eJournals lendemains 37/145

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2012
37145

B. Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne

2012
Iris Roebling
ldm371450141
141 Comptes rendus das Wichtigste sei und leitet daraus ein normatives Literaturverständnis ab, das mit der Abkehr von Theorielastigkeit und einer Kritik an der westlichen Tradition des Nihilismus einhergeht. Unterschwellig getragen - und gestützt durch einen Seitenhieb auf die Diskurstheorie (175f.) - werden diese Überzeugungen von der (problematischen) Auffassung, dass ein unverstellter Zugang zur Lebenswirklichkeit möglich sei. Auch wenn man als Leserin und Leser mit dieser Sicht auf die poststrukturalistische Theoriebildung nicht konform geht, sollte deutlich geworden sein, dass Erzählen vom Menschen ein wichtiges und mit Gewinn zu lesendes Buch ist: Es zeigt aus einer als individuell erkennbar bleibenden, im Umgang mit den Texten wissenschaftlich fundierten und diachronen Perspektive, welches spezifische Potenzial Literatur im Hinblick auf die Reflexion des Menschen in seiner Verbundenheit mit anderen besitzt. „Hilft mir das zum Leben? “ - das war die Frage, die Nancy Huston dem aus ihrer Sicht wuchernden Theoriediskurs innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaften entgegenhielt, bevor sie sich schließlich ganz dem literarischen Schreiben zuwendete. In Bezug auf Erzählen vom Menschen mag jede/ r diese Frage, die allerdings um das Moment der literaturwissenschaftlichen Reflexion zu erweitern wäre, für sich selbst beantworten - meine Antwort lautet: ja. Margot Brink (Osnabrück/ Berlin) BARBARA VINKEN: FLAUBERT. DURCHKREUZTE MODERNE, FRANKFURT AM MAIN: FISCHER, 2009, 591 S. Es ist heutzutage etwas aus dem Mode gekommen, bei der Aufklärung eines Sachverhalts lautstark: „Cherchez la femme! “ in die Runde zu rufen, zumindest in der Kriminalistik. In einer auf Freud ausgerichteten Psychoanalyse hingegen hat dieser Schlachtruf durchaus noch Konjunktur. Gemeint ist dann meist die Frau aller Frauen: die Mutter. Auch Barbara Vinken eröffnet ihre gewaltige Studie über Gustave Flauberts Gesamtwerk mit eben diesem Freudschen Grundmotiv. Bevor die drei Romane Madame Bovary, Salammbô und die Education sentimentale analysiert werden, stellt Vinken ihren Lesern den Autor in einem gleichsam intimen Portrait vor, das vor allem in einer Hinsicht gründlich aufräumt mit dem herkömmlichen Bild des Wegbereiters der literarischen Moderne. Nicht ironisch, gefühlskalt und grausam sei er gewesen, sondern vielmehr impotent, enttäuscht und feige. Dabei geht es erst einmal um zumeist wohl bekannte Details aus seinem Sexualleben. Bei einem lang ersehnten Treffen zwischen Louise Colet und Flaubert kann er sich als Mann nicht beweisen, in den Trennungsphasen liebt er dafür ihre Pantoffeln mindestens ebenso wie sie selbst und rät ihr in ihrer Leidenschaft zu Kamillentee als hygienische Maßnahme. Schnell ahnt man des Übels Ursache: „Vor 142 Comptes rendus allem ist er an seine Mutter gebunden.“ (47). Das abschließende Freud-Referat zum Fetischismus und zu einem durch den Ödipuskomplex dominierten Triebschicksal rundet das Bild ab. Der Autor wird in diesem Auftakt vom unantastbaren Künstler zum Neurotiker, wogegen nichts spricht. Nur beschleicht einen beim Lesen manchmal das Gefühl, die Geschichte schon zu kennen. Dafür befriedigt Vinken den Wunsch nach Originalität umso gekonnter, wenn es um eine Verbindung des Psychologischen mit dem Ästhetischen geht: Flauberts berühmte „impassibilité“, sein unpersönlicher Stil, sei die literarische Konsequenz aus dieser „Kastrationsdynamik“, in der der Autor versuche, sich aggressiv gegen seine symbolischen Väter (Victor Hugo und Balzac) zu behaupten (19) und deswegen den allwissenden Erzähler aus seinem Schreiben verbanne. Diese Einsicht wird anschließend zweifach erweitert. Auf der inhaltlichen Ebene der Romane und Erzählungen werden die „oft christologische[n] Konnotationen“ der realen „Liebeswunden“ offen gelegt, und in der stilistischen Analyse beschreibt Vinken Flauberts Schrift schließlich in einer paradoxen Volte sogar als die „pathetischste der Moderne“ (74). In rhetorischer Hinsicht wird dieses Pathos erst im abschließenden Kapitel zu den Trois contes genauer in den Blick genommen. Vorerst muss sich der Leser mit der Auskunft zufrieden geben, dass Flaubert im Grunde pathetisch schreibt, weil er selbst leidet. Damit sind die beiden Achsen für die folgenden Interpretationen freigelegt, in denen ein grundlegender Kommentar des ewigen Untermieters seiner Mutter zu der Botschaft der Evangelien vorgestellt wird. Auch Madame Bovary ist bekanntlich die Geschichte einer enttäuschten Liebe, und es ist Vinken zu danken, dass sie auf das ebenso bekannte wie ungesicherte Zitat Flauberts: „Emma Bovary, c’est moi“ nicht eingeht, sondern gleich eingangs ihre Hauptthese formuliert: Emmas Sehnsucht nach Lektüre ist im Grunde ein Verlangen nach Gott, das jedoch unbefriedigt bleibt - und in einer Zeit, in der das Heil längst weggebrochen ist, auch bleiben muss (75). Ein weiterer Komplex wird anschließend dem des Liebens und Lesens hinzugefügt: der des Essens. Alle drei können nur über die Religion, genauer: die Idee der Eucharistie in ein Verhältnis gesetzt werden, dem einzigen Liebesmahl, dessen Gehalt von einer hermeneutischen Auseinandersetzung abhängt. Damit werden die gern als „realistisch“ verstandenen Passagen über Mahlzeiten, Essgewohnheiten und Lebensmittel in neuem Licht lesbar. In dem Netz der zahlreichen intertextuellen Verweise, in dem Vinken anschließend den Roman verortet, bilden Ovids Metamorphosen (Arachne), Racines Phèdre und Augustinus’ De adulterinis Bezugspunkte. Dabei liege der Akzent bewusst auf antiken Texten. Wird der Kirchenvater noch direkt als Folie benutzt, die von Flaubert überschrieben, ja durchgestrichen, überboten werde, so dienten die anderen antiken Motive als Verweise auf eine vor-christliche Zeit, die insbesondere in ihrer Grausamkeit noch immer Bestand habe, weil Erlösung nicht auszumachen sei (133). Es bleibt eine vollends determinierte Welt, weswegen Finken wohl auch der „Tragik“ Flauberts zutraut, sogar „die Tragödie Racines“ zu übertreffen (128). 143 Comptes rendus Ähnlich fatalistisch fällt der Befund zu dem Roman aus, in dem die christologischen Anspielungen am augenfälligsten sind, in Salammbô. Dass hier im Foltertod Mâthos das Sterben am Kreuz nacherzählt und pervertiert wird, liegt nahe. Dennoch scheint es im Rahmen von Vinkens Gesamtinterpretation einen deutlichen Unterschied zwischen Madame Bovary und Salammbô zu geben. Vinken deutet die offensichtlichen Grausamkeiten des Historienromans nicht nur lediglich als Kommentar zu einer modernen Welt, sondern beschreibt die Lektüre des Romans als eine „Erziehung des Herzens“, die Flaubert hier dem Leser angedeihen lasse. „Diese ist so aristotelisch wie christlich. […] Grauen und Mitleiden“ solle der Leser lernen (150). Salammbô, christlich-propagandistische Rhetorik? Und in welchem Verhältnis steht dieses Plädoyer für christliche Werte zu dem einleitenden Autorporträt, in dem uns Flauberts Leiden an der Welt in erster Linie als deviante sexuelle Prägung vorgeführt wurde? Fast ist man geneigt zu vermuten - allerdings ohne, dass Vinken dies explizit sagt -, Flaubert sei aller Religionskritik zum Trotz letztlich überzeugter Anhänger der christlichen Ethik, weil ihm der rechtzeitige Absprung von zu Hause nicht glücken wollte. Es sei also die Gegenfrage erlaubt, ob nicht gerade in Salammbô, einem Text, der in erster Linie durch seine äußert exquisite, fast schon esoterische Wortwahl auffällt und befremdet, über weite Strecken ein Sprachexperiment anderer Natur exerziert wird. Die großen Züge der Argumentation werden auch in der Lektüre der Education sentimentale beibehalten. Umso interessanter sind deswegen einige der Detailbeobachtungen, in denen Vinken das Paris zwischen 1840 und 1867 zuerst mit Rom, dann mit Babel überblendet. Gerade die filigrane Spur, die nach Rom führt, ein Städtename, der, wie Vinken selbst anmerkt, im Text überhaupt nur einmal explizit auftaucht, ist mit viel Feinsinn aufgespürt. Alle Straßen in Paris führen, sagt Flauberts Erzähler, wenn er Frédérics Gedanken wiedergibt, zu Mme Arnoux’s Haus. Ihr letzter Wohnsitz hingegen wird mit Rom angegeben. Sobald sich im Ohr der hellhörigen Leserin beide im Roman weit auseinanderliegenden Passagen gefunden haben, ist der Weg von Paris nach Rom geebnet (237). Ebenso aufmerksam wird ein unscheinbares Detail aus dem Sexualleben der Figuren beobachtet: Alle männlichen Helden scheinen eine Vorliebe für die „a tergo Liebesstellung“ zu haben - eine Anspielung nicht nur auf die Sodomie und homosexuelle Liebe, sondern auch auf die mit ihr assoziierten Orte Sodom und Gomorrha sowie in einem weiteren Schritt auf den Sündenpfuhl Babel. Dieser gesamte Komplex wird hier, wie Vinken zeigt, geradezu en passant von Flaubert nach Paris importiert (276). Alle drei Lektüren münden in ein Abschlusskapitel, in dem die Trois Contes als die Synthese von Flauberts Werk gelesen werden. Erst an dieser Stelle kommt Vinken noch einmal ausführlich auf die anfänglichen Bemerkungen zu Flauberts „impassibilité“ zu sprechen. Sie wird hier in einer originellen Wendung mit dem von Erich Auerbach beschriebenen „sermo humilis“ verglichen, womit Vinken auch einen konkreten Begriff für das eingangs beschriebene Pathos gewinnt: Erhaben sei dieser niedere Stil, „weil die Affekte, die im Zuhörer ausgelöst werden sollen, in das Register des Erhabenen gehören: ergreifen, mitreißen, aufwühlen“ (352). Nun ist 144 Comptes rendus aber die Erhabenheit nur die eine Seite des biblischen, frühchristlichen Sprechens. Die andere liegt, wie Vinken mit Auerbach feststellt, in der Umgangssprachlichkeit der Texte. Damit ist allerdings ein rhetorisches Register aufgerufen, das man Flaubert wohl kaum zuschreiben kann. Gerade die Trois contes sind in ihrer Kürze stilistisch so durchgearbeitet und wo immer möglich verknappt (und deswegen in der Tat oft pathetisch-erhaben), dass für Anklänge an die gesprochene Sprache, die sich nicht nur in der Semantik, sondern auch in einer umgangssprachlichen, geschwätzigen, unkontrollierten Syntax äußert, kein Raum ist. (Es deutet sich an dieser Stelle auch eine Frage an, die selbst bei Auerbach nicht gänzlich geklärt ist, wenn er im „sermo humilis“ das Umgangssprachliche mit dem Erhabenen engführt.) Weniger kontrovers ist Vinkens zweites Argument in dieser Angelegenheit: Die gerade im Zusammenhang mit der „impassibilité“ gern erwähnte Perspektivlosigkeit der Flaubertschen Erzählerstimme erweise sich in den Trois contes geradezu als eine ethisch-religiöse Einstellung. Vinken nennt sie mit Gerald Wildgruber die „mystische Praxis des Selbstentzuges“ (357). Zu einem Ort dieses Selbstentzugs erhebe Flaubert seine Dichtung. Die zahlreichen direkten und indirekten Hinweise auf mystisches Empfinden in den drei Erzählungen passen gut zu dieser These. Der Literatur wird damit abschließend nun doch so etwas wie eine Heilsfunktion zugebilligt. Und es klingt wie ein Happy end, wenn Vinken im letzten, fast poetischen Absatz ihrer Studie vom Blau des Papiers spricht, auf dem Flaubert seine Trois contes geschrieben habe, eine Farbe, der man durchaus „das Licht einer anderen Verkündigung“ andichten darf (504). Dieser harmonische Ausklang versöhnt auch Leser, die sich streckenweise irritiert gefühlt haben mögen von Entscheidungen, die wohl in erster Linie auf das Lektorat zurückzuführen sind. So werden etwa alle fremdsprachigen Zitate in eckigen Klammern ins Deutsche übersetzt, was bei einer Autorin, die diese Zitate gern und oft in ihre deutschen Sätze einbaut, zu mitunter sechszeiligen Unterbrechungen im Lesefluss führt. Es wäre besser gewesen, sich entweder auf die Fremdsprachenkenntnisse der Leser zu verlassen oder schlicht nur die Übersetzungen zu zitieren. Außerdem finden sich Wendungen in dem Buch, bei denen die Ironie nicht immer klar erkennbar ist. Muss man schreiben, dass Flaubert sich seinen Freunden gegenüber als „Vögler“ inszeniert (51)? Auch sind manche Passagen von Wortwiederholungen dominiert, ab und an laufen Fragekaskaden ins Leere. Vor einiger Zeit war von Vinken, die nicht zuletzt für ihre Kompetenz in Mode- und Stilfragen bekannt ist, im Cicero zu lesen, wie sehr sie heutzutage die strenge Linie einer Coco Chanel vermisse. Liest man ihre erhellende und monumentale Studie zu Flaubert, möchte man ihr zustimmen, aber vielleicht nicht nur mit Blick auf aktuelle Bekleidungstrends. Iris Roebling (Bielefeld)