eJournals lendemains 42/168

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42168

Julia Borst: Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman. Die Post-Duvalier-Ära in der Literatur

2017
Wiebke Beuhausen
ldm421680095
95 Comptes rendus JULIA BORST: GEWALT UND TRAUMA IM HAITIANISCHEN GEGENWARTS- ROMAN. DIE POST-DUVALIER-ÄRA IN DER LITERATUR, TÜBINGEN, NARR, 2015, 289 S. In Haiti endete 1986 die fast dreißig Jahre andauernde Diktatur unter François und Jean-Claude Duvalier. Die Despoten hinterließen ein Land, das gezeichnet bleibt von politischer Instabilität, einer desolaten Wirtschaftslage, sozialer Ungleichheit und den verheerenden Auswirkungen von Naturkatastrophen sowie anhaltender Gewalt, die die Alltagswirklichkeit der haitianischen Bevölkerung post-1986 weiterhin zu bestimmen scheint. Fernab stereotyper Beschreibungen Haitis als ein postkolonialer failed state oder „pays maudit“ (54), ein Ort exzessiver Gewalt und „unzivilisierter Alterität“ (59) befasst sich Julia Borst in ihrer Monographie mit fiktionalen Darstellungen von Gewalt, Trauma und versehrter Körperlichkeit in der französischsprachigen haitianischen Literatur der Post-Duvalier-Ära - einer in der Frankoromanistik bisher wenig aufgearbeiteten Epoche. In zwei beeindruckend detaillierten Romananalysen, die in einem kulturwissenschaftlichen und zugleich narratologischen close reading erfolgen, widmet sich Borst mit Yanick Lahens (*1953) und Lyonel Trouillot (*1956) zwei der bekanntesten haitianischen Gegenwartsautoren. Als Ausgangsthese formuliert sie, dass sich die Romane „einer spezifischen Ästhetik bedienen, um das verstörende Moment der Gewalt auf der Ebene des Symbolischen zu inszenieren“ (3). In der Reflexion der traumatischen Wirkung und Zerstörungsmacht von Gewalt verharrten die Texte eben nicht in stereotyper Repräsentation und mimetischer Abbildung Haitis und der Gewaltexzesse. Vielmehr handle es sich „um die abstrakte Fiktionalisierung der traumatischen Gewalterfahrung einer Gesellschaft jenseits historischer Akkuratheit“ (75) sowie um eine „komplex[e] Form literarischen Bezeugens, die […] Gewalt als kollektiv relevante Erfahrung […] konstruiert“ (76). Überdies geht Borst der Frage nach, welche diskursprägende und somit gesellschaftspolitische und kulturelle Funktion Literatur in der Auf- und Verarbeitung kolonialer, postkolonialer oder post-diktatorischer Gewalt sowie bei der Konstitution einer kollektiven Erinnerung erfüllt. Hier situiert Borst ihr Werk an der Schnittstelle von Literatur- und Kulturwissenschaft und postkolonialem Memoria-Diskurs. In einem umfangreichen, den Romananalysen vorangestelltem Theorieteil untersucht die Autorin das Phänomen der Gewalt und stellt zentrale Aspekte zu Körper, Trauma und Subjektivität in den Vordergrund. In ihrer Begriffsbestimmung, die für die Romananalysen fruchtbar gemacht und konsistent verwendet wird, bedient sich Borst Erkenntnissen aus der Soziologie, den Politik- und Kulturwissenschaften und der Psychologie. Sie plädiert für eine enge Definition von Gewalt, die stets in einem intendierten „Angriff auf den Körper des Anderen“ bestehe, potenziell traumatisierend auf das die Gewalterfahrung machende Subjekt einwirke und somit „als Verletzung der körperlichen und psychischen Unversehrtheit des Subjekts“ (4) verstanden werden müsse. Den Gewaltbegriff verbindet sie innovativ mit Ansätzen aus der 96 Comptes rendus Traumaforschung, die in den vergangenen Jahren Einzug in die Literaturwissenschaft gehalten hat. Hier bezieht sie sich insbesondere auf die Ausführungen Cathy Caruths zum ‚kulturellen‘ Trauma als eine metaphorische „Wunde der Psyche“ (38) 1 . Aufschlussreich erscheint Borst die Formulierung der „Verletzbarkeit“ des Subjekts (30sqq.). Diese manifestiere sich neben der physischen Gewalteinwirkung, also dem auf die eigene Körperlichkeit zurückwerfenden Schmerzerleben, genauso in der (An- )Drohung und Antizipation von sowie dem Wissen um Gewalt und schreibe sich sodann in die Psyche des Kollektivs als Trauma ein (43). Die Studie rekurriert auf ein breites Spektrum v. a. deutschsprachiger soziologischer Arbeiten zum Phänomen der Gewalt. Von Interesse wäre aus Perspektive einer interdisziplinären Karibistik noch eine anti-kolonial informierte Analyse der Gewalt im postkolonialen karibischen Kontext etwa aus psychoanalytischer Sicht nach Frantz Fanon gewesen. Auch hätte die anthropologische Studie von Deborah Thomas zu Gewalt und Staatsbürgerschaft in Jamaika vergleichend herangezogen werden können. 2 Im Sinne dekolonialer Ansätze (Quijano, Mignolo) formuliert Borst die als exzessiv wahrgenommene Gewalt in Haiti „als neuesten Höhepunkt einer historischen Kontinuität“ (237). Sie weist auf die Persistenz kolonialer Machtstrukturen hin, die ausschlaggebend sind für die soziale Kluft in Haiti, das sich darin entfaltende Gewaltpotenzial und die „globale Wahrnehmung“ (55) des Landes. Einhergehend mit einem objektifizierenden Viktimisierungsdiskurs könne deshalb von epistemischer (Spivak) bzw. symbolischer (Bourdieu) Gewalt gesprochen werden, die die Romanautoren zu dekonstruieren suchen. On ne compte plus les morts. - Im zweiten Kapitel befasst sich Borst mit der exzessiven Gewalt in Trouillots Roman Rue des pas-perdus (1996), einer Geschichte des Überlebens und Erinnerns. In den sechs Unterkapiteln wird der traumatischen Wirkung und Destruktivität von Gewalt sowie der Verletzbarkeit des Subjekts anhand der sechs eng verschränkten Analysekategorien Raum, Geschichte, Liebespaar, Körper sowie Trauma bzw. Erinnern und erzählerische Vermittlung nachgegangen. Borst verweist sowohl auf den durch tote Körper und Gewalt markierten urbanen Raum Port-au-Prince, einem „‚univers clos‘ des Hasses und der Verzweiflung“ (107), das sinnbildlich für die durch enthemmte Gewalt entstandene Unordnung, Desorientierung und Entgrenzung steht, als auch auf den zyklischen Charakter der Gewalt in der haitianischen Geschichte. Darin sieht sie eine Unabwendbarkeit der Gewalt, die wiederum in der Romanstruktur gespiegelt wird. Hervorzuheben ist ihre Interpretation der Körpersymboliken: Hier zeigt sie, wie die das Subjekt zerschmetternden Gewaltexzesse in der Erzählung der körperlichen Versehrtheit sichtbar werden - etwa im ‚cadavre marassa‘, der zugleich die haitianische Religion des Vodou evoziert. Der Effekt ist eine regelrechte Entmenschlichung der Opfer durch ihre Reduktion auf objekthafte verstümmelte Körperlichkeiten. Borst stellt eindrücklich dar, inwiefern, wenn 1 Cathy Caruth, Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History, Baltimore, John Hopkins Univ. Press, 1995. 2 Deborah Thomas, Exceptional Violence. Embodied Citizenship in Transnational Jamaica, Durham, Duke University Press, 2011. 97 Comptes rendus Sprache scheinbar versagt, der Körper - insbesondere der des Taxifahrers als einer der drei zentralen Romanfiguren - Zeugnis über die Zerstörungsmacht des Gewaltakts ablegt und gleichsam als Topos der Erinnerung und des Traumas eingeschrieben wird (136sq.). Den Ausführungen Aleida Assmanns folgend, sei „[d]er Körper der Gefolterten und Traumatisierten […] der bleibende Schauplatz der verbrecherischen Gewalt und damit zugleich das ‚Gedächtnis‘ dieser Zeugen“ (zit. 135sq.). Über diese Körper erfolgt die Sichtbarmachung der Gewaltexzesse im Text, die Borst auch in der Versehrtheit des ‚Text-Körpers‘ selbst auszumachen sucht. Letztere münde in einer „Krise der Narration“ (138), die sich in einem zerrissenen, fragmentarischen, polyphonen Erzählen äußere, aber auch der Unmöglichkeit Rechnung trage, Traumata kohärent aufzuarbeiten. Sie steht somit für einen Versuch der Rekonstruktion der erlebten einschneidenden Gewalt, auf die nur mehr ein bruchstückweiser Zugriff möglich ist. Tout a déjà basculé dans la mort. - Lahens’ Roman La couleur de l’aube (2008) ist das dritte Kapitel gewidmet, das sich ebenfalls in sechs analytische Schwerpunkte untergliedert. Zunächst wird aufgezeigt, wie die Romanautorin Gewalt als historische Konstante darstellt. Das im Buchtitel heraufbeschworene „Morgen-Grauen“ (170), so Borst, läute einen weiteren Tag wiederkehrender Gewaltausbrüche ein, vor denen es kein Entkommen gäbe. Wie bei (postkolonialen) Traumanarrativen nicht unüblich erfolge eine Aufweichung der Täter-Opfer-Dichotomie, wie sie Borst in der Figur Fignolés ausmacht und durch die jegliche Versuche der Moralisierung und Schuldzuweisung unterminiert werden. Die Absenz von Fignolés Erzählstimme, die nicht mehr selbst Zeugnis über die erlebte Gewalt ablegen kann, deute nicht nur den Grad der Traumatisierung des (verstummten) Subjekts an, sondern verweise auch auf die ultimative „Vernichtung der Opfer“ (240), denen der Text so huldige. Hervorzuheben ist Borsts Interpretation des im Roman verhandelten sexuellen Missbrauchs, in welchem sich „die Verrohung einer von Gewalt zerrütteten Gemeinschaft“ (186) sowie die Unmöglichkeit der Liebe und des Begehrens (203) offenbare. Der gewaltsame Eingriff in die körperliche Integrität wird sowohl als Akt vergeschlechtlichter Gewalt an dem auf ein ‚Lustobjekt‘ reduzierten, ‚benutzbaren‘ weiblichen Körper (187) verstanden, als auch als eine Performanz ‚rassifizierten‘ Machtgebahrens der Elite der ‚Weißen‘ und ‚Mulatten‘ über ‚den‘ schwarzen Körper, die somit koloniale Unterdrückungsformen fortsetze. Angesichts der Schwierigkeit, die erlebte Gewalt in Worte zu fassen, zeigt Borst abschließend auf, dass der fiktionale Text marginalisierten, traumatisierten Opfern wie den beiden Protagonistinnen einen Raum der Versprachlichung der Gewalterfahrung biete. Er könne als ein narrativer Akt der Traumabewältigung und des Gedenkens an jene viktimisierten Subjekte gelesen werden, die der globalen Aufmerksamkeit für gewöhnlich entgehen. Obgleich Borst für die Auswahl dieses eher kleinen und sicherlich nicht repräsentativen Textkorpus kritisiert werden könnte, so sind beide Romane doch exemplarisch für eine der haitianischen Literatur charakteristische Sozialkritik und die literarische Rezeption der ausufernden Gewalt und der Kollektivtraumata. Diese prägen 98 Comptes rendus die haitianische Gesellschaft und treten auf besonders eindrückliche Weise im Œuvre der Autoren in Erscheinung, wie überzeugend argumentiert wird. Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag für die Romanistik in Deutschland, die sich zunehmend mit der noch marginalisierten frankophonen postkolonialen Literatur befasst. Bereichernd ist sie zudem für die immer mehr an Bedeutung gewinnende Karibikforschung im deutschsprachigen Raum und geht insofern über viele literaturwissenschaftliche Arbeiten hinaus, als sie sich dezidiert mit Autoren aus der karibischen Region und nicht der Diaspora auseinandersetzt. Borst knüpft an die aktuelle Forschung zu Gewalt, Verletzlichkeit und Körperpolitiken in der karibischen Literatur an. Sie schafft eine klare Begrifflichkeit zur Gewaltthematik, die sie mit literaturwissenschaftlicher Traumaforschung kreuzt und die anschlussfähig ist für weiterführende Analysen nicht nur der postkolonialen, karibischen Literaturen. Wiebke Beushausen (Heidelberg) ------------------ ISABELL LAMMEL: DER TOUSSAINT-LOUVERTURE-MYTHOS. TRANSFORMA- TIONEN IN DER FRANZÖSISCHEN LITERATUR, 1791-2012, BIELEFELD, TRAN- SCRIPT, 2015, 396 S. „En me renversant on n’a abattu à Saint-Domingue que le tronc de l’arbre de la liberté des Noirs, il repoussera par les racines car elles sont profondes et nombreuses“. Diese Worte bilden das apokryphe Vermächtnis Toussaint Louvertures, des Revolutionsführers der Haitianischen Revolution (1791-1804), die er nach seiner Festnahme durch französische Truppen am 7. Juni 1802 geäußert haben soll, als er auf das Schiff ‚Le Héros‘ gebracht wurde, um nach Frankreich deportiert zu werden. Isabell Lammel nimmt in ihrer Dissertation den Mythos des haitianischen Revolutionsführers als Ausgangspunkt, um die Repräsentationen und Transformationen, die dieser Mythos über einen Zeitraum von rund 200 Jahren erfahren hat, aufzuzeigen. Sie zeichnet die Rolle nach, die er im kollektiven Gedächtnis Frankreichs vom Ende des 18. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts gespielt hat oder eben auch nicht, und die Gründe hierfür. Nach dem Ausbruch der Haitianischen Revolution auf Saint-Domingue - jener ‚Perle der Antillen‘, die einst die reichste Kolonie Frankreichs gewesen ist -, kristallisiert sich die Führungsposition Toussaint Louvertures heraus, der „wie kein Anderer dem Kampf der Sklaven gegen die Kolonialmacht ein Gesicht verliehen hat“ (14). Auch wenn es ihm selbst nicht mehr vergönnt war, die Unabhängigkeitserklärung Haitis (1804) mitzuerleben, so lebt sein Erbe fort, und dies nicht nur auf Haiti selbst, sondern eben auch in der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Während in der Geschichtsschreibung ein „Mechanismus des Vergessens“ (64) einsetzte, da eine Revolution von ‚Schwarzen‘ als undenkbar erschien, hat die Literatur in diversen Schriften, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, Zeugnis von der Haitianischen Revolution und Toussaint Louverture abgelegt.