eJournals lendemains 42/168

lendemains
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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2017
42168

Isabell Lammel: Der Toussaint-Louverture-Mythos. Transformationen in der französischen Literatur

2017
Stephanie Wilk
ldm421680098
98 Comptes rendus die haitianische Gesellschaft und treten auf besonders eindrückliche Weise im Œuvre der Autoren in Erscheinung, wie überzeugend argumentiert wird. Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag für die Romanistik in Deutschland, die sich zunehmend mit der noch marginalisierten frankophonen postkolonialen Literatur befasst. Bereichernd ist sie zudem für die immer mehr an Bedeutung gewinnende Karibikforschung im deutschsprachigen Raum und geht insofern über viele literaturwissenschaftliche Arbeiten hinaus, als sie sich dezidiert mit Autoren aus der karibischen Region und nicht der Diaspora auseinandersetzt. Borst knüpft an die aktuelle Forschung zu Gewalt, Verletzlichkeit und Körperpolitiken in der karibischen Literatur an. Sie schafft eine klare Begrifflichkeit zur Gewaltthematik, die sie mit literaturwissenschaftlicher Traumaforschung kreuzt und die anschlussfähig ist für weiterführende Analysen nicht nur der postkolonialen, karibischen Literaturen. Wiebke Beushausen (Heidelberg) ------------------ ISABELL LAMMEL: DER TOUSSAINT-LOUVERTURE-MYTHOS. TRANSFORMA- TIONEN IN DER FRANZÖSISCHEN LITERATUR, 1791-2012, BIELEFELD, TRAN- SCRIPT, 2015, 396 S. „En me renversant on n’a abattu à Saint-Domingue que le tronc de l’arbre de la liberté des Noirs, il repoussera par les racines car elles sont profondes et nombreuses“. Diese Worte bilden das apokryphe Vermächtnis Toussaint Louvertures, des Revolutionsführers der Haitianischen Revolution (1791-1804), die er nach seiner Festnahme durch französische Truppen am 7. Juni 1802 geäußert haben soll, als er auf das Schiff ‚Le Héros‘ gebracht wurde, um nach Frankreich deportiert zu werden. Isabell Lammel nimmt in ihrer Dissertation den Mythos des haitianischen Revolutionsführers als Ausgangspunkt, um die Repräsentationen und Transformationen, die dieser Mythos über einen Zeitraum von rund 200 Jahren erfahren hat, aufzuzeigen. Sie zeichnet die Rolle nach, die er im kollektiven Gedächtnis Frankreichs vom Ende des 18. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts gespielt hat oder eben auch nicht, und die Gründe hierfür. Nach dem Ausbruch der Haitianischen Revolution auf Saint-Domingue - jener ‚Perle der Antillen‘, die einst die reichste Kolonie Frankreichs gewesen ist -, kristallisiert sich die Führungsposition Toussaint Louvertures heraus, der „wie kein Anderer dem Kampf der Sklaven gegen die Kolonialmacht ein Gesicht verliehen hat“ (14). Auch wenn es ihm selbst nicht mehr vergönnt war, die Unabhängigkeitserklärung Haitis (1804) mitzuerleben, so lebt sein Erbe fort, und dies nicht nur auf Haiti selbst, sondern eben auch in der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Während in der Geschichtsschreibung ein „Mechanismus des Vergessens“ (64) einsetzte, da eine Revolution von ‚Schwarzen‘ als undenkbar erschien, hat die Literatur in diversen Schriften, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, Zeugnis von der Haitianischen Revolution und Toussaint Louverture abgelegt. 99 Comptes rendus Isabell Lammel wendet in ihrer Dissertation einen weiten Literaturbegriff an, sodass das Textkorpus sowohl fiktionale Werke, wie Romane und Theaterstücke, als auch nicht-fiktionale Werke, wie historische Essays, Biographien oder Memoiren von französischen und frankophonen Autoren umfasst. Indem die Autorin sich nicht nur auf einzelne Autoren oder Epochen beschränkt, erfüllt sie ein Forschungsdesiderat, da sie die Entwicklung, die der Mythos von Toussaint Louverture im Verlauf der Geschichte genommen hat, aufzeigt. Dementsprechend geht sie in der Textanalyse auch chronologisch vor, was es ihr ermöglicht, die einzelnen Texte in ihrem jeweiligen historischen und soziokulturellen Entstehungskontext zu verorten. Dies birgt einerseits die Gefahr von Wiederholungen, ermöglicht es aber auch andererseits, die Kapitel unabhängig voneinander zu lesen. In einem ersten Theoriekapitel gibt die Autorin einen Überblick über die Geschichte der Haitianischen Revolution, woraufhin sie in einem zweiten Kapitel einen kurzen Abriss über die Gedächtnistheorien (Halbwachs, Nora, J. und A. Assmann), den Begriff des Mythos (Barthes, Lévi-Strauss, Wodianka) und die postcolonial studies (Césaire, Fanon, Glissant, Said, Bhabha) gibt. Im Analyseteil verwendet die Autorin das Konzept des Mythos in Anschluss an die Arbeiten von Stephanie Wodianka als „Verfahren bzw. Modus“ (87). Das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Mytheme (dies sind nach Lévi-Strauss „konstituiv[e] Einheiten“ [91] eines Mythos), ebenso wie die Interpretation, die die einzelnen Elemente erfahren haben, lassen Rückschlüsse auf den Standpunkt des Autors sowie Ziel und Zweck, den er mit der Darstellung verfolgt hat, zu. Bestandteil des Inventars, das die Mythisierung der historischen Person Toussaint Louverture kennzeichnet, sind beispielsweise der zu Beginn der Rezension zitierte Satz, seine königliche Abstammung oder aber auch das Maisgleichnis. Die Analyse jener Mytheme ermöglicht die Rekonstruktion jenes von Lammel konstatierten „dem Mythos innewohnende[n] polarisierende[n] Potenzial[s]“ (162), welches von einer Glorifizierung des haitianischen Revolutionsführers bis zu seiner Dämonisierung reicht. Die Mythisierung Toussaint Louvertures setzt mit den Zeit- und Augenzeugen ein, die zumeist Berührungspunkte mit dem Kolonialsystem, sei dies als Plantagenbesitzer oder aber durch das Militär bzw. die Verwaltung, aufweisen und Berichte über die Ereignisse vor Ort verfassen. Hierbei ist zu beobachten, dass in dem Maße, in dem Toussaint Louverture sich in den Dienst der französischen Nation stellt, die Darstellungen positiver ausfallen. Mit Beginn der Unabhängigkeitsbestrebungen wandelt sich das Bild, und es erfolgt eine Dämonisierung des haitianischen Revolutionsführers. Dies veranschaulicht die Autorin am Beispiel von René Périns Roman L’Incendie du Cap, ou Le Règne de Toussaint Louverture… (1802), der im Zusammenhang mit der bonapartistischen Propaganda den haitianischen Revolutionsführer, gemäß dem Dogma der Überlegenheit der weißen Rasse, als „ungebildeten, heuchlerischen, anmaßenden, schamlosen Afrikaner“ (145) beschreibt. Mit den Romantikern, die sich in Folge der Anerkennung der Souveränität der Bürger Saint-Domingues (1825) durch die französische Regierung, verstärkt mit der 100 Comptes rendus Haitianischen Revolution beschäftigen, setzt eine Idealisierung Toussaint Louvertures ein. Während Victor Hugo mit Bug-Jargal (1818/ 26), in der Tradition der littérature négrophile, einen idealisierten schwarzen Sklavenführer in Szene setzt, der aber an keiner Stelle mit Toussaint Louverture identifiziert wird, taucht er in den Werken von Mme de Staël, Balzac und Chateaubriand (Dix années d’exil, 1818; Z. Marcas, 1840, Mémoires d’outre-tombe, 1848), wenn auch nur vereinzelt, namentlich auf. Er, der wiederholt als ‚schwarzer Napoleon‘ bezeichnet wurde, übernimmt hier die Rolle als „programmatischer Widerpart Napoleons“ (168). Er bildet lediglich die Kontrastfolie, vor der die Autoren die Übeltaten Napoleons an den Pranger stellen. Erst das anonym veröffentlichte epische Gedicht L’Haïtiade (1827/ 28) sowie Lamartines Theaterstück Toussaint Louverture (1839-40) machen den haitianischen Revolutionsführer zum Protagonisten. Hier wird „Toussaint als ein von Gott berufener Retter und Freiheitskämpfer“ (169) betrachtet, so dass die Haitianische Revolution eine Rechtfertigung erhält. In einem Zeitraum, der von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts andauert, finden weitestgehend keine Bearbeitungen des Mythos statt. Dies vor allem deshalb, weil der Kolonialismus als integraler Bestandteil der republikanischen Identität zur Zeit der Dritten Republik betrachtet und verteidigt wurde. Ausnahmen bildeten vereinzelte Werke wie u. a. die Biographie Toussaint-Louverture, Général en Chef de l’Armée de Saint-Domingue, surnommé le Premier des Noirs (1877) von Thomas Prosper Gragnon-Lacoste. Hier wird, obwohl der Kolonialismus im Allgemeinen begrüßt wird, die Sklaverei abgelehnt, da der Autor von der Gleichheit aller Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe, überzeugt war. Toussaint Louverture wird hier als außerordentliche Persönlichkeit dargestellt, die als „globaler Freiheitskämpfer“ (253) aus der Masse hervorsticht. Erst mit dem Aufkommen der antikolonialen und postkolonialen Bewegungen Mitte des 20. Jahrhunderts findet wieder eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Haitianischen Revolution und deren Protagonisten statt. Dies geschieht zunächst vor allem durch Schriftsteller aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs, die Toussaint Louverture als „Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung“ (255) betrachten. In Césaires Essay Toussaint Louverture. La révolution française et le problème colonial (1960) wird er zur „Ikone der Négritude-Bewegung und zur Gründerfigur eines neuen postkolonialen Selbstbewusstseins und Selbstverständnisses“ (260) erhoben, wohingegen Édouard Glissant im Theaterstück Monsieur Toussaint (1961/ 78) und Bernard Binlin Dadié in Îles de tempête (1973) insbesondere die Widersprüche herausstellen, die die Person gekennzeichnet haben: einerseits die Assimilierung an das weiße, katholische Frankreich, welches ihn jedoch stets als den ‚Anderen‘ wahrgenommen hat, und andererseits die Distanz zum eigenen Volk. Toussaint Louverture wird so zum „Antimodell“ (274) für andere Dekolonialisierungsprojekte erklärt. Erst in den letzten Jahren findet im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der französischen Kolonialgeschichte, auch von französischer Seite, eine intensivere Rezeption des Toussaint-Louverture-Mythos statt, wie an den folgenden Beispielen zu sehen ist: Fabienne Pasquets Roman La deuxième mort de Toussaint Louverture 101 Comptes rendus (2001), Éric Saurays Theaterstück Fort de Joux, avril 1803 (2003), der Fernsehfilm Toussaint Louverture (2012) unter der Regie von Philippe Niang, sowie das Kinderbuch Toussaint Louverture (2011) von Jacques Vénuleth und Zeichnungen von Frédéric Rébéna. Pasquet gelingt es in einer metamythischen Lesart durch die Inszenierung eines fiktiven Dialogs zwischen Toussaint Louverture und Heinrich von Kleist in der Zelle im Fort-de-Joux, in der sie beide einst Gefangene gewesen sind, die Machart des Mythos aufzudecken und folgerichtig zu entmystifizieren. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es der Autorin gelungen ist, aufzuzeigen, welche Wandlungen der Toussaint-Louverture-Mythos im Laufe der Zeit erfahren hat. Hierbei ist deutlich geworden, dass die Repräsentation und Funktionalisierung grundsätzlich vom Standpunkt des Autors abhängt. Der Mythos wird so zu einem Spiegelbild der Haltung der französischen Öffentlichkeit gegenüber dem Kolonialismus und dem zeitgenössischen französischen Nationaldiskurs. Stephanie Wilk (Innsbruck) ------------------ HEIDI KNÖRZER: PUBLICISTES JUIFS ENTRE FRANCE ET ALLEMAGNE. CHAMPIONS DE LA MÊME CAUSE? , PARIS, CHAMPION, 2016, 459 S. (BIBLIO- THÈQUE D’ÉTUDES JUIVES, 56). Es handelt sich bei der hier anzuzeigenden Arbeit zweifellos um eine wichtige Untersuchung. Es geht nicht bloß um einige jüdische Publizisten in Frankreich und Deutschland, wie der etwas vage Titel zunächst zu suggerieren scheint. Nein, hier liegt eine intensive Analyse von zwei repräsentativen Organen der jüdischen Minderheit in den beiden Ländern für die Periode von 1848 bis 1914 vor, der Allgemeine Zeitung des Judenthums (1837-1922) und der Archives Israélites de France (1840- 1935). Entsprechend dem hier verfolgten mikro-historischen Ansatz stehen die Texte der Leiter der genannten Zeitschriften im Vordergrund, Isidore Cahen und Hippolyte Prague für das französische Organ, Ludwig Philippson und Gustav Karpeles für das deutsche. Man schätzt insbesondere die klare methodologische Reflexion am Anfang der Untersuchung. In den bisherigen Studien zur jüdischen Minderheit in den beiden Ländern sei die nationale Perspektive im Vordergrund gestanden; auch in vergleichenden Arbeiten habe ein dichotomischer Ansatz vorgeherrscht. Der Verfasserin geht es vielmehr darum, eine gemeinsame Logik und transnationale Aspekte herauszuarbeiten. Sie distanziert sich von der (normativen) Assimilations-Kategorie, die Michael R. Marrus in seiner Studie The Politics of Assimilation. A Study of the French Jewish Community at the time of the Dreyfus Affair (1971) vertrat, nach der die Assimilationsstrategie der französischen jüdischen Minderheit scheiterte und sich darum die Idee eines eigenen Staates zu artikulieren begann. Man könne in den beiden Ländern, so die Verfasserin, nicht von der Idee einer homogenen Nation aus-