eJournals lendemains 37/145

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2012
37145

B. Sändig: Erzählen vom Menschen: Benjamin Constant, Georges Sand, Georges Bernanos, Albert Camus, Nancy Houston

2012
Margot Brink
ldm371450138
138 Comptes rendus BRIGITTE SÄNDIG: ERZÄHLEN VOM MENSCHEN: BENJAMIN CONSTANT, GEORGES SAND, GEORGES BERNANOS, ALBERT CAMUS, NANCY HUSTON, WÜRZBURG: KÖNIGSHAUSEN & NEUMANN, 2009, 192 S. Das Buch der Romanistin Brigitte Sändig, die bis 2009 an der Universität Potsdam lehrte, endet mit einem Zitat von Franz Fühmann, einem der wichtigsten, kritischen Vertreter der DDR-Literatur, der 1975 schrieb: „Ein Buch, das man nicht schreiben muß, das soll man ungeschrieben lassen. […] Schreiben ist nicht etwas, das man muß, doch nur, wenn man es muß, ist es Schreiben“ (182). Dieses Zitat ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich für den Rahmen dieser neuen Studie: Es markiert zusammen mit der Referenz auf SchriftstellerInnen und Philosophen wie Hans Jonas, Christoph Hein, Günter Kunert, Günther Anders, Zygmunt Bauman, Ruth Klüger u.a. einen Denkhorizont, der auf die Bereiche von Technikkritik, Ethik und Verantwortung, Geschichtsreflexion mit Bezug auf die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts sowie auf das literarische Erbe der DDR verweist. Darüber hinaus lässt sich das Zitat auch als Selbstaussage der Verfasserin lesen. Denn was das Buch durchweg und ganz besonders prägnant in der Einleitung, „Der Mensch - lebendig oder tot? “ (9-25), transportiert, ist, dass hier nicht eine etwaige Forschungslücke brav bearbeitet wird, sondern dass die Wahl des Themas für Sändig selbst eine unbedingte Notwendigkeit besitzt. Das Anliegen ihres engagierten, gesellschaftskritischen und überaus gut zu lesenden Buches ist es, ausgehend von Autorinnen und Autoren des 19. bis 21. Jahrhunderts zu zeigen, dass das „Erzählen vom Menschen“ jenseits aller Diskurse um den Tod des Subjekts gesellschaftlich notwendig und literarisch möglich ist. Die Leserin und der Leser begegnen einer Autorin, die als Mensch mit ethischen Grundüberzeugungen und dezidierten Erkenntnisinteressen greifbar wird. So bilden denn auch persönliche Erfahrungen und Wahrnehmungen in Bezug auf die postmoderne Infragestellung des Subjekts sowie die Gesellschaftssysteme des Sozialismus und Kapitalismus - denen nach Ansicht von Sändig über die strukturellen Unterschiede hinweg die Absage an den Menschen als „geistig-seelisch-leibliches Wesen (Heidegger) mit Standpunkt und Willen“ (10) gemeinsam ist - die Ausgangspunkte der Untersuchung. Man muss die teilweise etwas holzschnittartige Rekonstruktion poststrukturalistischer Theoriebildung in der Einleitung nicht teilen, um dennoch die Stärke des Ein- und Ansatzes dieses Buches wertzuschätzen. Das Thema, das in der Studie bearbeitet wird, lässt sich wie folgt umreißen: In der gegenwärtigen Welt zunehmender Systemzwänge, die mit einer Absage an den Menschen in seiner Widersprüchlichkeit, Unvorhersehbarkeit und Wandelbarkeit einhergeht, kann Literatur einen Beitrag dazu leisten, dass der Mensch nicht zugunsten automatisierter Verhaltensschablonen aufgegeben wird, sondern sich in Gemeinsamkeit und Mitmenschlichkeit bewahren und entfalten kann. Dieses besondere Potenzial sieht Sändig exemplarisch in den von ihr ausgewählten Werken realisiert. 139 Comptes rendus Jedem Autor, jeder Autorin ist dabei in der Studie ein eigener Teil gewidmet, der - bei aller Unterschiedlichkeit der Werke und Deutungen - doch um ähnliche Motive und Themen kreist: Zusammenhang von Leben und Schreiben, literarische Konstruktion von Menschenbildern, Einbindung des Individuums in Generation und Geschichte, Ethik literarischer Formen und Inhalte, Technik- und Fortschrittskritik, Infragestellung patriarchaler Konzepte von Künstlerschaft und Werk, Subjekt und philosophischem Nihilismus, Bedeutung der Religion. Theoretisch-methodisch lässt sich die Studie in den Bereichen von Literatursoziologie und ethical criticism ansiedeln. Auch wenn es nicht das Interesse der Verfasserin ist, diese theoretischen Bezüge zu explizieren, so sind doch die Parallelen besonders zu anglo-amerikanischen Ansätzen, wie denjenigen von Martha Nussbaum oder Richard Rorty, augenfällig: Hier wie dort wird der Literatur ein besonderes ethisches Potenzial zugesprochen und Literaturanalyse im Hinblick auf soziale und ethische Fragen fokussiert. Und wie bei Nussbaum oder Rorty, die den bürgerlichen Roman für eine solche Reflexion als besonders ergiebig ansehen, sind es auch bei Sändig überwiegend narrative Texte traditioneller Form, die im Zentrum der Untersuchung stehen. Sändig, die u.a. als Herausgeberin und Kennerin der Werke von Constant, Bernanos und Camus bekannt ist, hat diesen Autoren mit Georges Sand und Nancy Huston zwei Autorinnen zur Seite gesellt, denen über die Jahrhunderte hinweg gemeinsam ist, dass sie das „Ich als Ort des Austauschs“ (162), wie Huston es formuliert, auffassen und in ihrem Schreiben die Lebenswirklichkeit in Abgrenzung von der Kunstautonomie bewusst in den Vordergrund stellen. Ausgehend von den oben erwähnten Themen machen die einzelnen Kapitel ausführlich mit ausgewählten Schriften der AutorInnen vertraut und schreiten von hier aus das Spektrum der verschiedenen Facetten des jeweils zur Darstellung kommenden Menschseins ab. Dabei wählt Sändig zumeist Texte aus, die kontrapunktisch zwei extreme Menschenbilder und individuelle Verhaltensmöglichkeiten in Bezug auf sich und andere beleuchten. Außerdem wird im Rekurs auf biographisch relevante Ereignisse und sozio-historische Kontexte dargestellt, dass die formale und inhaltliche Gestaltung der Texte und der darin enthaltenen Menschenbilder nicht willkürlich erfolgt, sondern durchaus mit Lebenserfahrungen korrespondiert und von Grundüberzeugungen hervorgebracht und getragen wird. Was wird ausgehend von einer solchen Perspektive nun an den untersuchten Texten erkennbar? Constant wird anhand der Journaux intimes, dem Roman Adolphe und dem Lebenswerk De la religion als ein Autor vorgestellt, der immer wieder die Frage umkreist, wie das Individuum, wie Freiheit und Gemeinschaft zu denken sind. Hierbei zeichnet sich das Zerrissen-Sein, die Vorstellung des Menschen als zwiespältig und rätselhaft, egoistisch und moralisch zugleich (44) als großes Thema ab. Diesem Bild des modernen Individuums, das durch Verunsicherung, Rationalität und Selbstbezogenheit gekennzeichnet ist, stellt Constant in seinen Schriften zur Religion nun, wie Sändig überzeugend rekonstruiert und analysiert, die Vorstellung des Menschen als gemeinschaftsbedürftiges und religiöses Wesen 140 Comptes rendus gegenüber. Das von Constant als anthropologische Konstante begriffene „religiöse[s] Gefühl“ (44) fungiert dabei als „Gegenspieler des egoistischen Eigeninteresses“ (49) und der alles dominierenden Rationalität, als Kraft, die individuelle Freiheit zu stiften vermag und damit auch als „unerlässliche Basis der Moral“ (49). Durch Sändigs Lektüre wird Constant als ein Autor lesbar, der die moderne Zerrissenheit des Individuums autobiographisch durchlebt, literarisch gestaltet und ihr zugleich die Vorstellung entgegenstellt, dass eine „andere Welt nötig und möglich ist“ (55). In Bezug auf Georges Sand vermag die Verfasserin ausgehend von der Histoire de ma vie zu zeigen, dass die Kunstauffassung der Autorin - die enge Verknüpfung von Leben und Schreiben, das Ineinssetzen ethischer und ästhetischer Maßstäbe, die gänzlich unheroische Auffassung des Schriftsteller-Berufs bei gleichzeitigem Beharren auf dem Schreiben als notwendigem Akt der Solidarität mit den Mitmenschen - eine bewusste und selbstbewusste Abgrenzung von der Autonomieästhetik darstellt. Sand reflektiere sich in ihrer Autobiographie im konfliktuellen Geflecht der Generationen und der Epoche. Die Beziehung zu Mitmenschen bilde die Antriebskraft ihres Lebens und Schreibens, wobei sie auf der Grundlage eines unorthodoxen Christentums eines radikalen Humanismus (74) vertrete. Bei Bernanos freilich wird deutlich - und hier wünschte man sich als Leserin einen kritischeren Blick der Verfasserin auf die Texte -, wie eine Kunstauffassung, die sich ganz im Dienst lebens- und moralpraktischer Belange verortet und sich bei Bernanos gar als Fortsetzung der Moraltheologie versteht, in eine konservativ-moralistische Feindlichkeit gegenüber innovativen und experimentellen Richtungen innerhalb der Kunst umzuschlagen vermag: Gides Roman Les Faux-monnayeurs gilt Bernanos als „misslungen“ und als Ausdruck „intellektueller Perversität“, wie er schreibt (119). So scharfsinnig Sändigs Analysen der Texte hier im Einzelnen sind, das, was Bernanos’ Lebens- und Kunstauffassung prägt, Vokabeln wie Wahrheit, Leidenschaft, Größe, Ewigkeit oder auch seine Technikkritik, lassen sich nicht ungebrochen retten. Im Gegensatz dazu liefert die Studie eine hervorragende und subtile Analyse der Schuld-Thematik in den Erzählungen La Chute und L’Hôte von Camus. Ausgehend von den jeweiligen Hauptfiguren wird dabei die „Konflikt-Konstellation, die Camus zeitlebens beschäftigte“ (151), „menschliche Handlungsmöglichkeiten versus geschichtliche Determination“ (ebd.), in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und Ambivalenz entfaltet. Mit Nancy Hustons Roman Lignes des failles (2006) liefert Sändig abschließend ein aktuelles Beispiel für eine Literatur, in der die „Anwesenheit des Menschen im Roman“ (155) gelungen umgesetzt sei, und zwar in einer formal anspruchsvollen Weise der Darstellung der „Brüche und Ausfälle in der Abfolge der Generationen“ (ebd.). Es handelt sich hierbei um eine multiperspektivische Geschichte, die u.a. um das Thema des Judentums kreist und in der der Einzelne im Geflecht von Familie und historischen Ereignissen als Ort des Austauschs in den Blick kommt. In ihren Essays hebt Huston hervor, dass der Bezug zur Lebenswirklichkeit für sie 141 Comptes rendus das Wichtigste sei und leitet daraus ein normatives Literaturverständnis ab, das mit der Abkehr von Theorielastigkeit und einer Kritik an der westlichen Tradition des Nihilismus einhergeht. Unterschwellig getragen - und gestützt durch einen Seitenhieb auf die Diskurstheorie (175f.) - werden diese Überzeugungen von der (problematischen) Auffassung, dass ein unverstellter Zugang zur Lebenswirklichkeit möglich sei. Auch wenn man als Leserin und Leser mit dieser Sicht auf die poststrukturalistische Theoriebildung nicht konform geht, sollte deutlich geworden sein, dass Erzählen vom Menschen ein wichtiges und mit Gewinn zu lesendes Buch ist: Es zeigt aus einer als individuell erkennbar bleibenden, im Umgang mit den Texten wissenschaftlich fundierten und diachronen Perspektive, welches spezifische Potenzial Literatur im Hinblick auf die Reflexion des Menschen in seiner Verbundenheit mit anderen besitzt. „Hilft mir das zum Leben? “ - das war die Frage, die Nancy Huston dem aus ihrer Sicht wuchernden Theoriediskurs innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaften entgegenhielt, bevor sie sich schließlich ganz dem literarischen Schreiben zuwendete. In Bezug auf Erzählen vom Menschen mag jede/ r diese Frage, die allerdings um das Moment der literaturwissenschaftlichen Reflexion zu erweitern wäre, für sich selbst beantworten - meine Antwort lautet: ja. Margot Brink (Osnabrück/ Berlin) BARBARA VINKEN: FLAUBERT. DURCHKREUZTE MODERNE, FRANKFURT AM MAIN: FISCHER, 2009, 591 S. Es ist heutzutage etwas aus dem Mode gekommen, bei der Aufklärung eines Sachverhalts lautstark: „Cherchez la femme! “ in die Runde zu rufen, zumindest in der Kriminalistik. In einer auf Freud ausgerichteten Psychoanalyse hingegen hat dieser Schlachtruf durchaus noch Konjunktur. Gemeint ist dann meist die Frau aller Frauen: die Mutter. Auch Barbara Vinken eröffnet ihre gewaltige Studie über Gustave Flauberts Gesamtwerk mit eben diesem Freudschen Grundmotiv. Bevor die drei Romane Madame Bovary, Salammbô und die Education sentimentale analysiert werden, stellt Vinken ihren Lesern den Autor in einem gleichsam intimen Portrait vor, das vor allem in einer Hinsicht gründlich aufräumt mit dem herkömmlichen Bild des Wegbereiters der literarischen Moderne. Nicht ironisch, gefühlskalt und grausam sei er gewesen, sondern vielmehr impotent, enttäuscht und feige. Dabei geht es erst einmal um zumeist wohl bekannte Details aus seinem Sexualleben. Bei einem lang ersehnten Treffen zwischen Louise Colet und Flaubert kann er sich als Mann nicht beweisen, in den Trennungsphasen liebt er dafür ihre Pantoffeln mindestens ebenso wie sie selbst und rät ihr in ihrer Leidenschaft zu Kamillentee als hygienische Maßnahme. Schnell ahnt man des Übels Ursache: „Vor