eJournals lendemains 37/146-147

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2012
37146-147

Für eine Wiederbelebung des deutsch-französischen Verhältnisses

2012
Michael Nerlich
ldm37146-1470249
249 Discussion Michael Nerlich Für eine Wiederbelebung des deutsch-französischen Verhältnisses Ein Aufruf im Anschluss an den Dialog zwischen Pierre Nora, Frank Baasner und Erwin Teufel Vorbemerkung Der nachfolgende Text hat eine besondere Entstehungsgeschichte, die seine partikulare Form verständlich und - wie ich hoffe - auch verzeihlich macht. Im März korrespondierte ich mit Wolfgang Asholt, Henning Krauss, Dietmar Rieger und Joachim Umlauf über zunehmend besorgte Stellungnahmen zum deutschfranzösischen Verhältnis in der französischen Publizistik und speziell in Le Monde und wurde dabei von ihnen auf die Debatte zwischen Pierre Nora, Frank Baasner und Erwin Teufel in der FAZ aufmerksam gemacht, die mir hier im fernen Zentralfrankreich entgangen war. Ich holte die Lektüre nach und äußerte unvorsichtigerweise meine Überzeugung, dass „die Stellungnahmen von Pierre Nora sowie Baasner-Teufel eine grundsätzlich-analytische Stellungnahme wie die von Pierre Nora auch von deutscher Seite notwendig machen müssten“. Hätte ich das bloß nie gesagt! Ich wurde sofort festgenagelt: ich sollte mal so etwas zu Papier bringen und Vorschläge für eine Stellungnahme unterbreiten. Es war - wie immer - der unaufhebbar protestantisch-lübsche Moralanspruch, der schon zur Gründung von Lendemains geführt hatte: um sicherzugehen, dass ich nichts Falsches zu Papier bringe, habe ich aus allen Ecken unserer Bibliothek und unserer Archive die gesamte vor Ort verfügliche Dokumentation zusammengetragen, und mir, was in den letzten Jahren erschienen und von mir noch nicht gelesen war, blitzartig - email macht’s möglich und der lieben Freundin Christiane Fritsch- Weith sei’s gedankt - vom Buchladen Bayerischer Platz in Berlin in jenes ferne Zentralfrankreich schicken lassen, wo es dann Tag und Nacht aufgearbeitet wurde. Als die Diskussionsbzw. Textvorlage fertig war, musste gekürzt werden, womit eine genauso strapaziöse Arbeit anfing, die wir zu sechst besorgten: Asholt, Krauss, Rieger, Umlauf und vor allem auch Evelyne Sinnassamy, meine Frau und Lendemains-Mitgründerin. Was dann mit dem gekürzten Text geschah, soll hier nicht im Einzelnen referiert werden. Nur soviel: natürlich schickten wir ihn, wie es sich gehörte, der FAZ, die uns keiner Antwort würdigte. Wahrscheinlich gehört sich auch das heute so. Schlimmer aber: nicht eine einzige der anderen deutschen Zeitungen, denen wir den Text zum Abdruck anboten, reagierte, so dass ich, in einer Nacht, verzweifelt, den Text ins Französische übersetzte und Le Monde 250 Discussion schickte. Le Monde veröffentliche ihn am 28. Juni, und jeder Lendemains-Leser kann ihn aufrufen unter http: / / www.lemonde.fr/ idees/ article/ 2012/ 06/ 28/ pour-unrenouveau-dans-les-rapports-franco-allemands_1725611_3232.html Was danach kam, mag woanders berichtet werden. Hier sei nur erklärt, warum der von mir unter den genannten Umständen angefertigte Argumentationskontext nicht ungedruckt bleiben sollte. Denn obwohl - gerade in jüngster Zeit - zum Teil vorzügliche Arbeiten zum deutsch-französischen Verhältnis nach 1945 (auch und vor allem zum Verhältnis zwischen Frankreich und der SBZ/ DDR) verfasst wurden, und obwohl ich mir (gerade nach der absolvierten Arbeit) der Defizite bewusst bin, die in dem nachfolgenden Text offen zu Tage liegen, wage ich zu behaupten, dass es der erste ausgewogene Text zum ost- und westdeutsch-französischen Verhältnis ist, und - noch wichtiger - der erste, der die gesamte politisch-moralisch-kulturelle Bedeutung umreißt, die das Verhältnis zu Frankreich für unsere eigene, nach 1945 wiedergewonnene kulturelle Identität besessen hat und weiter besitzen muss. Wenn ich anmerken darf, was mir in vielen der - wie gesagt: zum Teil vorzüglichen - Arbeiten zum deutsch-französischen Verhältnis nach 1945 auffiel und was ich für ein enormes Hindernis für die so dringend notwendige Wiederaufnahme und Weiterentwicklung des im deutsch-französischen Dialog Erreichten halte: es gibt Forscher(innen), die noch immer meinen, den Kalten Krieg gewinnen zu müssen. Aber die DDR war nicht nur das (kulturelle) Nichts mit Frankreich-Blackout, und die BRD nicht nur das (kulturelle) Paradies mit dem richtigen Wissen vom Nachbarn jenseits des Rheins. Beide Teile Deutschlands kamen aus der Katastrophe und hatten die Verbrechen der Nazi-Zeit (auch gegenüber Frankreich) im Gepäck, als sie 1945 zu neuen Ufern aufbrachen, und beide brauchten Frankreich dazu, und viele haben diesem Projekt gedient. In Ost und West. Solange wir das nicht verstehen, werden wir die deutsch-französischen Errungenschaften in Ost und West nach 1945 nicht wirklich im wiedervereinten Deutschland und für die - zum Teil auch deswegen beschädigte, wenn nicht gar auf weiten Strecken verlorene - Partnerschaft mit Frankreich und ihre weitere Entwicklung bzw. Erneuerung bewahren und nutzen können. So unzulänglich also der folgende Text auch sein mag, stellt er doch eine erste Bilanzierung der gesamtdeutsch-französischen Beziehungen nach 1945 dar, die versucht, sans parti pris ein wissenschaftlich-moralisch-politisches Arbeitsprogramm zu umreißen, in dem keiner der positiven Werte der Vergangenheit preisgegeben werden darf, und er deutet an, in welche Richtung die deutsch-französische Erneuerung zu erfolgen hat, wobei alle erwähnten wissenschaftlichen Arbeiten von Bedeutung sein werden. Dass sie hier nicht aufgelistet sind, liegt in der Natur des Textes, der nur einen Argumentationszusammenhang abgeben sollte und deshalb fußnotenfrei blieb. 251 I Auch auf die Gefahr hin, wie Pierre Nora als Nostalgiker à la recherche du temps perdu angeprangert zu werden, bekennen wir, durchaus die Sorgen hinsichtlich des deutsch-französischen Verhältnisses zu verstehen, die Nora am 16.02.2012 in der FAZ in seinem Beitrag mit dem Titel Man hat sich auseinandergelebt, unterbreitet hat. Natürlich heißt dies nicht, dass wir in jeder Hinsicht mit ihm einer Meinung sind, und es heißt auch nicht, dass wir nicht die Freude über manche Errungenschaften im deutsch-französischen Verhältnis mit Frank Baasner und Erwin Teufel teilten, die sie in ihrer - schon im Titel Wir haben uns zusammengelebt - ironisch-polemisch formulierten Replik vom 26.03.2012 rühmen. Aber wir sind der Meinung, dass Nora im Kern recht hat und dass der Beitrag von Baasner- Teufel an der Sache vorbeigeht, was am klarsten in zwei ihrer erstaunlichen Statements zum Ausdruck kommt. Zum einen erklären sie, dass man nicht über sprachliche Kommunikationsprobleme zwischen Deutschland und Frankreich klagen könne, denn wenn auch die Zahl derjenigen abnehme, die z. B. in Frankreich Deutsch lernten, so gäbe es doch die Möglichkeit, „Sprachkompetenz […] heute in der nachschulischen Arbeitswelt“ zu erwerben, ganz abgesehen davon, dass man ja auch Englisch benutzen könne: „Wer nach der kommunikativen Leistung von Sprache fragt, der kann heute viele positive Phänomene zwischen Deutschen und Franzosen beobachten, bis hin zur Benutzung der globalen Verkehrssprache Englisch.“ Zum anderen stellen die beiden deutschen Vertreter deutsch-französischer Beziehungen fest, dass man „natürlich“ „bis heute nicht“ „von einer […] deutschfranzösischen Kultur sprechen“ könne, eine Feststellung, der wir uns erlauben, die ebenfalls leicht ironische Frage entgegenzustellen, ob Baasner und Teufel schon einmal im Elsass oder in Lothringen gewesen sind. Nein, nein, wir wollen weder Elsass noch Lothringen zurück, zumal wir darüber glücklich sind, dass sich in diesen beiden Regionen Europas eine brillante deutsch-französische Kultur entwickelt hat, die heute im europäischen Frieden lebt, die aber gewiss noch viel brillanter sein würde, wenn ihr in der deutsch-französischen Geschichte nicht soviel zerstörerisches Leid widerfahren wäre. Und das gilt im übrigen für Deutschland und Frankreich insgesamt, denn Elsass und Lothringen sind nur ein besonders intensives Resultat für die - immer wieder von diesem Leid mitbestimmte - Wechselbeziehung der deutschen Kultur, die ohne ihre französischen, und der französischen Kultur, die ohne ihre deutschen Komponenten nicht denkbar wären, was übrigens Einflüsse anderer Kulturen nie ausgeschlossen hat und ausschließen wird. Im Gegenteil. Dennoch aber sind der französische und der deutsche Anteil an der französischen und an der deutschen Kultur in vieler Hinsicht wesensbestimmender als andere Kultureinflüsse, was u. a. an der Geographie liegt und an der geschichtlichen Entwicklung beider Nationen, was schon dadurch zum Ausdruck kommt, dass Frankreich Frankreich heißt und nicht Gallien. Denn es war der germanische Stamm der Franken, der dem Land - wie der Gegend um Discussion 252 Main und Neckar - seinen Namen gab. Das wiederum erklärt denn auch den weiteren Verlauf der Geschichte, von dem u. a. die Tatsache zeugt, dass der nach gemeinsamem deutsch-französischen Empfinden größte Herrscher aller Zeiten in Frankreich Charlemagne heißt und in Deutschland Karl der Große. II Natürlich wollen wir hier nicht diese in Streit oder Übereinkunft durchlebte deutschfranzösische Geschichte nacherzählen. Wir gestatten uns aber in Erinnerung zu bringen, dass sich aus dieser wechselseitig-vielfältigen Beziehung, die sich - in Kunst, Architektur und Kommerz - seit dem frühesten Mittelalter auf alle Regionen bzw. Fürsten- und Herzogtümer sowie Freistädte erstreckte, u. a. erklärt, warum in Deutschland Adel und Bourgeoisie Französisch zu sprechen pflegten, ja, dass spätestens seit dem 18. Jahrhundert Französisch als erste moderne Fremdsprache im Schulunterricht zur allgemeinen Verkehrsprache Latein trat, was eigentlich nur die überraschen kann, die nicht wissen, dass sich der Alte Fritz z. B. in Potsdam mit französischen Poeten und Philosophen zu umgeben pflegte, zu denen u. a. ein gewisser Voltaire zählte. Ja, Friedrich der Große war selbst ein französischer Philosoph, dem wir u. a. den großartigen Traktat des Anti-Machiavel verdanken, von Schloss Sans-souci samt französischer Parkanlage ganz abgesehen. So wie wir denn hier auch absehen wollen von Kleinigkeiten wie den Zehntausenden von Hugenotten, die - aus dem Frankreich Ludwigs XIV vertrieben - in Deutschland eine Bleibe fanden (um in Berlin z. B. den Weißbierkonsum zu propagieren), oder - umgekehrt - vom Auswandererstrom armer Deutscher, die in Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert Arbeit fanden. Manchmal so gar mit großem Erfolg, wie die Geschichte der Champagner-Produktion beweist. Kurz: mit keiner anderen geographischen Region wie der französischen hatte die deutsche trotz aller Konflikte einen so intensiven Kulturaustausch, und es wäre vielleicht zum Nutzen der Menschheit dabei geblieben, wenn sich nicht bürgerlichreaktionäre Ideologen dazu berufen gefühlt hätten, nach Napoleons kriegerischen Exkursionen nach Deutschland nicht nur gegen das republikanische Frankreich von 1789, sondern gegen die Nachbarnation insgesamt ungeistig zu mobilisieren. Dabei tat sich ein Philosoph mit dem Namen Johann Gottlieb Fichte ganz besonders hervor, verfasste er doch eines der schändlichsten Machwerke der deutschen Geistesgeschichte, die Reden an die Deutsche Nation, die 1808 erschienen. In ihnen erklärte er die französische Sprache zum sterilen neulateinischen Artefakt, in dem es - im Gegensatz zum Germanisch-Deutschen - nicht möglich sei, tieferes Denken und Empfinden auszudrücken, was erklären würde, dass die Franzosen - mit Molière an der Spitze - nur Nicht-Literatur und im übrigen auch nur Un- Kunst hervorgebracht hätten. Dass er zur Abkehr von Frankreich, der Verkörperung des „Todes“, und zur Militarisierung der deutschen Nation, der Verkörperung des „Lebens“ aufrief, sei im übrigen genauso erwähnt wie die Tatsache, Discussion 253 dass sich im Rezeptionskontext des Fichte-Elaborats denn auch schon Antisemitismus und Identifizierung Frankreichs mit jüdischem Geist breitmachte. Zu Ehren der deutschen Nation und ihres Bürgertums, das u. a. in einem gewissen Goethe einen uneingeschränkten Bewunderer und Befürworter der französischen Kultur besaß, sei angemerkt, dass die antifranzösische Hetze à la Fichte in Deutschland keinen Massenanklang fand, was u. a das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in den engen kulturellen und kommerziellen Verbindungen zwischen Frankreich und Deutschland seinen Ausdruck fand: die deutschen Museen sind noch heute voll von französischen Gemälden und Skulpturen, die bis zum Ersten Weltkrieg gesammelt wurden. Seit 1870-1871 aber, dem ersten der drei unheilvollen modernen Kriege Deutschlands gegen Frankreich, in dessen Verfolg Elsass und Lothringen ins Deutsche Reich „heimgeholt“ wurden, begann sich alles zu verändern. Mit der Hetze gegen Frankreich während des Ersten Weltkriegs 1914-1918, der Frankreich ca. eineinhalb Millionen Menschenleben kosten sollte, setzte denn auch das ein, was man als suizidären Versuch der Liquidierung des französischen Anteils am geschichtlichen Wesen Deutschlands und damit der Identität des Deutschen und seiner Kultur in der ungeistigen Tradition Fichtes bezeichnen muss, selbst wenn die Hinwendung der deutschen Elite zu Frankreich auch nach dem Krieg mehrheitlich ungebrochen blieb. III 1924 jedoch erscheint ein Text, der die genannten antifranzösischen Strömungen zum politisch wahrscheinlich verhängnisvollsten Manifest der Weltgeschichte vereint: Hitlers Mein Kampf. In ihm wird das „verjudete“ Frankreich nicht nur als der ewige „Todfeind des deutschen Volkes“ präsentiert, sondern es wird zu seiner Vernichtung im Bündnis mit England und Italien aufgerufen. Und was in späteren Zeiten verdrängt wurde: Hitler greift die deutsche Schule an, weil sie zuviel Geschichtskenntnisse zu vermitteln suche, statt den „gesunden Instinkt“ zu fördern, der die Grundlage für das Blühen von „Industrie und Technik, Handel und Gewerbe“ bilde, und weil sie im übrigen mit dem Franzosischen die falsche Sprache unterrichte, obwohl „man nicht einmal sagen kann, dass sie eine Schule des scharfen logischen Denkens bedeute, wie es etwa auf das Lateinische zutrifft.“ Es reiche daher, nur in „das Grundsätzliche“ dieser Sprache einzuführen, weil dies für den „allgemeinen Bedarf“ genüge. Drei Jahre nach der „Machtergreifung“ wurde denn auch das Französische an den höheren Schulen (zunächst noch mit Ausnahme der Gymnasien) durch das Englische als Hauptfremdsprache ersetzt und 1937 als eventuelle dritte Fremdsprache (neben Italienisch oder Spanisch und hinter Englisch als erster und Latein als zweiter) zum Wahlpflichtfach in den fakultativen Bereich abgedrängt, bevor es 1940 ganz in den Bereich des Fakultativen und damit de facto Überflüssigen abgeschoben wurde. Im selben Jahr erfolgte dann der Einmarsch der Nazitruppen, denen man im übrigen eine Kurzfassung der Fichteschen Reden in die Tornister geschoben hatte, Discussion 254 in das Land des „unerbittlichen Todfeinds“ Frankreich. Dort hatten zuvor Tausende deutscher Emigranten Schutz gesucht, bevor viele von ihnen aus Angst vor eben jenem Einmarsch woanders Zuflucht suchten: von der Sowjetunion bis in die USA. Als die Nazis 1944 die Besetzung Frankreichs beenden müssen, hinterlassen sie ein von schweren Bombenschäden gezeichnetes Land, das ungefähr eine halbe Millionen Todesopfer beklagt. Sie kehren aber auch in ein Deutschland zurück, in dessen Namen die Nazis von 1939 bis 1945 nicht nur die Welt in Brand gesetzt hatten, sondern das die barbarische Phase der Liquidierung seiner französischdeutschen Geschichte und damit seiner kulturellen Identität durch dieselben Nazis erlebt und erlitten hatte. Kurz: die deutsche Nation, die der gesamten Welt Leid und Zerstörung zugefügt hatte und für die Ermordung von ca. 60 Millionen Menschen verantwortlich war, musste im selbst verantworteten Trümmerfeld seine deutsch-französische geschichtlich-kulturelle Identität wiederfinden. IV Das eigentlich Undenkbare in den deutsch-französischen Beziehungen trat ein. Nicht nur, dass Frankreich Dank de Gaulle als Chef der Forces Françaises Libres bzw. des Comité national français und der provisorischen Nachkriegsregierung nach 1944 Aufnahme unter den Alliierten fand und sich seit Juli 1945 im Saarland (das 1946 französisches Protektorat wurde und von 1948 bis 1956 eine Art Frankreich angegliederter eigener Staat war), in Rheinland-Pfalz, Baden sowie in Berlin (Reinickendorf und Wedding) als Besatzungsmacht etablierte. Nein, unmittelbar nach dem Krieg begannen (nach 1944 ebenfalls um Orientierung ringende) Franzosen und Deutsche auf privater Ebene in allen Bereichen und speziell dem von Handel, Industrie, Kultur und Spracherwerb unter schwierigsten Bedingungen die Grundlagen für eine erneute friedliche deutsch-französische Zusammenarbeit zu schaffen, die entscheidend für die Rückkehr (des westlichen) Deutschlands zu sich selbst und damit für die weitere Entwicklung Europas werden sollte. Dass dabei auch die Unterstützung bzw. die Initiativen durch Instanzen der Siegermächte notwendig und sehr oft entscheidend waren, ist so evident wie die Tatsache, dass besonders in der Zone française d’occupation (ZFO), wo u.a. der Jesuitenpater Jean du Riveau bereits 1945 die deutsch-französische Zeitschrift Documents - Dokumente gründete, entsprechende Aktivitäten - auch und vor allem von Raymond Schmittlein, 1945 bis 1951 Leiter der Direction de l’éducation publique mit Sitz in Baden-Baden - gefördert wurden. Das führte u. a. zur Gründung von zahlreichen deutsch-französischen Gesellschaften und Begegnungsstätten, die vor allem deutsch-französische Jugendtreffen ermöglichten und 1948 mit dem Freiburger Institut für internationale Begegnungen eine entscheidende Institutionalisierung erfuhren. Ihr war 1946 bereits die Gründung der ersten Institut Français der Nachkriegszeit in Berlin und in Freiburg sowie - neben den Centres d’études françaises in Tübingen, Trier und Mainz - im Juni 48 in Paris die Konstituierung eines Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle und in Discussion 255 Ludwigsburg die Gründung des Deutsch-Französischen Instituts vorausgegangen, dessen Aufgaben wie folgt definiert wurden: „Vermittlung der französischen Sprache, Literatur und Geisteswelt; Vertiefung und Verbreitung der Kenntnis von Frankreich, Land und Leuten; Förderung des geistig-kulturellen Austausches zwischen beiden Ländern und damit der europäischen Zusammenarbeit.“ Von gleicher Bedeutung wie die Akzeptierung Frankreichs als vierter Besatzungsmacht war die Tatsache, dass nach de Gaulles Abdankung 1946 eines der wichtigsten deutsch-französischen Projekte für das zukünftige Europa aus dem Zusammenspiel von industrieller Privatinitiative und politischer Konstellation hervorgehen und realisiert werden konnte: das Projekt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl oder der Montan-Union von Jean Monnet und dem von de Gaulle nicht sonderlich geschätzten Robert Schuman, das, 1950 vorgelegt, auf uneingeschränkte Zustimmung des 1949 gewählten ersten Bundeskanzlers der BRD, Konrad Adenauer, stieß. 1951 von Belgien, der BRD, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden beschlossen, präludierte die Montan-Union der Gründung der EWG 1957 in Rom und gab der politischen Entwicklung Westeuropas eine intensive deutsch-französische Orientierung. Das gab der Zusammenarbeit von de Gaulle und Adenauer eine derart solide Grundlage, dass die beiden Staaten 1963 den nach dem Elysée benannten Deutsch-französischen Freundschaftsvertrag abschließen konnten, in dessen Verfolg u. a. das Deutsch-französische Jugendwerk gegründet und kulturelle Institutionen wie die Instituts Français oder die Goethe-Institute in Frankreich, deren erstes 1962 in Paris eingerichtet worden war, sowie die sogenannten Maisons de l’Allemagne vermehrt und Partnerschaften zwischen Städten und Schulen und vor allem der (massenhafte) Schüler- und Studentenaustausch zwischen Frankreich und Deutschland gefördert wurden. V Zwar dürfte es schwierig sein, außer der (vorwiegend deutschen) Furcht vor dem Sowjet-Kommunismus und der (vorwiegend französischen) vor dem US-amerikanischen Atlantismus sowie dem gemeinsamen, wenn auch unterschiedlich motivierten Bemühen, die Zeit der Nazi-Barbarei und der Collaboration so gut wie möglich auszublenden und damit - vor allem - wirtschaftspolitische deutsch-französische Zusammenarbeit zu ermöglichen, andere Gründe ausfindig zu machen für die Instauration des Mythos von der Kontinuität der abendländischen Kultur seit Karl dem Großen, der diese deutsch-französische Annäherung politisch-weltanschaulich rechtfertigte und 1949-1950 seinen ersten und bis heute exemplarischen Ausdruck in der Einrichtung und Vergabe des Aachener Karlspreises fand. Aber die konfuse Europa-Kultur-Rhetorik, die seit jener Zeit alle Bereiche des gesellschaftlichen Seins und speziell Politik, Kultur und Wissenschaft abdeckte, entsprach tatsächlich einem breiten deutsch-französischen Bedürfnis nach Rückkehr zu vor-nazistisch und vor-pétainistisch-nationaler Identität und zu gesittetem Miteinander diesseits und jenseits des Rheins und beförderte im pragmatischen Discussion 256 Verzicht auf unmittelbare Vergangenheitsaufarbeitung die individuelle Rückbesinnung auf die gemeinsame geschichtlich-kulturelle Vergangenheit, deren Intensität für die europäische „Schicksalsgemeinschaft“ Pierre Nora in Erinnerung bringt. Dass die philosophische-ideengeschichtliche Begründung dieser Rückbesinnung z. T. aus obskuren Quellen stammte, soll nicht verschwiegen werden, zumal dies durchaus Langzeitwirkung hatte, und auch, dass einer der Haupttheoretiker der neuen Abendland-Mythologie, der Bonner Romanist Ernst-Robert Curtius, nicht nur mitbestimmend für die Französistik an den westdeutschen Universitäten und damit nach 1948 auch für die Ausbildung der Französischlehrer war, sondern auch für das deutsche Feuilleton von der Zeit bis zur FAZ, in dem auf Jahrzehnte hinaus Curtius-Schüler den Ton angaben und weitgehend tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit und auf dieser gründende Neubesinnung verhinderten, darf nicht vergessen werden. Dabei war kaum jemand weniger geeignet, nach 1945 das Wort zu ergreifen, als Curtius, hatte er doch bereits vor Hitlers Machtergreifung 1932 in seiner schändlichen Essay-Sammlung Deutscher Geist in Gefahr zur Abkehr vom zeitgenössischen Frankreich, zur Zusammenarbeit mit dem faschistischen Italien und zur Bekämpfung linker Politik (speziell der Sozialdemokratie) im allgemeinen und der „jüdisch“ verseuchten (marxistischen) Soziologie im speziellen aufgerufen. Das hinderte ihn nicht, 1948 sein bereits im Dritten Reich konzipiertes Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter vorzulegen, das - von geschichtlicher Reflexion abstrahierend - den harmonisierenden Abendland- Mythos verbreitete, dessen die de Gaulle-Adenauer-Ära bedurfte. VI Auch die Romanistik selbst und damit das Französisch-Studium, von der hier die Rede sein soll, nahm in den Westzonen bzw. in der BRD natürlich die Chance wahr, mit Verdrängen, Vergessen und dem Abendland-Mythos wieder profranzösische Positionen einzunehmen. Da von den ins Exil gejagten Romanisten keiner nach Westdeutschland zurückkam, konnte es - trotz der verdienstvollen Editionen der im türkischen Exil von Erich Auerbach verfassten Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, die 1946 bei Francke in Bern, und der Introduction aux études de philologie romane, die 1949 bei Klostermann in Frankfurt erschienen - ohnehin keinen wirklichen methodologisch-ideologiekritischen Neubeginn des Faches geben, das auch seine - zum Teil im 19. Jahrhundert bereits gegründeten - Wissenschaftszeitschriften ohne grundsätzliche konzeptuelle Änderungen beibehielt. Forschung und Lehre wurden weitgehend von Aktivisten oder Mitläufern des Nazi-Regimes weiterbetrieben. Um nur zwei Beispiele zu nennen: an den ersten Gesprächen zur Förderung der deutsch-französischen Verständigung am 1948 gegründeten Deutsch-französischen Institut (DFI) in Ludwigsburg nahmen mehrheitlich Romanistik-Professoren teil, die als engagierte Nazis kurze Zeit zuvor am Romanistik-Projekt des „Kriegseinsatzes“ gegen Frankreich mitgearbeitet hatten. Im gleichen Jahr veröffentlichte einer der Teilnehmer an den Discussion 257 genannten Gesprächen, der „Maigefallene“ Hermann Gmelin, Romanistik- Vertrauensmann des NS-Dozentenbundes, Vertreter germanischer Rassetheorien, seit 1935 Professor in Kiel, Die Epochen der französischen Literatur. Sie beginnen - so, als sei nichts gewesen, anknüpfend an die romanistische Literaturwissenschaft vor der Nazi-Zeit - mit den Straßburger Eiden, die aus der „Durchdringung“ der neuen Völker in der Gallo-Romania „mit dem Geist des germanischen Heldentums der Völkerwanderungszeit“ entsprungen seien, und sie schließen mit dem Ausblick auf den „bedeutendsten französischen Dichter der Gegenwart, Paul Valéry“, der die „glückliche Verbindung des analytischen Vermögens mit dem schöpferischen“ repräsentiert, das „auch in Zeiten der Dekadenz die stetige Verjüngung und wunderbare Expansionskraft des französischen Geistes“ garantiere. VII Wahrscheinlich hätte es ohne Verdrängung in Sachen Frankreich und Französischstudium kein Weitermachen an den westdeutschen Universitäten und Schulen geben können. Die jungen Deutschen jedenfalls, die nach 1945 massenhaft (vor allem zum Erlernen der französischen Sprache) ins Romanistik-Studium drängten, mussten warten, bevor sie mit neuen methodologischen Perspektiven konfrontiert wurden. Immerhin aber durften sie - um nur bei der Literatur zu bleiben, aber dasselbe gilt für alle kulturellen Bereiche - (selbst bei Lehrern wie Gmelin) wiederentdecken, was einem Goethe evident gewesen war: dass Corneille, Racine und Molière auch zu unserer kulturellen Identität gehörten, dass ohne Chrétien de Troyes Wolfram von Eschenbach nicht denkbar war, ja, dass von Villon über Diderot bis zu Baudelaire, Verlaine oder Rimbaud die französische Literatur in der deutschen präsent war und dass man ohne die französischen Romane der Balzac, Stendhal, Flaubert oder Zola auch die deutschen Romane der Moderne nicht verstehen konnte. Gewiss, das war vor allem in den ersten Nachkriegsjahren methodologisch weitgehend orientierungslos. Aber ganz abgesehen davon, dass schon bald philosophisch-methodologische Hilfe aus Frankreich kam und z. B. bereits 1950 Sartres Qu’est-ce que la littérature auf Deutsch erschien: der Begegnung mit französischen Autoren war grundsätzlich keine Grenze mehr gezogen, was Kreativität des westdeutschen Nachkriegsintellektuellen im Dialog mit der französischen Kultur erlaubte, der von dem gewaltigen Schüleraustausch und dem bald uneingeschränkt möglichen touristischen Reiseverkehr gefördert wurde. Wie auch immer: nach 1945 zunächst im allgemeinen Freudentaumel über die wiedergewonnene Zivilisation wurden die (jungen) Westdeutschen - auch dank zum Teil vorzüglicher Arbeit der (nicht nur wissenschaftlichen) Verlage wie Luchterhand, Rowohlt, Suhrkamp, aber auch dank des wiederauflebenden Musik- und Theaterlebens, der Kunstausstellungen, ja auch dank der Massenmedien einschließlich des (1952 neu begründeten) Fernsehens - wieder mit der französischen Kultur in allen Bereichen und speziell der Literatur vertraut. Von Adamov, Discussion 258 Anouilh, Beauvoir, Beckett, Brassens, Breton, Butor, Camus, Claudel, Duras, Eluard, Gatti, Genet, Ionesco usw. über Malraux oder Montherlant usw. bis zu Saint-Exupéry, Saint-John Perse, Sarraute, Sartre, Vian oder Yourcenar: die französischen Autoren waren in den 50er bis 80er Jahren mindestens so präsent wie die geistig oder physisch heimgekehrten deutschen Autoren von Brecht, Broch, Döblin, Feuchtwanger, Jahn bis zu Kafka oder Thomas Mann und die ersten bedeutenden Nachwuchsautoren wie Böll, Borchert, Grass, Hochhuth oder Weiss (aber auch die englisch-amerikanischen und italienisch-spanischen Autoren von Pearl S. Buck, Calvino, Eliot, Faulkner oder García Lorca über Hemingway, Joyce, Mailer oder Moravia bis zu Pavese, Pinter oder Tennessee Williams, von Autoren wie Agatha Christie oder Georges Simenon ganz abgesehen). Fügt man den Einfluss hinzu, der neben Sartre von den französischen Philosophen, Historikern, Literaturtheoretikern, Psychoanalytikern, Soziologen (usw.) auf das deutsche Nachkriegsdenken ausging, dürfte die Frage erlaubt sein, ob die französische Kultur nach 1945 nicht die entscheidende Instanz für die Wiederauferstehung Westdeutschlands als Kulturnation gewesen ist: von Agulhon, Althusser, Ariès, Badia, Balibar, Barbéris, Barthes, Bloch, Bourdieu, Braudel, Dédéyan, Derrida, Droz, Duby, Escarpit, Etiemble, Febvre, Foucault, Furet bis zu Genette, Goldmann, Goubert, Greimas, Hazard, Lacan, Leenhardt, Le Goff, Le Roy Ladurie, Lévi- Strauss, Mandrou, Merleau-Ponty, Pierre Nora, Soboul,Todorov, Veyne, Vovelle waren im westdeutschen Kulturbereich alle bedeutenden zeitgenössischen französischen „Dichter und Denker“ vertreten. VIII Sie waren seit Mitte der 50er Jahre sogar nach und nach in der Romanistik präsent, in der manch Forscher - freilich oft um den Preis der akademischen Isolierung, die der Münsteraner Professor Wolfgang Babilas auf sich nehmen musste, der sich mit seiner Frau um das Werk des in der BRD als Kommunist missliebigen Louis Aragon (auch) international verdient machte - sich sogar mit engagierter linker Literatur aus Frankreich beschäftigen konnte. Den Weg dafür hatten jüngere Romanisten mit Nazi-Vergangenheit geebnet, die sich - analog zu vielen anderen Deutschen, die sich nach 1945 für die Wiederherstellung der deutsch-französischen Beziehungen engagiert hatten - wie Hugo Friedrich und Hans-Robert Jauss neue Identitäten erarbeiten konnten, um im Nachkriegskontext ihr Fachwissen in den Dienst der deutsch-französischen Annäherung zu stellen. Friedrich (geboren 1904) gelang es 1956, sich mit seiner Struktur der modernen Lyrik, in der Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, aber auch Apollinaire, Valéry, Eluard, Saint-John Perse und Prévert die entscheidenden Rollen zugewiesen wurden, in der öffentlichen Meinung zum Pionier einer neuen deutschen Perspektive auf moderne Lyrik ganz allgemein und die französische Avantgarde im besonderen aufzuschwingen, und der noch viel jüngere Jauss (geboren 1921) lud 1958 zusammen mit den Schweizern Kurt Baldinger (der 1953-1957 Professor in der Discussion 259 DDR gewesen war) und Gerhard Hess (der im Nazi-Reich eine problematische Karriere gemacht hatte) sowie Erich Köhler (der nach dem Studium in Leipzig bei Werner Krauss von der DDR in die BRD gewechselt war) den von den Nazis 1933 aus dem Amt gejagten Leo Spitzer zu einer Gastvorlesung über Interpretationen zur Geschichte der französischen Lyrik (von Ronsard bis Mallarmé) nach Heidelberg ein. Diese Vorlesung erschien 1961 im Selbstverlag des Romanischen Seminars der Universität Heidelberg und enthält Spitzers Kritik an der sprach- und literaturimmanenten Stilanalyse und ein Plädoyer für ihre funktionale Einbettung in geistesgeschichtliche sowie marxistisch-soziologische Forschung unter Einschluss von Biographie und Psychoanalyse (von ihm noch „Erlebnisforschung“ genannt). Jauss selbst, der 1967 mit Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft - u. a. in Auseinandersetzung mit modernen französischen Theoretikern von Escarpit über Picon zu Vinaver - als Plädoyer für eine Rezeptionsgeschichte literarischer Werke als erstem Schritt zur „ereignishaften Geschichte der Literatur“ einen ähnlich entscheidenden Markstein der westdeutschen Nachkriegsromanistik setzte wie Friedrich mit Struktur der modernen Lyrik, und Köhler, dessen 1966 mit dem Titel Esprit und arkadische Freiheit erschienenen, in - für die westdeutsche Nachkriegsromanistik bahnbrechender - „ideologiekritischer, historisch-dialektischer“ Perspektive verfassten - literatursoziologischen Essays französische Autoren von Chrétien de Troyes über Rabelais bis zu Saint-John Perse präsentieren, werden diesen Spitzerschen Auftrag mit ihren Schülern zum einen im Arbeitsprogramm Poetik und Hermeneutik der „Konstanzer“ Schule“, an dem auch der DDR- Romanist Werner Krauss teilnimmt, dessen Grundprobleme der Literaturwissenschaft 1968 in rowohlts deutscher enzyklopädie erscheinen, zum anderen in den literatursoziologischen Studien der „Heidelberger Schule“ (die die französische Literatur vom Mittelalter über die Klassik bis in die Gegenwart unter Einschluss des Chansons z. B. zum Gegenstand hatten) mit internationalem Erfolg realisieren. IX Natürlich gab es neben der „Konstanzer“ und der „Heidelberger“ noch andere „Schulen“ wie die strukturalistische um Harald Weinrich, und es gab vor allem auch in derartige Gruppierungen nicht eingebundene Hochschullehrer, die Ende der 60er Jahre an fast allen der ca. 30 bundesdeutschen Universitäten das „Fach“ Romanistik vertreten, das von Tausenden Studenten belegt wird, die (noch) mehrheitlich „Französistik“ (meistens für den Lehrberuf) studieren (auch wenn diesem Zweig der Romanistik zunehmend die Hispanistik Konkurrenz macht). Eine fachgeschichtliche Aufarbeitung der Romanistik freilich hat immer noch nicht stattgefunden, und sie beginnt auch erst langsam nach 1968, als sich die Studentenunruhen von Paris auch über den Rhein hinweg ausweiten. Die Erklärung dafür dürfte in jener verwirrend widersprüchlichen und gleichzeitig komplementären Entwicklung des Faches nach 1945 zu suchen sein, die von Verdrängung, Rückeroberung und Ausweitung der Horizonte bestimmt war und mit der es gelungen war, Discussion 260 den Mythos zu etablieren, dass die Romanistik und speziell die Französistik von der Sache her für nationalistische Entgleisungen unanfällig (gewesen) sei, was nicht zuletzt dadurch erwiesen schien, dass man als junger Romanist um 1968 durchaus mit jenen Autoren vertraut sein konnte, die - wie Althusser, Barthes, Beauvoir, Lévi-Strauss, Merleau-Ponty oder Sartre - in Frankreich die revoltierenden Studenten inspirierten. Dennoch führten die Ereignisse von 1968 zu Veränderungen in der bundesdeutschen Romanistik/ Französistik, wobei entscheidende Impulse sowohl von der Politologie als auch der Soziologie und der Geschichtswissenschaft ausgingen, in der - bezeichnende Parallele zur romanistischen Entwicklung - engagierte Altnazis wie Werner Conze und Walther Kienast bereits zu Beginn der 50er Jahre für einen Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach dem Vorbild der sozialgeschichtlichen Annales-Schule der Bloch, Lefebvre, Braudel, Labrousse plädiert hatten, ein Neubeginn, der sich dann auch glücklicherweise unter dem methodologisch-ideologischen Einfluss ehemaliger deutscher Emigranten oder Widerstandskämpfer wie Wolfgang Abendroth, Joseph Rovan oder Alfred Grosser, aber auch insgesamt der Frankfurter Schule, vor allem im Bereich der deutschfranzösischen Beziehungen realisierte. Dabei kam es notwendigerweise zu einer Revision der deutschen Frankreichgeschichtsschreibung insgesamt für die stellvertretend Gilbert Ziebura genannt sein soll, und der sogenannten „Frankreichkunde“ im besonderen, die zum Studienprogramm der Französistik-Studenten und in didaktischer Version zum Französisch-Unterricht an den Schulen gehörte und die nach 1945 unter Beibehaltung methodologischer Prämissen national-psychologischer Tradition (deutschen- und französischen „Wesens“) unbeirrt weiterbetrieben worden war. Es blieb jüngeren Forschern wie Robert Picht, engagiert im deutschfranzösischen akademischen Austauschdienst und ab 1972 Leiter des DFI, Gisela Baumgratz, Heinz-Gerhard Haupt, Ingo Kolboom, Lothar Peter und (vor allem) Hans Manfred Bock und Roland Höhne, beide später Professoren an der Universität Kassel, vorbehalten, zu Beginn der 70er Jahre die (französische) „Landeskunde“ einer derart grundlegenden Kritik zu unterziehen, dass ihr selbst der Begriff „Landeskunde“ zum Opfer fiel. Sie wurde - auch durch Beschlüsse der Fachverbände der Romanisten und Französischlehrer - durch die Konzeption einer interdisziplinären, sozialgeschichtlich-politischen und kulturellen „Landeswissenschaft“ ersetzt, die auch die modernen Medien wie Film- und Fernsehen mit einbezog und Völkerpsychologismen unseligen Angedenkens aus ihrem Vokabular verbannte. X Die Kritik der „Landeskunde“ fiel zusammen mit dem Beginn der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der romanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft, ausgelöst durch einen Aufsatz, der 1972 in der Berliner Zeitschrift Das Argument erschien und in dessen Mittelpunkt Curtius’ Essay-Band Deutscher Geist in Gefahr von 1932 stand, der nach 1945 schlicht in Vergessenheit geraten war. Das in Discussion 261 diesem Aufsatz konstatierte Versagen der Romanistik/ Französistik im Dritten Reich und die damit verbundene Anschuldigung, das Fach sei von seinen Anfängen bis 1945 mit wenigen Ausnahmen völkisch anti-französisch und darüber hinaus (bis in die westdeutsche Gegenwart hinein) grundsätzlich anti-republikanisch, antisozialistisch und anti-kommunistisch gewesen, wurde vom damaligen Vorsitzenden des 1953 gegründeten Deutschen Romanisten-Verbandes (DRV), Jürgen von Stackelberg, in derselben Zeitschrift zunächst empört zurückgewiesen. Zur Überraschung vieler Fachvertreter war damit die Debatte aber keineswegs beendet. Im Gegenteil: nicht nur, dass sich immer mehr jüngere Fachvertreter für Klärung der Vorwürfe einsetzten und für Reform der Fachkonzeption plädierten: dem DRV wurde der Antrag vorgelegt, zum Ausweis seiner republikanischen Gesinnung und seiner Solidarität mit kommunistischen Kollegen speziell in Frankreich auf seiner nächsten Tagung 1973 den unheilvollen und heute von allen Seiten als undemokratische Entgleisung bewerteten, von der Brandt-Regierung zur Absicherung der Ostpolitik verabschiedeten „Radikalenerlass“ mit seinem Berufsverbot für Kommunisten im öffentlichen Dienst zu verurteilen, der sogar noch ehemalige deutsche Emigranten traf, die in der Résistance engagiert gewesen waren. Wieder einmal ereignete sich ein Wunder in den deutsch-französischen Beziehungen: nicht nur, dass sich französische Intellektuelle und Schriftsteller aller Couleurs von Aragon, Pierre Barberis und Roland Barthes über Robert Escarpit, Etiemble bis zu Robert Merle, Claude Prévost und Jacques Seebacher dem Antrag anschließen, der DRV legt tatsächlich - nicht zuletzt dank des inzwischen überzeugten Stackelberg - ein Bekenntnis zur Meinungsfreiheit ab und verurteilt den „Radikalenerlass.“ Und an nahezu allen romanistischen Instituten Westdeutschlands beginnen Diskussionen über das Fach und speziell die Französistik, seine Geschichte, seine Methodik und seine Ziele, ja es kommt auch - trotz Widerstandes mancher Fachvertreter - zu institutionellen Änderungen. Der DRV richtet reform-orientierte Landeskunde-Sektionen ein. Das DFI unter der Leitung von Picht gründet einen Arbeitskreis zur Begründung einer neuen Landeswissenschaft. An der TU Berlin wird bereits 1973 eine Assistentur für Landeswissenschaft geschaffen und Forschung und Lehre auch auf die modernen Medien ausgeweitet, und in Giessen und Kassel werden pluridisziplinäre Studiengänge für Romanistik und speziell Französistik eingerichtet, in denen die Landeswissenschaft entscheidende Rollen spielen. Genauso bemerkenswert: an der TU Berlin wird 1974/ 75 eine Zeitschrift für interdisziplinäre Frankreichforschung gegründet, die zu Ehren der französischen Résistance den Namen Lendemains. Etudes comparées sur la France tragen und 1976/ 77 mit den Schwerpunkten Aufklärung sowie Probleme der künstlerischen Produktion heute die erste Zusammenarbeit von BRD- und DDR-Romanisten vorlegen wird. Lendemains erscheint noch heute, wird von einem deutsch-französischen Gremium unter Leitung von Wolfgang Asholt und Hans Manfred Bock herausgegeben und erforscht - auf Deutsch und Französisch - in Dossiers, Einzelbeiträgen und Rezensionen den gesamten soziokulturellen Bereich der frankophonen Welt (von Politik und Ökonomie über Literatur, Malerei und Discussion 262 Musik bis hin zu Photographie und Sport) vom Mittelalter bis heute ohne auf Frankreich beschränkt zu bleiben: die Studien erstrecken sich auch auf die weltweit-französische Kultur von Afrika bis Kanada. Ab 1976 erscheint dann die vom Köhler-Schüler Henning Krauss gegründete und zusammen mit einem deutsch-französischen comité de rédaction, dem u. a. Bernard Bray, Michel Delon, Hans-Jörg Neuschäfer, Fritz Nies, Jacques Proust und Dietmar Rieger angehören, bis heute herausgegebene Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte - Cahiers d’histoire des lettres romanes. Sie veröffentlicht neben historisch-soziologisch orientierten Arbeiten zu den anderen romanischen Literaturen vor allem Untersuchungen zur französischen Literatur- und Kulturgeschichte sowie zur Fachgeschichte und unterrichtet von den Treffen und Beschlüssen der Fachverbände. Genauso bemerkenswert: die 1972 begonnene Diskussion über die kompromittierende Fachvergangenheit der Romanistik und speziell der Französistik veranlasste Frank-Rutger Hausmann, habilitiert bei Hugo Friedrich, sich intensiver mit der romanistischen Fachgeschichte zu befassen, nicht ahnend, dass er von diesem Thema nie wieder loskommen würde. Denn was er in unerschöpflicher Arbeit an deprimierender Dokumentation aus Archiven ans Tageslicht beförderte, übertraf die schlimmsten Befürchtungen. Ohne hier auf die von Hausmann vorgelegten Bestandsaufahmen im einzelnen einzugehen, sei nur festgestellt, dass dank seiner Arbeit das total im „Dritten-Reich“ verstrickte Fach Romanistik, das mit Werner Krauss nur einen einzigen aktiven Widerstandskämpfer gegen das Nazi- Regime besessen hatte, heute über die wahrscheinlich am ausführlichsten aufgearbeitete Geschichte eines geisteswissenschaftlichen Fachs in der Zeit von 1933 bis 1945 (und danach) verfügt, die mit der nahezu tausendseitigen Bilanzierung „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“ -Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“ 2000 seinen vorläufigen Abschluss fand, zuvor aber u. a. den DRV dazu anregte, 1987 eine Sektion seiner Tagung in Freiburg dem Thema Deutsche Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus zu widmen. Die Beiträge, in der editorischen Vorbemerkung expressis verbis als „Anfang“ der noch zu leistenden Aufarbeitung präsentiert, erschienen - herausgegeben von Hans Helmut Christmann und Hausmann in Zusammenarbeit mit Manfred Briegel - im Jahr des Mauerfalls 1989, was wohl exemplarischer als alles andere die unendlich lange Zeit der Geburtswehen einer neuen Frankreichforschung im westlichen Teil Deutschlands dokumentiert. XI Den Fall der Mauer vom 8.-9.11.1989 und seine eventuellen Konsequenzen für das deutsch-französische Verhältnis analysieren Hans Manfred Bock und Michael Nerlich bereits am 18.11. und am 30.11. in einem Briefwechsel, der noch 1989 in Heft 55/ 56 von Lendemains, das der Zweihundertjahre Feier der Französischen Revolution gewidmet ist, erscheint und bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Die Freude über das historische Ereignis ist uneingeschränkt, die Discussion 263 damals noch immer für undenkbar gehaltene Wiedervereinigung wird optimistisch als Möglichkeit in Betracht gezogen und der Hoffnung ist Ausdruck verliehen, dass in diesem - wie auch immer politisch strukturierten - neuen Deutschland die Zusammenarbeit mit Frankreich trotz aller Probleme, die sich aus der deutschdeutschen Annäherung und der damit notwendigerweise verbundenen geographischen Marginalisierung Frankreichs ergeben werden, das Fundament der zukünftigen Europapolitik bleiben wird. „Der deutsch-französische Bilateralismus, der streckenweise in institutioneller Routine erstarrt zu sein scheint,“ schrieb Bock, „könnte seine oft beschworene europäische Lokomotiv-Funktion erneuern, indem er sich als Vorklärungs- (wenn nicht als Vordenker-) Instanz für eine europäische Lösung der deutschen Frage erweist.“ Genauso inständig hofften Bock und Nerlich, dass nun endlich auch die vorzügliche ostdeutsche Romanistik bzw. die Frankreichforschung in dem von der Mauer befreiten Osten Deutschlands freier aufblühen und dem deutschfranzösischen Verhältnis insgesamt die Impulse verleihen könne, die sie bereits seit 1945 unter allergrößten Schwierigkeiten dem (ost)deutsch-französischen Verhältnis hatten verleihen wollen. Denn natürlich beseelte die Sehnsucht nach Rückkehr zu einem zivilisierten Verhältnis zu Frankreich und damit zur Rekonstruktion der eigenen kulturellen Identität auch die Menschen in der sowjetisch besetzten Zone bzw. der späteren DDR, die im übrigen - als kommunistischer Staat - vor ganz anderen und doch ähnlichen Problemen stand wie der Westen des Landes. Denn was für Frankreich die Bürde der Collaboration und für die BRD die Nazi- Vergangenheit vieler westdeutscher Prominenter in allen Bereichen gewesen war, war für die SBZ/ DDR, in die zahlreiche namhafte Exilanten von Becher über Brecht oder Anna Seghers bis zu Arnold Zweig aus dem Ausland zurückgekommen waren, der Deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1939, das durch diesen ausgelöste Verbot der Kommunistischen Partei (FKP) in Frankreich und dessen - durch die Politik Stalins verursachtes - taktisches Lavieren bis zum Einfall der Nazi- Armee in die UdSSR 1941, das später vom Engagement der FKP in der Résistance abgelöst worden war. Ohne hier auf die widersprüchlich-wechselvolle Rolle einzugehen, die - zum Teil namhafte - deutsche Résistance-Kämpfer in der SBZ bzw. seit 1949 in der DDR gespielt haben oder spielen mussten, sei nur festgestellt, dass Frankreich in der DDR und dank der Bedeutung, die die FKP in der Résistance und als politische Partei im Nachkriegs-Frankreich besessen hatte, eine ebenso komplexe wie entscheidende, wechselhafte, manchmal widersprüchliche, immer aber wesentliche und grundsätzlich positive Rolle in der geistigen Landschaft der DDR gespielt hat. Dabei war durchaus relevant, dass der Anknüpfungspunkt an die Geschichte im Bemühen um deutsche Selbstfindung in der SBZ/ DDR nicht ein mittelalterlichabendländischer Kulturmythos war, sondern die Geschichte der Aufklärung, der Französischen Revolution mit ihren republikanischen Idealen, der Commune von Paris sowie der Résistance gegen den Nazi-Okkupanten, auch wenn dieser Prozess einer Rekonstruktion (ost)deutscher Identität im Dialog mit dem linksrepubli- Discussion 264 kanischen Frankreich von Opportunismen aller Art, ideologischen Entgleisungen und (tages)politischen Intrigen begleitet werden sollte. Wie aber auch immer: ein kommunistisches Deutschland konnte diese Vergangenheit Frankreichs nicht ausleben, in deren Tradition eben jene FKP stand, derer die DDR bedurfte, um den Kontakt zum europäischen Westen aufrecht zu erhalten, ein Kontakt, der auch von konservativ-gaullistischen Kräften - als Gegengewicht zur BRD und zu ihrem eventuellen oder tatsächlichen Atlantismus - und im übrigen auch von Frankreichs Handel und Industrie nie preisgegeben wurde. Seit ihrem Wiederbeginn 1946/ 1947 war Frankreich u. a. auf der Leipziger Messe vertreten, die ab 1955 ein ständiges Büro in Paris hatte, nahm dort den größten Raum unter den westlichen Nationen ein und wird zu einem der wichtigsten Handelspartner, was auch durch offizielle Abkommen besiegelt wird. Zwar wird das Gesamtvolumen des Handelsvolumens zwischen der DDR und Frankreich nie mehr als 10% des gesamten deutsch-französischen Handelsvolumens ausmachen, erreicht damit aber - bezogen auf die Einwohnerzahlen von Deutschland-Ost - für die DDR ca. 50% des westdeutschfranzösischen Handels, was für die DDR erheblich war und u. a. erklärt, wieso es bereits 1970, drei Jahre vor der offiziellen Anerkennung der DDR durch Frankreich, zur Einrichtung einer ständigen Repräsentanz der französischen Industrie in Berlin/ DDR kommt. XII Die speziellen Beziehungen der DDR zu Frankreich sind für die SED-Führung in jeder Hinsicht ausgesprochen mehrschneidig. Zwar eröffnet die Verbundenheit mit dem republikanischen und auch nach dem Ausscheiden der FKP aus der ersten Nachkriegsregierung 1947 nur mit Massen zu verteufelnden kapitalistischen Weststaat Frankreich und speziell mit der dort politisch auf allen Ebenen bedeutenden FKP ein wenig autonomen Spielraum in der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, die die Grundzüge der DDR-Politik bestimmte. Doch steckt sie andererseits auch innenpolitische Grenzen ab, die nicht überschritten werden können, was vor allem für die Kulturpolitik der DDR gilt. Denn obwohl in den ersten Nachkriegsjahren auch von verschiedenen Theoretikern der FKP das Konzept des réalisme socialiste nach sowjetischem Vorbild propagiert wird und die FKP darüber hinaus immer wieder Konflikte mit zeitgenössischen Künstlern, Literaten und Philosophen wie - um nur diese zu nennen - Camus, Sartre, aber auch Aragon gehabt hatte, zieht dies doch - nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass Künstler und Schriftsteller aus dem gesamten Spektrum der französischen Kultur von traditionell-klassizistischer bis zu avantgardistischer Formensprache in der Résistance, ja, zum Teil (von Aragon oder Eluard bis zu Seghers oder Vailland) in der FKP engagiert gewesen waren - keine dogmatisch-exklusive Normierung nach sich. Dass dies für eine Partei, die u. a. ein Mitglied namens Pablo Picasso hatte, auch verwunderlich gewesen wäre, sei im übrigen ebenso bemerkt wie die Tatsache, dass die Politik der UdSSR nicht unbedingt dazu angetan war, die Kultur- Discussion 265 politik der FKP langfristig zu beeinflussen, was kaum ein anderes Publikationsorgan deutlicher ausdrückte, als die in der Résistance gegründeten und von Aragon seit 1953 herausgegebenen Lettres Françaises, die - trotz ihres kommunistischen Engagements - offen für die Freiheit künstlerischer Produktion eintraten und nach der von ihr als „geistiges Biafra“ verurteilten Niederschlagung des Pager Frühlings 1968 ebenso offen die sowjetische Kulturpolitik verurteilten. Mit anderen Worten: die Zusammenarbeit mit Frankreich im allgemeinen und mit der FKP im besonderen musste notwendigerweise sowohl zu konfliktuellen Rezeptionsstrategien als auch zu kulturellen Horizonterweiterungen führen und - zumal nach Stalins Tod 1953 - auch in der DDR den Abbau dogmatischer Normierungen im künstlerisch-literarischen Bereich beschleunigen. Das wird ganz exemplarisch deutlich, als Brecht und das Berliner Ensemble, die in Berlin selbst als formalistisch-dekadent kritisiert wurden, beim ersten Festival International d’Art dramatique de Paris triumphal den ersten Preis davontragen, die Kritik begeistern und die französische Dramenproduktion und Regiepraxis (mit Planchon, Vilar und Vitez an der Spitze) revolutionieren: niemand in der DDR wird von da an das Konzept des epischen Theaters mit seinem V-Effekt mehr ernsthaft als „Formalismus“ in Frage stellen, was Rückwirkungen auf alle anderen Bereiche der Kulturproduktion bis hinein in die DDR-Wissenschaft von der französischen Literatur haben sollte, zumal einer ihrer wichtigsten Vertreter, Werner Krauss, bereits 1950 in einem programmatischen Aufsatz in Sinn und Form über Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag für die Entfaltung nicht-normativer Formgestaltung des Individuellen im Sozialismus plädiert hatte. XIII Obwohl diese Position damals durchaus den Unmut der Zensoren erregte, bestimmte sie doch bereits seit 1945 wesentliche Teile des geisteswissenschaftlichen Forschung und speziell der Französistik in der SBZ, wofür neben Krauss u. a. auch Victor Klemperer verantwortlich zeichnete, mit dem die SED-Dogmatiker ganz ähnliche Probleme hatten wie mit Krauss und damit mit der FKP und der französischen Kultur insgesamt. Denn so wie die FKP auf Grund der republikanischen Geschichte Frankreichs, der sie entstammte und deren Ideale sie vertrat, und auf Grund ihres Engagements in der Résistance, waren auch Klemperer, dessen LTI. Die unbewältigte Sprache bereits 1947 im Aufbau-Verlag erschienen war, im Westen aber erst 1966 herauskam, und Krauss, der sich als Mitglied der Roten Kapelle aktiv am Widerstand gegen die Nazis beteiligt hatte und 1943 zunächst zum Tode und 1944 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, öffentlich so gut wie unangreifbar. Und Krauss z. B., der seine Laufbahn als Hispanist begonnen und in den 20er Jahren in Madrid mit DADAisten und Surrealisten zusammengelebt hatte, war nie bereit, Avantgardekunst mit dogmatischem Tabu zu belegen. Bereits 1936 hatte er mit Corneille als politischer Dichter einen antinazistischen Schlüsseltext veröffentlicht, und mit gefesselten Händen verfasste Discussion 266 er 1943/ 44 in der Todeszelle seinen kafkaesken Widerstandsroman PLN (Postleitnummer), der - aus dem Gefängnis geschmuggelt - 1946 bei Klostermann in Frankfurt erschien. 1945 trat Krauss der KPD bei, erhielt seine Professur an der Universität Marburg zurück, nahm jedoch 1947 einen Ruf nach Leipzig an. 1948 in den Parteivorstand der SED aufgenommen, begründete er in Leipzig und - nach der Emeritierung an der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin - mit seinen Schülern (u. a. Werner Bahner, Martin Fontius, Hans Kortum, Manfred Naumann, Ulrich Ricken und Winfried Schröder) mit Studien zur Aufklärung die international bedeutendste deutsche Schule romanistischer Frankreichforschung der Nachkriegszeit, der in der BRD nichts Vergleichbares gegenüberstand und die sich nicht nur in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern auch in vorzüglichen Editionen deutscher Übersetzungen französischer Aufklärungsliteratur von Pierre Bayle über Condillac, Diderot, Du Marsais oder Helvétius und Holbach bis zu Rousseau oder Voltaire niederschlug, und zwar nicht nur in Wissenschaftsverlagen, sondern z. B. auch in Reclams Universal-Bibliothek in Leipzig. Damit allerdings war weder eine einseitige Festlegung der Forschung noch eine Beschränkung der Verlagsproduktion auf Texte der französischen Literatur der Aufklärung verbunden. Abgesehen davon, dass Krauss nie seine eigene Vorliebe für avantgardistische Formensprache preisgab, wie sein surrealistischer Schlüsselroman Die nabellose Welt gegen die SED-Dogmatik beweist, der - in den 60er Jahren verfasst - in der BRD erscheinen sollte, tatsächlich aber erst 2001 posthum ediert wurde: 1945 erhält auch Victor Klemperer, seinen Lehrstuhl in Dresden zurück, von dem er 1935 als „Jude“ von den Nazis verjagt worden war. Zwar hatte auch Klemperer, der wie Krauss 1945 der KPD beitritt, seine Romanistenlaufbahn mit einer Arbeit zur französischen Aufklärung, einer Habilitation über Montesquieu, begonnen und wird 1954 noch den ersten Band seiner Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert im Deutschen Verlag der Wissenschaften herausgeben. Doch Klemperer, der seit 1950 als Vertreter des Kulturbundes der DDR Abgeordneter der Volkskammer sowie Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften ist und dessen Assistentin seit 1951, Rita Schober, seine Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl an der Humboldt-Universität, ebenfalls hohe Funktionen in der Kulturpolitik der DDR ausüben wird, was sie nicht hindern sollte, von Boileau über Balzac oder Roland Barthes bis zu Zola zu arbeiten und zu Beginn des 21. Jahrhunderts das wiedervereinte Deutschland mit Michel Houellebecq bekanntzumachen, wird als Romanistik-Professor in Dresden, Greifswald, Halle und von 1951 bis 1954 an der Humboldt-Universität Berlin an seine frühere Auseinandersetzung mit der neueren französischen Literatur anknüpfen. So wird er u. a. 1948 seine kommentierte Anthologie Die moderne französische Prosa 1870-1920 von 1923 wieder bei Teubner/ Leipzig edieren, was ihm am 25.03.1949 in der Täglichen Rundschau, die von der sowjetischen Militärverwaltung herausgegeben wird, eine wütige Rezension unter dem Titel Ein schlechter Dienst an der deutschen Jugend aus der Feder von Stephan Hermlin eintragen wird, weil Klemperer u. a. weder Maurice Barrès noch Charles Maurras aus seiner Text- Discussion 267 sammlung verbannt, dafür aber Aragon, Benda und Jean-Richard Bloch in diese nicht aufgenommen hat. XIV Dass man darüber tatsächlich geteilter Meinung sein konnte, liegt auf der Hand, sei hier aber erwähnt, um deutlich zu machen, wie prekär jede - von welchem SED-Ideologen und welcher Kontrollinstanz auch immer - als nicht-„linientreu“ eingestufte Publikation gewesen ist, und das waren im Grunde alle Texte seit Homer. Und tatsächlich war jede Buchproduktion wegen der kontingentierten Planung, die bei der Papierzuteilung begann, und natürlich wegen der - offiziell zwar inexistenten, nachgewiesenermaßen aber real-existenten - Zensur jenes „unkalkulierbare Abenteuer“, von dem Simone Barck, Marina Langermann und Siegfried Lokatis in ihrer Geschichte der DDR-Zensur sprechen und das Editoren und Autoren zur Verzweiflung und immer wieder zur „Republikflucht“ trieb. Umso wichtiger, dass untadelige Vergangenheit in der NS-Zeit, wissenschaftliches Ansehen und - im Fall Frankreichs - internationale Verbündete wie die FKP einen gewissen Spielraum gewährten, was natürlich auch für Klemperer und Krauss sowie für ihre Schüler bzw. Mitarbeiter galt. Krauss konnte sogar politisch in Ungnade gefallene Schüler vor dem beruflichen Aus bewahren, was nur mit dem moralisch-wissenschaftlichen Prestige zu erklären ist, das er u. a. mit Klemperer teilte, der wohl nie wieder so angerempelt wurde wie durch Hermlin, ja, dem 1975 - um nur dies zu erwähnen - von dem damals noch ganz linientreuen Rolf Schneider in seinem Reisebuch Von Paris nach Frankreich ein langes Kapitel gewidmet ist, in dem Schneider Victor Klemperer posthumen Dank dafür sagt, in ihm, dem Germanistik-Studenten, der „mitsamt vielen anderen, die auch keine Romanisten waren“, Klemperers Vorlesungen (z. B. über die französische Literatur des „Spätmittelalters“) besuchte, die Faszination für Frankreich und die französische Literatur geweckt zu haben. Schneider, der LTI in Erinnerung ruft, schließt besorgt: „Über seiner Gestalt und seinen Arbeiten liegt wie ein Schatten die sanfte Gefahr des Vergessenwerdens. Aber wer jemals einen seiner Texte gelesen hat oder wer ihn gar persönlich erlebte, ihm wird diese Gefahr lächerlich erscheinen [...] ich habe ihn sehr geliebt.“ Man kann die politische Bedeutung von Klemperer, der vom vereinigten Deutschland nach dem Fall der Mauer (wieder)entdeckt wurde, und Krauss nicht überschätzen, denen vorrangig zu danken ist, dass die Romanistik und damit die Französistik an allen Universitäten der SBZ/ DDR beibehalten wurde, was unter den skizzierten Bedingungen extrem schwierig war, schlug doch auch hier die vielfältig widersprüchliche Beziehung von SED/ DDR und FKP/ Frankreich durch. Denn selbstverständlich hatten alle kulturpolitischen Entscheidungen der FKP auch ihre Auswirkungen auf die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der französischen Gegenwartsliteratur, was sich nicht nur in Schwierigkeiten in der akademischen Forschung, sondern auch in der Buchproduktion auswirkte. Denn Discussion 268 wenn auch bestimmte Texte ungedruckt blieben, so konnte man doch nicht ernsthaft das Erscheinen aller Werke (zeitgenössischer) französischer Autoren von Aragon oder Camus (um den sich u. a. Brigitte Sändig verdient machte) über Duras, Gide, Genet, Giraudoux, Ionesco, Le Clézio, Malraux, Mauriac, Merle, Montherlant bis zu Prévert, Proust, Françoise Sagan, Saint-Exupéry, Sarraute, Sartre (für den sich Vincent von Wroblewsky engagierte) oder Claude Simon verhindern... von einem Georges Simenon ganz zu schweigen. Und dass Karlheinz Barck 1986 bei Reclam in Leipzig mit Surrealismus in Paris 1919-1939 die umfangreichste Anthologie surrealistischer Dichtung in deutscher Übersetzung herausgeben konnte, rundet das Bild zu dem ab, was die DDR insgesamt war: ein ausgesprochen widersprüchliches Gefüge, in dem es unendlich viele recoins et cachettes gab, in denen man auf volkseigene Amiga-Schallplatten gebrannte Lieder von so gut wie allen namhaften Chansonniers hören konnte: von Adamo, Aznavour, Bécaud, Brassens über Sascha Distel und Juliette Gréco bis zu Edith Piaf, Charles Trénet und Yves Montand, über die man sich auch publizistisch informieren konnte. Und wer dies nicht glauben sollte, möge sich u. a. in Ernst Günthers Geschichte des Variétés informieren, die 1978 im ebenfalls volkseigenen Hensel-Verlag (Berlin) erschien und in der auch erste Informationen über Johnny Hollyday [sic] und Mireille Mathieu verbreitet wurden, welch letztere zum ersten Mal 1972, ein Jahr vor der Anerkennung der DDR durch Frankreich, im Friedrichstadtpalast (so wie 2007 in Paris bei der Wahl von Sarkozy) ein Massenpublikum begeisterte (wer übrigens noch mehr über französische Chansonniers aus DDR- Quellen erfahren möchte, der sei an die Artikel Brel, Ferré, Ferrat in dem von Manfred Naumann und anderen DDR-Romanisten herausgegebenen, vorzüglichen Lexikon der französischen Literatur verwiesen, das 1987 im VEB Bibliographisches Institut Leipzig erschien und in dem der DDR-Bürger auch Informationen über die zeitgenössischen Autoren erhalten konnte, deren Werke in der DDR nicht erscheinen durften oder konnten). XV Das alles war umso wichtiger, als die SED-Führung der grundsätzlich unaufhaltsamen Rezeption französischer Kultur und Literatur, die durch eingeschmuggelte Importe oder Radio-, Fernsehsendungen, Filme und Theateraufführungen noch unkontrollierbarer wurde, mit sprachpolitischer Restriktion gegensteuerte. War in der ersten Nachkriegszeit die Nazi-Verankerung des Englischen als erster Fremdsprache durch die Wahlmöglichkeit von Englisch, Französisch und Russisch als gleichberechtigter erster Fremdsprache in den Grund- und Oberschulen der DDR aufgehoben worden, so erfolgte 1950/ 51 ein für das Französisch absolut verhängnisvoller Umbruch. Russisch war von nun an die obligatorische erste Fremdsprache, während Englisch und Französisch als zweite Fremdsprache gleichgestellt wurden, was den Umfang des Unterrichtes natürlich erheblich einschränkte. Schlimmer noch: mit der Einführung der einheitlichen Polytech- Discussion 269 nischen Oberschule wurden Englisch und Französisch zur fakultativen zweiten Fremdsprache degradiert, was vor allem für das Französische verheerende Folgen hatte. Nicht nur, dass unzählige Schüler aus den verschiedensten Gründen ganz auf das Erlernen einer Zweitsprache verzichteten: von den Schülern, die 1975/ 56 eine zweite Fremdsprache hätten lernen können, wählten 56,7% Englisch und nur noch 4,5% Französisch. Daraus auf ein grundsätzliches Desinteresse an der französischen Sprache zu schließen, wäre allerdings mehr als problematisch. Vielmehr dürfte - wie auch der Verzicht von 38,8% der Schüler auf das Erlernen einer zweiten Fremdsprache nahelegt - die Angst davor, den Schulabschluss nicht zu schaffen, entscheidend gewesen sein, zumal Französisch traditionell als eine - im Unterschied zum Englischen - schwierig zu erlernende Sprache galt, ganz abgesehen von den utilitaristischen Gründen, zu denen auch die von Ulrich Pfeil angeführte Tatsache zählen dürfte, dass Englisch „über Westfernsehen und -radio“ „weitaus präsenter“ war als Französisch. Dazu kam im übrigen ein erheblicher Mangel an Französischlehrern, der u. a. wegen der Kontingentierung der Zulassungszahlen für Französisch-Studenten nur schwer zu beheben war und dazu führte, dass an vielen Schulen Französischunterricht wegfiel, obwohl er laut Lehrplan hätte angeboten werden müssen, ganz davon abgesehen, dass praktisches Erlernen der Sprache in Frankreich durch das absurde Reiseverbot für Jugendliche und Kinder so gut wie unmöglich war. Zwar gab es seit 1950 bereits Versuche, Austauschprogramme zwischen Frankreich und der DDR einzurichten, und es wurden u. a. Vorträge und Ausstellungen organisiert und die ersten Partnerschaften zwischen (meist kommunistisch regierten) Städten Frankreichs und der DDR initiiert, wobei es natürlich auch zur Entsendung von DDR-Delegationen kam. Ja, seit 1958/ 59 existierte auch ein Freundschaftsverein für Kulturaustausch (Echanges franco-allemands - EFA), der den westlichen Organisationen Konkurrenz machen sollte. Zu einem tatsächlichen Austauschprogramm für Aufenthalte von Schülern und Jugendlichen im jeweils anderen Land kam es jedoch nicht, da sich die Begegnungen weitgehend auf Ferienaufenthalte französischer Jugendlicher im Kontext von FDJ-Aktivitäten beschränkten und keinerlei Vergleich mit dem massenhaften Jugendaustausch zwischen Frankreich und der BRD aushielten, den vor allem das DFJW/ OFAJ organisierte. Das führte natürlich zu einem geradezu schwindelerregenden Ungleichgewicht zwischen direktem, Spracherwerb ermöglichenden Aufenthalt in Frankreich und dem nachweisbaren Bedürfnis der DDR-Bevölkerung nach kulturellem Kontakt mit Frankreich, ein Bedürfnis, das überdeutlich wird, als Frankreich am 26.01.1984 endlich ein Centre Culturel in Berlin, Hauptstadt der DDR, eröffnet. Seine Veranstaltungen werden von dem Publikum überrannt, das nicht nach Frankreich fahren darf, wo die DDR im Gegenzug am 12.12.1983 in einem Prachtbau im Pariser Quartier Latin ihr Kulturzentrum (KUZ) eröffnet, mit dem sie vor allem Werbung für die DDR im Konkurrenzkampf mit der BRD und speziell mit dem Goethe-Institut und der Maison Heinrich Heine betreiben will und dabei u. a. die DDR als einen Staat repräsentiert, der seine Existenz einer mit Frankreich Discussion 270 gemeinsamen Entwicklung seit der Aufklärung und ihren republikanischen deutschen Ablegern über die Geschichte der Arbeiterklasse bis zur Teilhabe vieler Persönlichkeiten aus Politik und Kultur an der französischen Résistance gegen das Nazi-Regime verdankt. XVI Wie das in der DDR empfunden werden konnte, lässt sich wohl nirgends eindrucksvoller nachlesen als in Inge von Wangenheims Der Goldene Turm. Eine Woche Paris. Die 1912 geborene Schauspielerin und Romanautorin verdankte ihre Einladung zu einer Lesung aus ihren Werken im KUZ 1986 zum einen der Tatsache, dass dort eine große Weimar-Ausstellung stattfand und sie zum Kreis der zeitgenössischen Weimarer Autoren gezählt wurde, was sie (so wie die Ausstellung selbst) in ihrem Tagebuch etwas spöttisch kommentiert. Zum anderen (und wahrscheinlich entscheidender noch) der Tatsache, dass sie auf der Flucht vor den Nazis 1933 zunächst nach Paris verschlagen worden war, was ihr wiederum erlaubt, während des einwöchigen Aufenthaltes das Paris von damals mit dem von 1986 zu vergleichen, ein Vergleich, der nicht immer zugunsten der Gegenwart ausfällt. Das tut auch die Begegnung mit dem KUZ bzw. mit den Repräsentanten (auch der Pariser Wirtschaftsvertretung der DDR) nicht unbedingt, wie man ihren ironischen Formulierungen entnehmen kann: „Ich muss […] der Mahnung [der DDR-Funktionäre] gehorchen, das so weiträumige, unterirdische Tunnel-Labyrinth [der Métro] zu meiden. Ohnehin winkt die Pflicht, mir unser Kulturzentrum genauer anzusehen, vor allem die Weimar-Ausstellung kennenzulernen. Auch dazu bin ich schließlich hergekommen. Ich erfahre: schon allein um des Gebäudes willen, auf dem Boulevard Saint-Germain, werden wir beneidet. Es ist rundum ein Glücksfall […] Erst in Weimar jedoch komme ich dazu, mir die Hauptsache am Ende der Bemühung - das ‘Gästebuch’ der Ausstellung - anzusehen, die Wirkung nachzuvollziehen, die der Einsatz und Aufwand hinterließ. Auf die kommt es letzten Endes an, wenn wir die Effektivität zum Maßstab setzen. Jede Valutamark, die wir ausgeben, zählt mehrfach und bedarf darum gewissenhafter Überlegung.“ Dass Inge von Wangenheim auf mehreren Seiten und völlig unzensiert Einträge in dieses Gästebuch der KUZ zitiert wie z. B. „Wie schade, dass es nicht die Bürger der DDR sehen können.“, oder aus französischer Feder: „Bravo! Wünsche eine möglichst baldige Wiedervereinigung Ihres Vaterlandes, das soviel zur Kultur beigetragen hat.“, mag „Kalten Kriegern“ von heute noch immer so unwahrscheinlich erscheinen, wie die Begegnung, die die Ostdeutsche Inge von Wangenheim aus Weimar/ DDR mit einer „Berliner Landsmännin“, jedoch Bürgerin der BRD während dieses kurzen Aufenthaltes in Paris hat, wo sie sich blitzartig anfreunden. Diese „Berliner Landsmännin“ heißt Barbara Vormeier, lehrt als Historikerin an der Université Lumière-Lyon II Geschichte und hat u. a. für den Band Deutsche Emigranten in Frankreich - Französische Emigranten in Deutschland (1645-1984), Discussion 271 der vom Pariser Goethe-Institut und dem Französischen Außenministerium 1984 herausgegeben wurde, den Beitrag Die Lage der deutschen Emigranten in Frankreich während des Krieges 1939 bis 1945 verfasst und fragt Inge von Wangenheim: „‘Und wie lange soll das noch mit uns so weitergehen? ’ Ich blicke unwillkürlich hoch, weil mich die Frage, die wir seit einer Woche peinlichst umgingen, um uns nicht gegenseitig zu quälen, nun doch zu einer Antwort zwingt. ‘Sie meinen, mit uns Deutschen’ - ‘Ja, das meine ich.’ ‘Nicht in diesem Jahrhundert.’ ‘Im nächsten...? ’ ‘Vielleicht... wenn wir Glück haben und die Geschichte uns die gewaltlose Lösung zuspielt.’“ XVII Dann trennen sich diese beiden deutschen Frauen wieder, und Inge von Wangenheim, die wie Millionen und Abermillionen ihrer Landsleute Frankreich im Herzen trägt, schreibt ihren Reisebericht, der 1988, im Jahr, da der Adenauer- Preis im Westen gestiftet wird, im Osten erscheint: im Greifenverlag zu Rudolstadt. Im Jahr danach, 1989, fällt die Mauer, und jene Millionen und Abermillionen könnten nun bei voller Reisefreiheit und ohne jegliche Zensur ihre deutsch-französische Kulturidentität ausleben, vervollkommnen und weiterentwickeln: privat, institutionell, politisch. Und tatsächlich reisen die befreiten DDR-Bürger auch in Massen in das Land ihrer Träume und vor allem nach Paris, wo sie natürlich nicht das KUZ besuchen, das kurz zuvor noch Ausgewählten die Reise nach Frankreich ermöglicht hatte. Es wird am 03.10.1990 geschlossen, und das Centre culturel français Unter den Linden, das nach Aussage seines Leiters Dominique Paillarse stets ungehindert hatte agieren und u. a. Tausenden von Ostberlinern Französisch- Unterricht erteilen konnte, wird im September 1991 abgewickelt bzw. dem (west)berliner Institut Français am Kurfürstendamm unterstellt. Doch die Abwickelungen beschränken sich nicht nur auf das Territorium der ehemaligen DDR. Die auf Wunsch der Französischen Botschaft seit Ende der 80er Jahre geplante, 1994 auf dem deutsch-französischen Gipfel begrüßte und 1995 vom Berliner Senat beschlossene Umwandlung der (westberliner) Technischen Universität Berlin, die neben allen technischen-naturwissenschaftlichen auch alle geisteswissenschaftlichen Fächer besaß und mit allen bedeutenden französischen Hochschulen und Forschungsinstituten verbunden ist, wird ohne jegliche Begründung und zum Verdruss der (auf Grund immer knapperer Finanzmittel ohnmächtigen) services culturels der Französischen Botschaft und trotz zahlreicher Proteste in den deutschen Massenmedien von einigen TU-Hochschullehrern auf ein bedeutungslos-philosophisches Zentrum mit dem ephemeren Namen René Descartes reduziert, bevor es 2006 sang- und klanglos an die FU Berlin ausgelagert wird. Gewiss, 1994 hatten Frankreichs Außenministerium und das Ministerium für Forschung und Hochschulwesen in Berlin das Centre Marc Bloch für sozialwissenschaftliche Forschung eröffnet, das - heute der Humboldt-Universität angeschlossen - ab 2001 auch vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Discussion 272 Forschung mitfinanziert wird. Und 1997 bereits hatten Deutschland und Frankreich die Gründung eines Verbundes von mehr als 150 Hochschulen aus beiden Ländern mit Verwaltungssitz in Saarbrücken und Metz beschlossen, dem man den Namen Deutsch-französische Hochschule verleihen und das Master und Bachelor- Diplome in Bereichen wie Betriebswirtschaft, Informatik und Logistik vergeben sollte. Aber was war dies im Vergleich mit dem gescheiterten TU Berlin-Projekt? Die Chance jedenfalls war vertan, in der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland eine deutsch-französische Universität mit allen Fakultäten (denen per Kooperationsabkommen auch die medizinischen angeschlossen werden sollten) zu besitzen und zum Mittelpunkt der deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen in Berlin, ja, vielleicht sogar in Europa zu machen. XVIII Noch aber scheint es aufwärts zugehen. So wird u.a. 2000 eine Académie francoallemande du cinéma gegründet, die - kofinanziert vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien und der französischen Filmförderungsbehörde - Ateliers veranstaltet, Preise verleiht und Stipendien vergibt. Ja, ohne Zweifel, Initiativen dieser Art nehmen in dem Masse zu, in dem sich nach dem Fall der Mauer die Regierungsvertreter Deutschlands und Frankreichs zunächst in Paris und woanders und dann in Berlin und woanders treffen. Z. B. im Schloss von Genshagen, Besitz der 1993 gegründeten Stiftung des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutschfranzösische Zusammenarbeit, oder im Elsässischen Blaesheim. Und fast alles im Kontext der deutsch-französischen Zusammenarbeit wird - bei jeweils feierlichem Anlass wie zum Vierzigjährigen Jubiläum des am 22. Januar 1963 unterzeichneten Elysée-Vertrages - korrekt institutionalisiert: die Abhaltung halbjährlicher deutschfranzösischer Ministerrats-Treffen; die Benennung von Beauftragten für die deutsch-französische Zusammenarbeit (darunter ein Staatssekretariat für die Fragen der kulturellen Zusammenarbeit, dem wir 2008 ein Deutsch-französisches Geschichtsbuch für den Schulunterricht verdanken); ein Deutsch-französischer Tag, der an jedem 22. Januar „die Jugendlichen beider Länder mit dem Nachbarland und seinem kulturellen Reichtum“ bekanntmachen soll und der später noch um die Komponente eines „Entdeckertages“ bereichert wird. Oder die deutschfranzösische Verwaltungs-Zusammenführung von OFAJ und DFJW, das sich 2006 (mit Recht) rühmen kann, „seit 1963 rund 8 Millionen Deutschen und Franzosen die Teilnahme an rund 300.000 Austauschprogrammen und Begegnungen zur Förderung des Erlernens der Nachbarsprache und des Kennenlernens der Kultur ermöglicht“ zu haben. Kurz, die Erfolgsbilanz ist eindrucksvoll, und man fragt sich, wie es kommen konnte, dass trotz allem immer mehr in Sachen deutsch-französische Beziehungen kompetente Deutsche und Franzosen seit der Wiedervereinigung 1990 - wie Pierre Nora - den Eindruck haben, dass sich Deutsche und Franzosen in allen Bereichen - von den Massenmedien (trotz des vorzüglichen, 1992 gestarteten Discussion 273 franko-deutschen Fernsehsenders ARTE) bis zu Kulturereignissen jedweder Art - immer weniger zu sagen haben. Oder wieso 2007 ein gerade neu gewählter Präsident Frankreichs, der von sich berichtete, am Fall der Mauer aktiv beteiligt gewesen zu sein, auf den Gedanken kommen kann, der Europäischen Union - die seit der Osterweiterung mit wachsenden Schwierigkeiten aller Art zu kämpfen hat - das Projekt einer Union für das Mittelmeer als dringlichste Aufgabe Europas anzudienen, statt im Rekurs auf die Grundlagen der deutsch-französischen Freundschaft die europäische Union zu stärken. Der Verdacht drängte sich auf, dass er nicht nur die Geschichte vom Mitwirken am Mauerfall erfunden hatte, sondern dass er mit der deutsch-französischen Geschichte und Kultur insgesamt nicht sehr vertraut war, von der deutschen Sprache ganz zu schweigen, deren Beherrschung ohnehin in Frankreich immer weniger angestrebt wird. XIX So übrigens wie in Deutschland das Erlernen der französischen Sprache, ein Unglück, das von der Herabstufung des Französisch-Unterrichts an deutschen Schulen auf ein nicht-obligatorisches Wahlfach zugunsten des obligatorischen Erlernens des Englischen im Nazi-Imperium seinen Ausgang nahm. Dass hellsichtige Zeitgenossen dies bereits in den ersten Nachkriegsjahren als eine Bedrohung der zukünftigen deutsch-französischen Beziehungen betrachteten, sei mit allem Nachdruck betont, und da wir seit 2003 jeden 22. Januar den Abschluss des Elysée-Vertrages feierlich zu begehen haben, sei gestattet, aus diesem Vertrag vom 22. Januar 1963 zu zitieren: „Die beiden Regierungen erkennen die wesentliche Bedeutung an, die der Kenntnis der Sprache des anderem in jedem der beiden Länder für die deutsch-französische Zusammenarbeit zukommt. Zu diesem Zweck werden sie sich bemühen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl der deutschen Schüler, die Französisch lernen, und die der französischen Schüler, die Deutsch lernen, zu erhöhen.“ Doch obwohl bereits seit 1950 ähnliche Vereinbarungen von beiden Seiten unterzeichnet worden waren, blieben auch nach dem Abschluss des Elysée-Vertrages alle Bemühungen ergebnislos, und mit Ausnahme des Saarlandes blieb es grundsätzlich bei der von Hitler bzw. vom Nazi-Regime verordneten Regelung des Fremdsprachenunterrichts an den (west)deutschen Schulen, die 1955 sogar vom sogenannten „Düsseldorfer“ Beschluss der Ministerpräsidenten festgeschrieben wurden, den - wie Arno Euler 1977 in seinem Aufsatz Zur Entwicklung des Französischunterrichts seit 1945 dokumentiert - Alfred Grosser nicht nur „unglaublich“, sondern auch „den schwersten Misserfolg... bei der undankbaren Arbeit für die deutsch-französische Verständigung seit Kriegsende“ nannte. „Deutsch-französische Kommunikation auf Englisch? “, fragte Euler denn auch entsetzt und befürchtet, dass „selbst französische Kulturpolitiker“ die „Vorrangstellung des Englischen“ inzwischen resigniert akzeptiert hätten, obwohl er mit René Cheval übereinstimmt, dass es skandalös sei, „dass zwei Nachbarn, die sich auf vielen Gebieten […] zu Discussion 274 einer immer intensiveren Kooperation entschlossen haben, nicht alles daran setzen, um auch die sprachliche Kommunikation zu erleichtern? “ Wozu sollten sie dies auch, wenn man - wie Baasner und Teufel 2012 sachkundig feststellen - „natürlich“ „bis heute nicht“ „von einer […] deutsch-französischen Kultur sprechen“ und im übrigen als Deutsche mit Franzosen und umgekehrt auf Englisch kommunizieren kann, was logischerweise ebenso „natürlich“ erklärt, warum man nach 1989 offenkundig zur Einsicht gelangte, dass man (ebenfalls logischerweise) die ebenso kostspieligen wie nutzlosen Instanzen und Institutionen abbauen konnte, die bis dahin ebenso unnötige Kompetenz für derartige Kommunikation bzw. für das Sprechen der jeweils anderen Sprache, also Französisch vermitteln wollten oder sollten. Die Romanistik/ Französistik mit ihren Dozenten für Landes-, Medien- und Kulturwissenschaft z. B. an der TU Berlin oder die Professuren für französische Landeswissenschaft an der Universität Kassel wurden gestrichen, von dem Dutzend anderer deutscher Lehrstühle für französische Sprache und Literatur ebenso abgesehen wie - um Joachim Umlauf mit einer Bilanz von 2001 zu zitieren - von der „Ausdünnung des Netzes der Goethe- Institute in Frankreich (Schließung Marseilles, substantielle Verkleinerung in Toulouse und Lille)“, zu der inzwischen auch die Schließung von Germanistik- Instituten und die Abschaffung des Deutsch-Unterrichts an französischen Universitäten und Schulen gekommen sind. Ganz zu schweigen davon, dass „auch das Réseau der Instituts Français in Deutschland [...] ‘Umstrukturierungen’ erfahren [musste],“ selbst wenn „regelrechte Schließungen durch Umwandlungen beispielsweise von sechs Instituts Français in deutsch-französische Stiftungen und Vereine (Aachen, Essen, Freiburg, Karlsruhe, Kiel, Tübingen) oder Universitätsbüros (Heidelberg, Bonn) vermieden werden konnten.“ Und dass die deutsch-französischen Zeitschriften für Frankreichwissenschaft um ihre Existenz bangen müssen, liegt auf der Hand, denn zum einen ist die Sorge um die deutsch-französischen Beziehungen unbegründet und zum anderen kann man sie auch auf Englisch artikulieren: wozu also Subventionen für Luxusunternehmen? XX Kurz: unter den Totschlagwörtern „Effizienzsteigerung“ oder „Umstrukturierung“ hat man nach 1989 in Frankreich und Deutschland Französistik und Germanistik- Institutionen und damit Kompetenz für die Vermittlung geschichtlich-kulturellen Wissens um deutsch-französische Identität liquidiert, was nach Baasner und Teufel nicht weiter schlimm ist, da es sich - nach ihrer Auskunft - bei der Rede von der deutsch-französischen Kultur eh nur um eine Chimäre handelt und die Kommunikation zwischen beiden Nationen - vor allem in den Bereichen Handel, Wirtschaft und Politik - auf Englisch erfolgen kann. Diese Feststellung ist umso bemerkenswerter, als damit alle gegenteiligen Behauptungen der zuständigen politischen Gremien und Institutionen in den Bereich des Unsinns und - man denke an die Investitionen in Unternehmen zur Förderung des Französisch- und Deutsch- Discussion 275 unterrichts durch die Goethe-Institute, die Instituts Français sowie das OFAJ/ DFJW, von den Schulen und Universitäten ganz zu schweigen - der sinnlos-unverantwortlichen Finanzausgaben verwiesen werden. Zu diesem manifesten Nonsens der offiziellen Verlautbarungen muss wohl auch (immer noch) logischerweise das Strategiepapier gehören, das beim 4. Treffen des Deutsch-Französischen Ministerrat am 26. Oktober 2004 im Anschluss an die Vierzigjahresfeier des Elysée-Vertrages verabschiedet wurde und das die Förderung der Partnersprachen Deutsch und Französisch zum Ziel hat und sich darüber hinaus auf das Abschlusskommuniqué des ersten Treffens der deutschen Länder und der Französischen Regionen (Poitiers, 28. Oktober 2003) beruft, dass „die Verbesserung der Sprachkenntnisse und des Wissens über die Kultur des Anderen zu einer der zentralen Herausforderungen erklärt“ und sich „die Erhöhung des Anteils derjenigen, die die Partnersprache erlernen, um 50% innerhalb von 10 Jahren“ zum „Ziel“ setzt. In diesem Strategiepaper des Deutsch-französischen Ministerrates Zur Förderung der Partnersprachen Deutsch und Französisch heißt es doch tatsächlich noch: Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Situation der Partnersprachen (Rückgang in Frankreich und Stagnation in Deutschland) haben wir zur Umsetzung der o. g. Ziele beschlossen, auf eine Privilegierung der Partnersprachen Deutsch und Französisch in den Bildungssystemen Frankreichs und Deutschlands hinzuwirken: − Durch gemeinsame strukturelle Maßnahmen in Deutschland und Frankreich soll zum Erlernen der Partnersprache motiviert werden. Im schulischen Lebenslauf soll ein innerer Zusammenhang von Spracherwerb, Zertifizie rung, Austausch und Abschluss verankert werden, der eine besondere Kom petenzbildung ermöglicht; Schülerinnen und Schüler beider Länder sollen sich künftig [sic! ] im Laufe ihrer schulischen Laufbahn durch den Erwerb der Partnersprache sowie verbesserte Austauschmöglichkeiten besonders qualifizieren und für Ausbildung und Berufstätigkeit im Partnerland posi tionieren. Unter anderem sollen Schüler, Eltern und Lehrkräfte systematisch über die Vorzüge des Erlernens der Partnersprachen informiert werden. Diese Information wird z. B. herausstellen, dass − Deutsch und Französisch die am häufigsten gesprochenen Muttersprachen Europas − und Deutschland und Frankreich für einander die wichtigsten Wirtschafts partner sind − das Erlernen der Partnersprache deutschen und französischen Kindern und Jugendlichen das Erlernen weiterer Sprachen erleichtert − für junge Deutsche und Franzosen die Kenntnis der Partnersprache die entscheidende Zusatzqualifikation auf dem europäischen Arbeitsmarkt darstellen kann. Discussion 276 Noch einmal, diese offizielle Ankündigung staatlicher Maßnahmen zur Förderung des seit 1937 darniederliegenden und - trotz aller Warnungen kompetenter Instanzen wie der Vereinigung der Französischlehrerinnen und -lehrer oder des Romanistenbzw. Frankoromanisten-Verbandes - immer weiter niedergehenden Französisch-Unterrichts an deutschen Schulen datiert vom 26.10.2004 und kreist um die Artikulation von Inhalten und Motivationen, die anscheinend - trotz der seit 1963 im Elysée-Palast besiegelten, ja, vom ehemaligen Präsidenten Sarkozy anlässlich seines ersten Staatsbesuches in Deutschland 2007 auch „ewiglich“ genannten deutsch-französischen Freundschaft und Zusammenarbeit - verloren gegangen zu sein scheinen. Und da man in unserer schnelllebigen Zeit auf den Gedanken kommen könnte, dass die Erklärung von 2004 schon wieder aus grauer Vorzeit stammt, sei darauf hingewiesen, dass zu den Zielen, die sich der Deutschfranzösische Ministerrat auf seinem 12. Treffen am 04. Februar 2010 für das Jahr 2020 gesteckt hat, auch die Förderung des Spracherwerbs gehört: Das Erlernen der Sprache des Partnerlands muss angeregt und gefördert und eine engere Verbindung beider Bildungssysteme angestrebt werden (z. B. bei Schulbüchern, Lehrplänen und Zeugnissen sowie dem Austausch von Lehrern und hohen Beamten). XXI Es ist tatsächlich tragisch, dass alle statistischen Angaben belegen, dass im gesamten wiedervereinigten Deutschland (unter Einschluss des Saarlandes) die Schülerzahlen für den Erwerb der französischen Sprache weiter zurückgehen, ja, dass insgesamt das Interesse der Deutschen an Frankreich nach letzten statistischen Erhebungen einen Rekordtiefstand erreicht hat: nur noch 21% der deutschen Bevölkerung hält 2012 Frankreich für das wichtigste Nachbarland. Ein Dreivierteljahrhundert nach der Herabstufung des Französischen von der ersten obligatorischen modernen Fremdsprache zum fakultativen Wahlfach durch das Nazi-Regime, im 67. Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs, knapp ein halbes Jahrhundert nach dem Elysée-Vertrag ist der Unterricht der Sprache unseres wichtigsten europäischen Nachbarn, Verbündeten und Partners in Europa noch weit unter den Stand gesunken, den die deutsche und die französische Regierung nach Maßgabe des Elysée-Vertrages 1963 mittels „konkreter Maßnahmen“ überwinden wollte. Noch tragischer vielleicht, dass man offiziell beschließen muss, darüber nachzudenken, mit Hilfe welcher Inhalte und Perspektiven man an den Schulen Deutschlands motivierende Impulse für das Interesse an der Kultur Frankreichs und seiner Sprache wecken kann, um für das Jahr 2020, dem 75. Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die in diesem Kontext - wieder einmal pathetisch-bürokratisch - neu formulierten Ziele zu erreichen. Angesichts der seit 1989 erfolgten geschichtlich-inhaltlichen Ausdünnung, ja, Entleerung des deutsch-französischen Dialogs, die nicht nur Pierre Nora entsetzt Discussion 277 (vgl. als vorerst letzte Bestandsaufnahme Jacques-Pierre Goujon: France - Allemagne: une union menacée? , Paris, Armand Colin, 2012) und die - wie man als minimalste Erkenntnis den Katastrophen entnehmen könnte und müsste, die aus den deutsch-französischen Missverständnissen, Entfremdungen, Verfeindungen der Neuzeit resultierten, denen (nicht nur) Halb-Europa und Millionen und Abermillionen von Menschen (nicht nur) diesseits und jenseits des Rheins zum Opfer fielen - eine unkalkulierbare Gefahr für die Zukunft unseres Kontinents darstellt, sei hier ein Appell unterbreitet, der ein weiteres monumentales Versagen des wiedervereinigten Deutschlands als Hintergrund und Ansporn hat. Denn aus Anlass des Umzugs der Bundesregierung von Bonn nach Berlin 1998/ 1999 unterbreitete eine Reihe von Persönlichkeiten, die für das deutsch-französische Verhältnis engagiert waren, dem damaligen Bundeskanzler Helmuth Kohl und dem Außenminister Klaus Kinkel sowie der Oberbürgermeisterin von Bonn, Bärbel Dieckmann, den Vorschlag, die ehemaligen Bonner Parlamentsgebäude als Dank an die Stadt Bonn, die von der Hochburg des deutschnationalen Frankreichhasses im 19. Jahrhundert nach 1945 und nicht zuletzt dank Adenauer und de Gaulle zum Zentrum deutsch-französischer Aussöhnung geworden war und obendrein in ihrer Universitätsbibliothek das westdeutsche Hauptsammelgebiet für Frankreichforschung und französische Literatur eingerichtet hatte, zur Forschungs- und Gedenkstätte für die Opfer der deutsch-französischen Kriege umzuwandeln, deren Einweihung 2014 mit dem Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 hätte zusammenfallen können und müssen. Kohl und Kinkel, aber auch Frau Dieckmann zeigten sofort Interesse, und auch Gerhard Schröder, der 1998 Helmut Kohl als Bundeskanzler ablöste, und Joschka Fischer, sein Außenminister waren von dem Projekt angetan, gaben es aber zur Begutachtung an den damaligen Staatsminister für Kultur und Medien, Michael Naumann, weiter. Naumann jedoch hatte keinerlei Interesse an dem Projekt, meinte, dass man genauso gut eine deutsch-polnische Gedächtnisstätte einrichten könnte, und erklärte, dass für ihn ein anderes Projekt unbedingte Priorität habe: die Errichtung eines Museums für moderne Kunst im Rhein bei Kehl. Als die Initiatoren des Projektes 2005 bei der gerade gewählten Kanzlerin Angela Merkel noch einmal intervenieren, wiederholte sich das Ganze: Die Kanzlerin zeigte sich interessiert, aber ihre Mitarbeiter erklärten, es gäbe genug deutsch-französische Gedenkstätten: man könne die Gedenkfeiern für den Ersten Weltkrieg auch anders gestalten und brauche dazu nicht in Bonn zu investieren. Das war umso bedauerlicher, als die Umwandlung der alten Parlamentsgebäude mit absoluter Sicherheit weniger gekostet hätte als das Projekt des Internationalen Kongresszentrums Bundeshaus Bonn (IKBB: später World Conference Center Bonn), das die Stadt Bonn nach dem bekundeten Desinteresse der Bundesregierung anstelle der deutsch-französischen Gedächtnisstätte aus dem von der Bundesregierung verlassenen Gebäudekomplex machen wollte und das sich zu einem der größten Betrugsskandale im Bausektor auswuchs, der Hunderte von Millionen Steuergelder verschlungen (und Frau Dieckmann zu Unrecht das Amt gekostet) hat. Noch bedauerlicher freilich, dass Discussion 278 die Chance vertan wurde - auch zu Ehren von Adenauer und de Gaulle und der anderen Pioniere der deutsch-französischen Annäherung nach 1945, vor allem aber zum Gedenken an die Millionen sinnlos geopferter Menschen beider Nationen - jenes Mahnmal in Bonn zu errichten, das Deutschland auch 2014, hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges immer noch nicht besitzen wird. Da es heute, 2012, zu spät ist, mit der Errichtung einer derartigen Gedenkstätte für 2014 zu beginnen, sollte die Bundesregierung wenigstens unverzüglich eine Kommission von Experten in Sachen Frankreichforschung und Französischstudium einrichten, die sofort die Arbeit aufnehmen müsste, um für die Jahre 2014 bis 2018 Forschungsgruppen und Kolloquien über alle Bereiche der deutschfranzösischen Geschichte von Charlemagne/ Karl dem Großen bis zu Kohl/ Mitterand mit Schwerpunkt deutsch-französische Kulturgeschichte von den gotischen Kathedralen über die Rezeption der französischen Klassik in Deutschland und der deutschen Romantik in Frankreich sowie der Rezeption des französischen Impressionismus in Deutschland und des deutschen Expressionismus in Frankreich bis zur deutsch-französischen Architektur, Kunst, Musik, Literatur im Zwanzigsten Jahrhundert, der gemeinsamen Résistance oder der deutsch-französischen Filmproduktion der Nachkriegszeit an allen dafür in Frage kommenden Forschungsstätten organisieren, um 2018 (oder kurz danach) die Ergebnisse dieser Erinnerungsarbeit in einer - auf deutsch und französisch zu edierenden - Enzyklopädie der deutsch-französischen Geschichte und besonders der deutsch-französischen Kultur zu veröffentlichen, damit spätere Generationen nicht mehr sagen können, diese deutsch-französische Kultur gäbe es nicht. Diese Enzyklopädie wäre notwendiger- und logischerweise auch ein Bekenntnis zur gesamteuropäischen Geschichte und Kultur und ein Fundament für die Zukunftsplanung Europas. Denn Zukunftsplanung ohne Kenntnis und Bewusstsein der Geschichte und der geschichtlich-kulturellen Identität der handelnden Bürger im allgemeinen und - in Sachen Europa - des „Motors“ Frankreich-Deutschland ist ebenso unmöglich wie Kommunikation ohne die Kenntnis der dafür notwendigen (europäischen) Sprachen. Dass zu diesen Deutsch und Französisch gehören, kann man sogar den von 1963 bis heute, 2012, unentwegt abgegebenen Deklarationen der französischen und zunächst west- und dann gesamtdeutschen, politisch-moralischen Regierungsinstanzen entnehmen, die man deshalb auffordern sollte, parallel zur Besinnungsarbeit für die deutsch-französische Kultur dafür zu sorgen, dass endlich auch praktisch wirksame Maßnahmen ergriffen werden, damit (wieder) Deutsch in Frankreich und Französisch in Deutschland in einem sinnvollen Proporz zu anderen Sprachen und der Bedeutung des deutschfranzösischen Verhältnisses für Europa und die Welt entsprechend unterrichtet wird. Das könnte man in der Tat damit verbinden, über staatliche und privatwirtschaftliche Initiativen die Arbeitsmöglichkeiten im deutsch-französischen Kontext vom kulturellen Tourismus über die Sprach-Lehrerberufe und die Universitätslehre (unter Einschluss der deutsch-französischen Landes-, Kultur und Kunstwissenschaft und der Geschichte der deutsch-französischen Sprachentwicklung seit der Discussion 279 Römerzeit), die Museumsaktivitäten und das Theater-, Musik-, Film- oder Modeleben, ja, die Begegnung zwischen Dichtern und Denkern jeder Art bis hin zur landwirtschaftlichen Kooperation unter Einschluss der Weinproduktion diesseits und jenseits des Rheins, der Automobilproduktion und der Energiewirtschaft zu fördern und zu erweitern, zumal dies auch andere Arbeitsperspektiven mit anderen (nicht nur europäischen) Ländern eröffnen und damit die Lust am Erlernen noch weiterer Sprache vergrößern würde. Denn wer Deutsch und Französisch kann, spricht meist auch eine dritte und vierte Sprache. Jeder Mensch kann das. Man muss ihm nur die Chance dazu einräumen, statt ihn mit Nachrichten über das desolate Nichts kultureller Identitäten - z. B. der deutsch-französischen - und die Möglichkeit, mit rudimentärem Englisch in Frankreich oder Deutschland Handel zu treiben, vom wunderbaren Abenteuer des deutsch-französischen Zusammenlebens im Herzen Europas abzuschrecken. Wir sind der Meinung, dass wir nichts Sinnvolleres und nichts Ehrenvolleres zum Hundertjährigen Gedenken an jene Millionen junger Franzosen, Deutschen und anderen Bürger Europas und der Welt tun können, die von 1914 bis 1918 (und davor und danach) sinnlos auf den Schlachtfeldern um Verdun und anderswo ermordet wurden, auf die sie blindwütig-dummer und geschichtsvergessener und kulturfeindlicher Nationalhass getrieben hatte. Discussion