eJournals lendemains 42/168

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42168

Jean-Marc Quaranta: Houellebecq aux fourneaux

2017
Christine Ott
ldm421680107
107 Comptes rendus hat, schlicht nicht anknüpfen (allein ein Index aller erwähnten Übersetzer hilft ein wenig weiter). Wer den Staffelstab von ihm aufnehmen möchte, müsste die gesamte Datenerhebung noch einmal erledigen. Außerhalb der von Nies gewählten Logik liegt die andere, viel grundsätzlichere Frage: Ist es im heutigen Kontext von Big Data und Digital Humanities erkenntnistheoretisch sinnvoll, den übersetzerischen Kulturtransfer in Handarbeit aus gedruckten Kompendien der 1960er bis 1980er Jahre abzuleiten? Sollte die kulturwissenschaftliche Übersetzungsforschung sich nicht vielmehr die Techniken der computergestützten Auswertung digitalisierter Datenbanken und Textsammlungen zu Nutze machen? Nies sagt dazu nichts, schaut stattdessen mit Schaudern zurück auf die weitgehend hermeneutikfreie Datenverliebtheit der empirischen Leserforschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts und dekretiert, solche „quantifizierende Sozial- und Mentalitätsgeschichte [sei] bei Kulturwissenschaftlern weithin ins gedankliche Abseits geraten“ (2). Will man aber an Nies’ fundamentaler Fragestellung nach dem sozialen Ort der Übersetzer mit den heutigen Werkzeugen arbeiten, ist eine der großen Hürden hierbei - wie auch schon für ihn - die geringe kulturelle Sichtbarkeit der Akteure bis weit ins 20. Jahrhundert, die sich in deren Unsichtbarkeit in allen Arten kultureller Archive niederschlägt, weshalb ihre Präsenz aus den Daten nur durch komplexe Algorithmen herauszufiltern ist. Dafür braucht es - wenn man nicht, wie Franco Moretti, bereits auf ein Stanford Literary Lab zurückgreifen kann - die Kooperation der Übersetzungsforschung mit Informatikern. Und dazu einen so langen Atem, dass man am Ende die gewonnenen Informationen mit einem ähnlich profunden Hintergrundwissen abgleichen kann, wie es Fritz Nies auf jeder Seite seines Buchs zur Verfügung steht. Albrecht Buschmann (Rostock) ------------------ JEAN-MARC QUARANTA: HOUELLEBECQ AUX FOURNEAUX, ESSAI LITTÉ- RAIRE / LIVRE DE CUISINE, PARIS, PLEIN JOUR, 2016, 336 P. Von dem Pariser Verlag Plein jour, der sich auf die „littérature du réel sous toutes ses formes“ spezialisiert hat, wird Jean-Marc Quarantas Buch Houellebecq aux fourneaux als erstes Exemplar eines neuen Genres angepriesen. Tatsächlich tritt hier an die Stelle der mittlerweile bekannten Kombination von Roman und Kochbuch eine Verbindung von „essai littéraire“ und Kochrezept-Sammlung. Konkret sieht das so aus: Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, die jeweils einem von Houellebecqs Romanen gewidmet sind. In einem ersten Teil jedes Kapitels wird die Nahrungsmotivik und -metaphorik des Romans analysiert, in einem zweiten finden sich (kommentierte) Rezepte zu den im Roman evozierten Gerichten. Schon in seinem Vorwort drückt Quaranta unmissverständlich aus, welche Funktion er der Nahrungsmittelmotivik und -metaphorik im Houellebecq’schen Werk zuschreibt. In dieser ganz durch das Ätzmittel einer soziologischen Perspektive 108 Comptes rendus zersetzten Welt, so der Autor, komme der „Küche“ nämlich die Aufgabe zu, „la mémoire que nous fûmes des hommes“ zu bewahren (15). Gewiss seien Houellebecqs Romane durchwoben von Szenen, in denen die „malbouffe“ triumphiert und gastronomisch verwahrloste Männer (oder Kinder) sich mit industriell gefertigtem Fraß trösten müssen. Und doch, meint Quaranta seine Leser beruhigen zu müssen, seien die „habitudes alimentaires“ und auch die (wenn auch oft imaginären) Beziehungen zwischen den Speisen und ihrer regionalen Herkunft in diesem Werk nicht „völlig durcheinandergeraten“ (19). Die konstante Präsenz des Mahlzeitenmotivs im Werk Houellebecqs erstmals sichtbar gemacht zu haben, ist Quarantas unbestreitbares Verdienst. Seine minutiöse Bestandsaufnahme fördert viel Unerwartetes zutage; sie zeigt insbesondere, wie häufig Nahrungsmittel nicht nur als Teil von Houellebecqs „neuem Realismus“ (U. Schneider) 1 fungieren, sondern auch, in Form von Vergleichen, ungewohnte Konkretisierungen von Gefühlszuständen leisten. So fühlt sich der Ich-Erzähler von Extension du domaine de la lutte „comme un cuisse de poulet sous cellophane dans un rayon de supermarché“ (30). Sie zeigen außerdem, dass die heute vieldiskutierte Thematik der „McDonaldisierung der Esskultur“ (Claude Fischler) in Houellebecqs Romanen immer schon präsent war: bemerkenswert ist u. a. der von Quaranta ausführlich zitierte food trip der depressiven Romanfigur Bruno in Les particules élémentaires (86-88), den Quaranta ganz zu Recht mit dem auch sexuell regressiven Verhalten der Figur in Verbindung bringt. Andere Befunde überraschen weniger. So lässt Quaranta keine Gelegenheit aus, um Houellebecqs männlichen Figuren eine unstillbare Sehnsucht nach mütterlicher (oder großmütterlicher) Nahrung zu bescheinigen. Der unvermeidliche Verweis auf Proust und die Madeleine darf dabei natürlich nicht fehlen. Damit nicht genug: beifällig Bruno Viard zitierend, meint Quaranta: „Si […] ‚Michel est un enfant qui veut sa mère‘, ce livre pourrait être le livre des recettes des plats qu’elle ne lui a jamais faits“ (24). Aus dieser Sicht hat Houellebecq seine Romane womöglich nur geschrieben, um darüber hinwegzukommen, dass seine Mutter ihn nie angemessen bekocht hat (! ). Insgesamt führt Quarantas Zitatsammlung überdeutlich vor Augen, dass die kulinarische Thematik durchgehend dazu dient, Houellebecqs pessimistisches Bild der kapitalistischen Konsumgesellschaft zu bestätigen. Die besonders in Soumission unüberhörbare Klage über den Schwund kochender Hausfrauen zeugt dabei unverkennbar von jener reaktionären, misogynen Haltung, von der offenbleiben muss, ob sie nur die männlichen Protagonisten oder auch ihren Autor prägt. Doch Quaranta kann offenbar nicht davon lassen, den negativen Einzelbefunden eine letztlich versöhnliche Grundeinstellung abgewinnen zu wollen. Entsprechend hat man bei der Lektüre wiederholt den Eindruck, dass Quaranta zwar die Leitthemen von Houellebecqs Nahrungsmotivik ganz richtig erfasst, daraus jedoch die falschen Schlüsse 1 Ulrike Schneider, „‚Il n’y a pas de liberté sans une dose de provocation possible‘. Michel Houellebecqs Soumission oder: die Widerständigkeit der Fiktion“, in: Romanistisches Jahrbuch, 67, 1, 148-178. 109 Comptes rendus zieht. So benennt er die in La carte et le territoire besonders auffällige Erwähnung der cuisine de terroir als eine „satire du discours gastronomique“ (185). Anstatt jedoch zu erkennen, dass es Houellebecq darum geht, touristische Erwartungen von französischer Küche zu karikieren, verweist Quaranta hier einmal mehr auf die Biographie des Autors (186). Ähnlich glaubt er aus der Tatsache, dass der Dosenthunfisch in Extension du domaine de la lutte als „thon à la catalane“ benannt wird, ableiten zu können, dass sich hier die „survivance de la cuisine régionale dans le monde moderne“ ausdrücke - und widerspricht damit seiner andernorts formulierten Einsicht, wonach die Küche der Houellebecq’schen Romane längst eine globalisierte sei. So widersinnig es ist, in diesem Industrieprodukt ein „Überleben der regionalen Küche“ sehen zu wollen, so absurd ist es auch, den „Thunfisch auf katalanische Art“ in den Rezeptteil des Buches aufnehmen zu wollen. Sehr bedauerlich ist schließlich, dass die genderpolitisch höchst problematischen Aussagen zu kochenden Frauen in Soumission vom Autor zwar sehr wohl erwähnt, aber an keiner Stelle kritisch kommentiert werden. Aus dieser letztlich ein wenig an der Oberfläche des Houellebecq’schen Werks bleibenden Lektüre erklärt sich letztlich das Fazit: „On croit lire un romancier trash, apôtre de l’isolement postmoderne et de la nourriture aseptisée, on découvre un auteur doté d’une réelle culture gastronomique et dont la cuisine, très cohérente, se partage entre cuisine de ménage et ouverture sur les cuisines étrangères […]. On le dit islamophobe, avec des idées flirtant avec celles de l’extrême droite, il fait mettre en œuvre par un président musulman le programme economique de William Morris. Misogyne et apôtre prétendu, il cuisine le pot-au-feu que Baudelaire réservait à la femme bête“ (322). Schade, dass Houellebecqs ‚ätzende‘ Kulinarik am Ende mit einer buttrigen Versöhnlichkeits-Soße überdeckt wird. Christine Ott (Frankfurt/ Main)