerium solche Fehlentwicklungen (zunächst) verhindern konnten, gibt es nun Probleme. Der Bachelor soll den Titel Bachelor of Education erhalten, obwohl seine Absolventen mitnichten zur Tätigkeit als Erzieher geschweige denn als Lehrer qualifiziert sind und einige auch gar nicht beabsichtigen, den Lehramtsmaster anzuschließen. Wir bilden also Studierende aus, die durchaus in der Lage wären, mit ihrem Bachelor in einen anderen Master als den für das Lehramt geeigneten oder in Praxisbereiche zu gehen, händigen ihnen aber ein falsches Zeugnis aus. Eine ganze Reihe unserer im Master auf das Lehramt Studierenden könnte ihr Praktikum im Ausland absolvieren. Diesen Studierenden wird aber durch eine Fülle von administrativen Hürden ein sinnvolles Durchführen des Praktikums verwehrt und sie sollen auf Schulen in Brandenburg verteilt werden, in denen es nicht genug Praktikumsplätze gibt. Besonders absurd wird die Gestaltung des Praktikums, wenn man dafür entweder das Sommersemester oder das Wintersemester vorgibt und außerdem Eingangsvoraussetzungen dafür festlegt. Studierende organisieren ihr Studium nie nach den Wunschplänen von Kommissionen. Sie werden immer in einem Semester etwas weniger studieren und sich auf andere Dinge konzentrieren, im nächsten Semester dafür aber mehr Zeit in ihr Studium investieren. Auch bei der (letztlich nicht möglichen) Gewährleistung von Überschneidungsfreiheit von Lehrveranstaltungen wird ein Studieren nach idealtypischen Studienverlaufsplänen die Ausnahme bleiben. Die Umstellung aller Studiengänge auf Bachelor und Master scheint mir nur insofern gelungen zu sein, als sie auf der Basis verbindlich vermittelter Inhalte und Methoden Freiräume für die Gestaltung und die Abfolge lässt. Überwiegen also die Chancen oder die Risiken? Ich sehe die bewusste fachnahe Gestaltung des Bolognaprozesses nach wie vor als eine große Chance. Allerdings bedarf ihre Nutzung des Interesses der Hochschullehrer, die heute vielfach kopfschüttelnd wegschauen und professionelle Hochschulleitungen, die von ökonomischen Zwängen und vielleicht auch von individuellen Bildungsidealen bestimmt handeln, wirken lassen.