eJournals lendemains 37/146-147

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2012
37146-147

Nicole Racine (1940 – 2012)

2012
Wolfgang Asholt
Hans Manfred Bock
ldm37146-1470290
290 In memoriam Wolfgang Asholt/ Hans Manfred Bock Nicole Racine (1940 - 2012) Als Nicole Racine im Jahre 2004 für diese Zeitschrift einen Artikel zur Erinnerung an ihren zu früh verstorbenen Kollegen und wissenschaftlichen Weggefährten Michel Trebitsch schrieb und wir ihm wegen der Bedeutung beider für die Intellektuellenforschung einen Nekrolog aus deutscher Perspektive zur Seite stellten, konnten wir nicht ahnen, dass wir weniger als ein Jahrzehnt später die traurige Aufgabe übernehmen müssten, einen Nachruf auf Nicole Racine zu schreiben. Sie hatte 1997 mit Michel Trebitsch in Lendemains ein Dossier zu der seit 1923 existierenden Kulturzeitschrift Europe veröffentlicht und im Jahre 2000 zu einem Aragon-Dossier einen Beitrag zu „Aragon et le Parti Communiste Français“ beigesteuert. Damit ist schon einer ihrer Arbeitsschwerpunkte benannt: die Geschichte des PCF, besonders in problematischen Momenten, wie dem des Hitler-Stalin-Paktes. 1972 hat sie mit Louis Bodin die noch immer grundlegende Studie Le Parti communiste français pendant l’entre-deuxguerres (Armand Colin) veröffentlicht. Bis zur Öffnung der Archive in der Sowjetunion/ Rußland und in den folgenden Jahrzehnten war sie eine der besten Kennerinnen des KPF von seiner Gründung bis in die Zeit des Kalten Krieges. Nicole Racine hat in der Folgezeit eine für unsere Generation nicht untypische Verlagerung ihrer Forschungsinteressen vorgenommen. Diese thematische Erweiterung führte sie an die Verbindungsstellen zwischen politischen Organisationen und soziokulturellen Bewegungen, die in der Regel von Intellektuellen besetzt sind. Als Politikwissenschaftlerin am Pariser Institut d’Etudes Politiques, an dem u.a. Jean Touchard und René Rémond eine solide ideengeschichtliche Tradition begründet hatten, vertiefte sie ihre Studien, indem sie nach den gesellschaftsgeschichtlichen Bedingungen der Ideen- und Sozialbewegungen fragte. Ein vielzitiertes Ergebnis dieser Bestrebungen sind ihre Arbeiten zum Comité de vilgilance des intellectuels antifascistes. In den 1980er Jahren wurde ihr intellektuellengeschichtliches Erkenntnisinteresse durch den Mitte des Jahrzehnts einsetzenden Aufschwung entsprechender Konzeptualisierungen und monographischer Studien nachhaltig gefördert. Dieser Aufschwung war durch einige bahnbrechende Thèses d’Etat eingeleitet worden, von denen hier nur diejenigen von Jean-François Sirinelli und Pascal Ory zu nennen sind; beide Autoren steckten dann auch das Forschungsfeld ab mit einem Überblick über Les intellectuels en France de l’Affaire Dreyfus à nos jours (1986). Der René Rémond-Schüler Sirinelli gründete 1985 im Rahmen des Institut d’Histoire du Temps Présent (IHTP) den Groupe de Recherches sur l’Histoire des Intellectuels (GHRI), den Nicole Racine und Michel Trebitsch 1988 übernahmen und bis 2001 leiteten. In dieser Zeitspanne, während derer die Intellektuellenforschung im Schnittpunkt von Soziologie, Politikwissenschaft und Zeitgeschichte eine veritable Konjunktur erlebte, entfalteten der Zeithistoriker Michel Trebitsch und die Politikwissenschaftlerin Nicole Racine eine initiativfreudige und vielseitige Tätigkeit im Rahmen des GHRI. 291 In memoriam Wenn diese Aktivitäten auf einen Nenner zu bringen sind, so können sie in drei Stichworten resümiert werden: Die bereits von Sirinellis Arbeiten eingeführten Konzepte der „sociabilité“ und der Generation als heuristische Schlüssel einer soziologisch informierten Intellektuellengeschichte wurden unter der Anleitung der beiden Inspiratoren des GHRI einer Prüfung unterzogen. Charakteristisch für Organisation und Verlauf der auf diese Konzepte bezogenen Kolloquien war es, dass die aus der französischen Wissenschaftstradition übernommenen Vorarbeiten der Begriffsbildung möglichst umfassend in Beziehung gesetzt wurden mit vergleichbaren wissenschaftlichen Ansätzen anderer Länder und Nationalkulturen. Aus dieser Diskussion gingen mehrere Themenhefte der Cahiers de l’Institut de l’Histoire Présent hervor, die heute zum Sockelbestand der fortschreitenden Intellektuellenforschung gehören (N° 20 Sociabilités intellectuelles; No 26 Intellectuels engagés d’une guerre à l’autre). Das hier zugrunde liegende Interesse an der Verfeinerung der erkenntnisleitenden Konzepte durch internationale Vergleiche war auch Ausgangspunkt für explizite komparatistische Studien zum Intellektuellenthema. An diesem Punkt trafen sich Racine/ Trebitsch mit den gleichzeitigen, aber methodologisch anders verfahrenden Arbeiten des Bourdieu-Schülers Christophe Charle. Aus den kolloquialen Debatten über Möglichkeiten und Grenzen des internationalen Vergleichs gingen mehrere Sammelbände hervor, zu denen in der Regel kompetente Sachkenner aus anderen europäischen (und außereuropäischen) Nationen beitrugen (Histoire comparée des intellectuels, 1997; Pour une histoire comparée des intellectuels, 1998). Für die historisch angelegte Befassung mit Ideen- und Sozialbewegungen des 20. Jahrhunderts war es naheliegend, die transnationalen Verbindungen der Komparatisten zu nutzen, um eine intellektuellengeschichtliche Analyse der europäischen Integration zu konzipieren. Zu diesem Teilprojekt trug die GHRI-Equipe maßgeblich bei (Les intellectuels et l’Europe de 1945 à nos jours, 2000) und Nicole Racine siedelte ihr Interesse an den kulturellen Netzwerken in Europa in diesem thematischen Rahmen an. Von einer so konzipierten Intellektuellenforschung war der Weg zur Literatur im Sinne eines erweiterten Literaturbegriffs nicht weit. Eine der ersten Arbeiten von Nicole Racine hatte 1967 der Zeitschrift Clarté gegolten (1996 schreibt sie den entsprechenden Artikel im Dictionnaire des intellectuels français), also einer Zeitschrift von engagierten Schriftstellern und Intellektuellen der 1920er Jahre und im Jahre 2002 veröffentlichte sie einen Aufsatz mit einem Titel, „Pierre Abraham, Lucien Febvre et les tomes ‚Arts et Littérature’ de ‚L’Encyclopédie française’ dans la société contemporaine“, der Motivation und Perspektive ihres Interesses an der Literatur verdeutlichte. Denn das was sie dort in Hinblick auf den Annales-Historiker formuliert, trifft auch auf sie selbst zu: „Lucien Febvre pensait depuis toujours que l’étude de la création intellectuelle et artistique était indispensable à la connaissance des sociétés humaines.“ Mit zunehmender Tendenz widmete sie sich Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Literatur- und Kulturzeitschriften sowie Netzwerken und Schriftstellerorganisationen dieser Epoche. 292 In memoriam Ihr Interesse galt dabei sowohl großen Institutionen wie dem PEN (2000 und 2002), antifaschistischen Schriftstellervereinigungen (1992 und 1998), neben der schon erwähnten Clarté Zeitschriften wie Europe (3 Aufsätze 1993, 1998), aber auch wichtigen in solchen Zeitschriften geführten Debatten, zum Beispiel der von Aragon ausgelösten „Querelle du réalisme“ in Kunst und Literatur der 1930er Jahre (2002 und 2003). Aragon, teilweise gemeinsam mit Elsa Triolet, sind gleich mehrere Studien gewidmet: im Zusammenhang mit den Moskauer Archiven (1998 und 1999), im Zusammenhang mit seinem internationalen Engagement der 1930er Jahre (1998) oder im Kontext der Résistance (1999 und 2000). Und in einem Aufsatz des Jahres 1994 behandelte Nicole Racine, die für die Rubrik „Intellektuelle“ des 4. Teils des „Maitron“ (Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier français), also die Zwischenkriegszeit, verantwortlich war, „Les écrivains dans le Maitron: champ et hors champ“. An einer Institution und an einem Autor wird die Verbindung von Literatur, Intellektuellen und Zeitgeschichte besonders deutlich und prägnant sichtbar. Als wichtige Mitarbeiterin des Groupe de recherche sur les archives des décades de Cerisy hat sie sich insbesondere mit Anne Heurgon-Desjardins, der Tochter des Gründers und Fortsetzerin der Dekaden von Pontigny in Cerisy beschäftigt (2005 und 2008). Pontigny-Cerisy bildete für Nicole Racine das Modell eine „sociabilité intellectuelle“, d.h. eines intensiven Austausches zwischen Literatur, Kultur und Politik. Anne Heurgon gelang es, die vor dem Ersten Weltkrieg konzipierten Dekaden von Pontigny nicht nur nach dem Zweiten Weltkrieg in Cerisy fortzusetzen, sondern den veränderten kulturellen Bedingungen anzupassen. Davon zeugen die großen Tagungen zum Nouveau Roman, zur strukturalistisch-poststrukturalistischen Theorie und zur Dekonstruktion. Wie schon Michel Trebitsch hat der Tod sie aus diesem Projekt herausgerissen. So auch aus ihren Arbeiten zum Werke von Jean-Richard Bloch, dem sie zwar nicht viele Arbeiten gewidmet hat (2002, 2004, 2008), dessen literarisches, kulturelles und politisches Engagement für sie jedoch exemplarischen Charakter hatte. Bei den Treffen des „Bureau“ der Bloch-Gesellschaft hat sie die jährlichen Tagungen engagiert konzipiert und inspiriert, sie hat Aufsätze und Rezensionen zu deren Bulletin beigesteuert und sie hat, z.B. aus Anlass der Einschätzung des Hitler-Stalin-Paktes, vehemente Debatten geführt, in denen sie ihre kritische Einstellung konsequent und kohärent verteidigt hat. Mit großer persönlicher Zurückhaltung und Subtilität hat Nicole Racine in ihrem Leben das praktiziert, worauf sich ihre Arbeiten bezogen: eine exemplarische intellektuelle Gemeinschaft und ein reflektiertes, aber dezidiertes Engagement. Da eine solche Identifikation mit dem Ethos, das ihre Untersuchungsgegenstände charakterisierte, fern von jeder Geltungssucht oder Inszenierung der eigenen Person, immer seltener wird, wird uns Nicole Racine umso mehr fehlen. So gilt für sie, was sie in ihrem Nachruf ihrem Kollegen Michel Trebitsch attestierte: „dans son oeuvre multiforme, dans sa vie, [elle] avait illustré différentes façons d’être un(e) intellectuel(le) et de faire de l’histoire intellectuelle.“ (2004)