eJournals lendemains 42/168

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42168

Schweigen und Vielstimmigkeit in der aktuellen haitianischen Literatur

2017
Leonie Meyer-Krentler
ldm421680042
42 Dossier Leonie Meyer-Krentler Schweigen und Vielstimmigkeit in der aktuellen haitianischen Literatur „Bei uns herrschte das Gesetz des Schweigens“, sagt die 1958 geborene Autorin Kettly Mars über die ersten 29 Jahre ihres Lebens, die Zeit der Duvalier-Diktatur in Haiti. „Wer überleben wollte, durfte nicht sprechen, nicht abweichen, und vor allem nicht protestieren“ (Wüllenkemper 2016). Mehrere Autoren aus Haiti haben mit ihrem schriftstellerischen Werk in den letzten Jahren an diese Erfahrung erinnert und Folgen der Diktatur für die heutige haitianische Gesellschaft aufgezeigt: „In den 30 Jahren der Duvalier-Diktatur steckt der Kern dessen, was wir heute sind“, sagt Kettly Mars (Wüllenkemper 2016). Sie formuliert damit eine Perspektive, die man auch bei Anthony Phelps, dem Begründer der Literatengruppe Haití litteraire finden kann, deren Mitglieder während der Diktatur unter ständiger Lebensgefahr gegen den vom Regime propagierten Rassismus und für die freie Rede eintrat, oder bei Dany Laferrière, der 1976 ins Exil floh und zum wichtigsten französischsprachigen Schriftsteller Kanadas wurde. Autoren wie Laferrière, Mars, Phelps oder auch der ebenso auf internationaler Ebene agierende Lyonel Trouillot fungieren dabei in besonderer Weise als Botschafter für Haiti, gezwungenermaßen: Sie müssen in der Öffentlichkeit ständig Korrekturarbeit leisten, denn das Bild, das man sich im Ausland von Haiti macht, ist extrem einseitig. Es ist nach wie vor ein uneingeschränktes Bild des Elends, insbesondere seit dem verheerenden Erdbeben vom 12. Januar 2010. Das ungeheuer reiche kulturelle Leben Haitis, neben der Literatur insbesondere auch in der Malerei und in der Musik, ist mit solchen Elendsbildern wohl nicht vereinbar, bleibt jedenfalls fast immer unbeachtet. Dass Haiti trotz einer Analphabetenquote von weit über 50% eine herausragende literarische Tradition hat und einige der weltweit bemerkenswertesten Gegenwartsautoren hervorgebracht hat, wissen Verleger insbesondere in Frankreich und in Kanada schon länger, ansonsten spielen frankophone karibische Literaturen im internationalen Literaturbetrieb weiterhin eine marginale Rolle. In Deutschland kommt dem Litradukt Verlag besondere Bedeutung zu, der ganz der haitianischen Literatur verschrieben ist. Unter den Neuerscheinungen haitianischer Autoren fallen in den letzten Jahren Titel ins Auge, die Motive des Schweigens wieder aufgreifen. Sie alle spielen in der Zeit seit 2003, als sich die bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Haiti zuspitzten, eine Entwicklung, die 2004, im Jahr der 200-jährigen Unabhängigkeit Haitis, einen Höhepunkt erreichte. Der Sieg der Rebellen in vielen Regionen und der Vormarsch auf die Hauptstadt Port-au-Prince führte zu weitgehender Destabilisierung und einem Zusammenbruch innerstaatlicher Ordnung. 2004 intervenierten Frankreich und die USA . Im Februar 2004 verließ Präsident Aristide Haiti in einem Flugzeug in die USA , wozu er nach eigenen Angaben gezwungen worden sei, sodass von einem Staatsstreich die Rede war. Seit dem verheerenden Erdbeben von 2010 hat sich die Lage 43 Dossier in Haiti in dieser unklaren politischen Lage massiv verschärft, Kettly Mars sprach phasenweise „fast von einer Diktatur der NGO s in Haiti“ (Mars 2013) - in einem Land, in dem die Wunden der erst 1986 beendeten Duvalier-Diktatur noch lange nicht geheilt sind, ist dies eine sehr alarmierende Aussage und zugleich erschreckende Realität. Insbesondere drei Romane von Kettly Mars und Lyonel Trouillot sollen hier näher besprochen werden, weil sie neue Ausgestaltungsformen des klassischen und für die haitianische Literatur so besonders zentralen Motivs des Schweigens finden: (1) Lyonel Trouillots in Frankreich 2004 erschienener Roman Bicentenaire (Jahrestag, 2012) thematisiert die Unruhen zum 200. Jahrestag der haitianischen Unabhängigkeit: Der Student Lucien ist zu Beginn des Jahres 2004 auf dem Weg zu einer Demonstration in Port-au-Prince, wo die Unruhen sich zuspitzen. 200 Jahre Unabhängigkeit, das sind gleichzeitig 200 Jahre blutige Auseinandersetzungen. Eine große Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit prägen die Handlung um den jungen Protagonisten, der am Ende des Romans in einer Masse friedlicher Demonstranten ums Leben kommt. (2) Kettly Mars’ 2013 erschienener Roman Aux frontières de la soif (Vor dem Verdursten, 2013) setzt nach dem Erdbeben von 2010 in einer Notunterkunft am Rande der Hauptstadt ein und wird aus der Sicht eines pädophilen NGO -Mitarbeiters erzählt, der als Schriftsteller um Ausdrucksformen ringt. (3) Kettly Mars’ Folgeroman Je suis vivant von 2015 (Ich bin am Leben, 2015) ist besonders komplex, was Inszenierungsformen von Schweigen und Vielstimmigkeit angeht. Er erzählt das Thema des Weiterlebens nach dem Erdbeben aus einer ganz anderen Perspektive: Eine wohlhabende Familie ist von Toten und Verletzten verschont geblieben. Nach dem Erdbeben muss sie einen schizophreniekranken, 60jährigen Sohn nach Hause holen, der nicht spricht, dessen Rückkehr seine Mutter und seine Geschwister aber mit den verdrängten Themen der Vergangenheit konfrontiert. Lyonel Trouillot geht es in Bicentenaire in besonderer Weise darum, dem Schweigen eine Stimme zu geben, das Schweigen zu inszenieren. Klassischerweise könnte das in der haitianischen Literatur bedeuten: Dem Trauma von Armut und Ausbeutung Ausdruck zu verleihen, eine Herausforderung, die in Haiti seit der Kolonialzeit eine große Rolle spielt. Aber Trouillot verweist auch auf eine andere Bedeutung des Schweigens, des Schweigen-Dürfens, des Kein-Anliegen-, Keine-Antwort-Habens. Dieses Schweigen fällt mit einem Zusammenfließen verschiedenster Stimmen in der Wahrnehmung Luciens zusammen, es ist gewissermaßen auch ein ‚beredtes Schweigen‘, das in der Vielstimmigkeit von Erzählerberichten und inneren Monologen abgebildet wird. Im Vorwort heißt es bereits: Tout ici ne renvoie qu’à l’incommunicable, au silence que cachent le bruit et la fureur. Le propos n’est donc pas d’éclairer la lanterne de qui voudrait comprendre pourquoi la police a donné la charge sur une foule pacifique, pourquoi telle ville pousse au crime, pourquoi ci et pourquoi ça. Comme dans tous les récits, on entendra ici plus de voix que de causes. Ou 44 Dossier chaque voix explorant dans son monologue sa cause ou son absence de cause, ce qui lui appartient en propre: sa part de quête et d’ignorance (Trouillot 2004: 9sq.). 1 Lucien träumt davon, einen Roman zu schreiben, „dessen Held das Schweigen ist“, „ein Buch des Blicks, das sich den Lärm erspart“ (Wüllenkemper 2012, Trouillot 2004: 68sq., 121). Trouillot inszeniert hier meisterhaft das Ringen um Sprache, aber auch um das Schweigen in einer gewaltsamen, ausweglosen Atmosphäre. Als Lucien sich mit der demonstrierenden Menge durch die Straßen der Hauptstadt bewegt, kommentiert der Erzähler: Il a oublié, ils ont tous oublié qu’il existe dans ce pays des milliers de personnes, et à l’intérieur de chacune de ces personnes vivent des cris, un tumulte qui se multiplie et donne son rythme à la marche. Mais il y a aussi un monde de silences, et nul n’entend le silence de l’autre. C’est pourtant ça l’idée qui le fait marcher. A chaque dos, à chaque visage, il a envie de dire je veux entrer dans ton silence (Trouillot 2004: 93). 2 Dies scheint hier der letzte, angesichts der katastrophalen Verhältnisse noch mögliche Akt der Humanität zu sein: das Schweigen der anderen zu teilen. Abbildbar wird dieses Schweigen insbesondere durch Inszenierungsformen der Vielstimmigkeit: Ein allwissender Erzähler lässt Gedankenberichte verschiedener Figuren ineinandergreifen, die in Luciens Alltagsleben der letzten Tage vor seinem Tod eine Rolle spielen oder die er auf seinem Weg durch Port-au-Prince trifft. Eingestreut sind darüber hinaus in der ersten Person erzählte Ausschnitte seiner inneren Dialoge mit Familienangehörigen und Freunden. Trotz der dramatischen, sich immer mehr zuspitzenden äußeren Geschehnisse während der Demonstration in der zweiten Romanhälfte treibt hier kein hohes Erzähltempo auf das für den Helden tödliche Ende zu, vielmehr wird auch beim Lesen so etwas wie Stille erlebbar. Diese Stille durchzieht alles, auch Luciens Sehnsucht nach Liebe, nach Begegnung, als er eine ausländische Journalistin kennenlernt: „les mots sont morts, mon amour“ (Trouillot 2004: 69). 3 Ein weiterer wegweisender Roman aus Haiti, der Schweigen und Sprechen inszeniert, ist Kettly Mars’ Aux frontières de la soif: Haiti zu Beginn des Jahres 2011. Fito, Erfolgsautor und Architekt aus Europa, verkörpert die Desillusionierung in Canaan, einem in der haitianischen Realität keineswegs ‚gelobten Land‘, das vielmehr eine Hölle ist: Canaan heißt hier ein Lager für Erdbebenopfer, in der Nähe der Hauptstadt leben so über 80 000 Menschen. Fito ist ein Pädophiler, der die ausweglose Lage junger Mädchen ausnutzt, einer, der hinter Gitter gehörte, dessen eigene Leere und Verzweiflung hier ebenso Raum greifen wie sein Handeln. Das ist typisch für Kettly Mars’ Literatur: Sie bannt Vielschichtigkeit und Komplexität in starke Bilder, ohne bei deren Interpretation behilflich zu sein. Sie lässt ihre Leser mit diesem Fito allein, der um eine Stimme ringt, der aufschreiben will, was er erlebt, der mit dem Schreiben auch darum ringt, seinen eigenen Abgründen zu entkommen. Der Besuch von Tatsumi, einer japanischen Journalistin, die eine Reportage über Haiti schreibt, treibt dies voran: Er muss sein Geheimnis vor ihr verbergen, gleichzeitig ist echte Nähe, die er sich zu ihr wünscht, so nicht möglich. 45 Dossier In ihren Romanen konfrontiert Kettly Mars ihre Leser immer wieder mit Figuren, die irritieren, die überfordern, die schockieren: In Fado lässt sich eine Frau mit dem Folterer ihres Mannes ein und beginnt, das Verhältnis zu genießen, in Aux frontières de la soif sehen wir das Geschehen mit den Augen des pädophilen Helfers, der schizophrene Patient in Je suis vivant personifiziert die aufreibende kollektive Verdrängung eines Traumas. Auch in diesem Text widmet sich Kettly Mars wieder Dingen, die in der Gesellschaft vorzugsweise verschwiegen werden, die komplex und unangenehm sind: Es geht um die Gefühle, die der Umgang mit einem geliebten, psychisch schwer erkrankenden Familienmitglied bei den Angehörigen auslöst. Diese Gefühle sind eng verwoben mit haitianischer Geschichte (insbesondere der Duvalier-Diktatur) und Gegenwartsbewältigung. Leitmotivisch durchzieht den Roman das Schweigen nicht nur des psychisch kranken Alexandre, sondern auch der verschiedenen anderen Familienmitglieder zu entscheidenden Lebensthemen. Abgebildet wird dieses Schweigen, indem innere Monologe der verschiedenen Figuren kaleidoskopartig ineinandermontiert werden. Nach und nach wird so geschildert, wie Alexandre, ältester Sohn der Familie, nach dem Erdbeben seinen Platz in der Psychiatrie verliert. Alexandre muss nun also nach 40 Jahren innerhalb von 24 Stunden nach Hause geholt werden. Seine drei Geschwister und seine alte Mutter, die bis auf eine Schwester im gemeinsamen Familienanwesen leben, erinnern sich an den Ausbruch der Schizophrenie-Erkrankung. Die Veränderung, die dadurch im eigenen Leben eintrat, wird aus der Sicht von Grégoire, dem jüngeren Bruder von Alexandre, einmal so geschildert: Tout changeait à notre insu dans la maison. Nous devenions suspects, de nous-mêmes et des autres. Devions-nous avoir peur et de quoi exactement? Que notre famille ne vole en éclats? Nous apprenions dans l’empirisme le plus total que nous avions un cerveau et qu’il pouvait être malade, au point de nous transformer en un être étrange que les autres avaient du mal à aimer (Mars 2015a: 65sq.). 4 Grégoire erinnert sich auch an den Moment des endgültigen Abschieds von seinem Bruder in der Kindheit. Als er gerade mit dem Fahrrad nach Hause kam, […] la voiture de l’Institution passait le portail. […] L’événement attendu et redouté est arrivé et il est lourd comme une sentence de mort. Nous étions soulagés mais nous avions aussi très mal. Nous ne comprenions pas pourquoi ça devait être pour toujours. Pourquoi Alexandre ne remontait pas la pente, ne se battait pas contre les ombres qui l’emmenaient? […] On ne parlait pas beaucoup dans notre famille, nous laissions le silence garder dans ses profondeurs nos secrets et nos aveux (Mars 2015a: 57sq.). 5 Die Krankheit des Bruders, des Sohnes zementiert aber nicht nur das Schweigen darüber in der Familie. Den Familienvater zwingt sie auch auf eine für ihn traumatische Art zum Sprechen: Dieser Vater kann seinen Wunsch, Alexandre als seinen Nachfolger, als seinen idealen Sohn aufzuziehen, trotz massiver Schwierigkeiten mit dem jugendlichen Sohn und auch trotz der Anzeichen für eine ernsthafte Erkrankung innerlich nicht aufgeben. In dieser Situation muss er zur Polizei, die Alexandre 46 Dossier inhaftiert hat, weil er Verbindungen zu unter der Diktatur verbotenen politischen Gruppierungen unterhält. Dort spricht der Vater den Polizeibeamten gegenüber erstmals über die Krankheit des Sohnes, um diesen vor der Folter zu retten. Nach diesem Ereignis verliert er als Rechtsanwalt seinen gesamten Kundenstamm, ein negativer Wendepunkt in seinem Leben, der das Familienleben massiv beeinflusst. Wieder weiß man nicht zu sagen: Ist es erleichternd, dass dieser Vater seine Verleugnungshaltung endlich aufgeben muss, oder ist es schrecklich, dass er einer solchen Erniedrigung ausgesetzt ist? Kettly Mars’ Kunst besteht vielleicht insbesondere darin, beide Empfindungen gleichzeitig zu erzeugen, Widersprüchlichkeiten an solchen Wendepunkten auf verstörende Weise erlebbar werden zu lassen. Ähnlich ist es mit der Einweisung Alexandres in die Psychiatrie: ein gleichzeitig erleichterndes und kaum auszuhaltendes Erlebnis für die Familie. In welcher Weise Alexandre aufgrund seiner Erfahrungen in der Diktatur erkrankte, wie die Erlebnisse im Widerstand ihn verändert haben, lässt sich nicht genau festmachen, trennbar sind Diktatur und Schizophrenie aber nie. Alexandre wird eingewiesen, nachdem er versucht hat, in der Küche des Hauses seine Mutter zu erstechen. Sie hatte ihm den Weg nach draußen versperren wollen, ein letztes Mal - nach diesem Erlebnis fasst man den Beschluss, ihn einweisen zu lassen, auch um ihn ‚sicher‘ zu wissen. Als Alexandre 40 Jahre später so plötzlich wieder in die Familie aufgenommen wird, werden weitere drängende Themen akut, auch Themen der Gegenwart, zum Beispiel die verdrängte Homosexualität von Marylène, Alexandres älterer Schwester. Sie verliebt sich in eine junge Frau aus der armen Bevölkerung und glaubt, Alexandre sei der Einzige, der sie für dieses Verhältnis nicht verurteile. Gabrielle, die jüngere Schwester, führt kurz vor dem Tod der 86-jährigen Mutter mit dieser ein nie für möglich gehaltenes Gespräch über die irritierenden Ängste der Mutter während ihrer eigenen Kindheit. Das Schweigen wird an solchen seltenen Stellen beweglich bis hin zum echten Dialog. Im Roman hat es unterschiedliche erzählerische Funktionen: Zunächst einmal geht es darum zu inszenieren, was in einer Figur vorgeht, während sie schweigt, was also verschwiegen wird. Nicht zuletzt geht es um die schwer zu beantwortenden Fragen: Wie kann Alexandres Krankheit besprochen werden? Gibt es dafür Worte? In diesem Roman zeigt sich die ungeheure Kraft der Literatur, Innensichten zu vermitteln, die solche Fragen erhellen, ohne zu simplifizieren, und die auch Alexandres mitunter traumähnliche Wahrnehmung einschließen. Neben der Inszenierung dessen, was in den Figuren vorgeht, während sie schweigen oder Alltagsgespräche führen, die den Grund der Dinge nicht tangieren, geht es im Roman auch darum, das Schweigen selbst zu inszenieren: die Leerstellen, die dadurch entstehen. Alexandre sieht sich selbst dabei bezeichnenderweise (und den Symptomen seiner Krankheit gemäß) als einen, der alles sieht, hört und weiß, der alles wahrnimmt. Das Schweigen geht für ihn nicht aus einer Leere, einem Nichts hervor, sondern aus der Summe allen Sprechens, allen Geschehens, die nicht mehr durch eigenes Sprechen bewältigt werden kann. Für die anderen aber entsteht so etwas wie eine Leerstelle, wenn sie von Alexandre angeschwiegen werden, weil niemand sein Verhalten einschätzen kann, weil er den anderen fremd geworden ist. 47 Dossier Kettly Mars gelingt mit diesem Text eine sehr schonungslose, dabei respektvolle, sich auch hier jeglichem Urteil entziehende Inszenierungsweise des verdrängten Traumas der Diktatur. Der schwer kranke Alexandre hat im Stimmen-Reigen des Romans dabei eine gleichwertige innere Stimme von vielen, gleichwertig auch in ihrer Widersprüchlichkeit. Dieser Figur sind einige der interessantesten, auch der poetischsten Passagen zugeordnet. Bei allen Traumata der verschiedenen Figuren, die im Roman offenbar werden - etwa eine Missbrauchsgeschichte der Mutter - ergibt sich ein Paradox: Das Schweigen-Dürfen und das Schweigen-Müssen lassen sich schwer trennen und tragen gleichermaßen, so die Inszenierungsweise des Romans, zur Identität der traumatisierten Person bei. Dieses Paradox ist im Roman elementarer Teil der Diktaturerfahrung mehrerer sehr verschiedener Persönlichkeiten. Über das Politische hinausgehend gibt es in Haiti ein Thema, das mit dem Schweigen über viele Generationen und die politischen Unruhen des 20. und 21. Jahrhunderts hinweg bis in die Gegenwart verbunden ist: Das Verdrängen, das Unterdrücken des Vodou durch politische Machthaber und durch die christliche Bevölkerung. Der 1962 geborene Louis-Philippe Dalembert greift dieses Thema in seinem 2006 erschienenen Roman Les dieux voyagent la nuit (Die Götter reisen in der Nacht, 2016) auf. Auch in der Medienberichterstattung über das Erdbeben im Jahr 2010 tauchte dieser Aspekt ab und zu am Rande auf: als der in der christlichen Bevölkerung Haitis schwer zu bekämpfende Glaube, das verheerende Erdbeben in diesem ohnehin so am Boden liegenden Land sei eine Strafe Gottes, was alte Vorstellungen von Vodou als Sünde neu belebte. Kettly Mars und Lyonel Trouillot gehören zu den Schriftstellern und Intellektuellen des Landes, die die Bedeutung des Vodou für ihr Schaffen und für die kulturelle Identität des Landes als hoch einstufen. 2003 wurde Vodou in Haiti offiziell anerkannt und somit auf die gleiche Ebene mit den christlichen Glaubensgemeinschaften gestellt. Aber in der massiven Krise der Jahre nach dem Erdbeben ist diese Toleranz nicht mehr Realität. Im Januar 2010, unmittelbar unter dem Eindruck des Erlebten, nachdem sie selbst in ihrem Haus nur mit Glück überlebt hatte, schrieb Kettly Mars einige Sätze, die fast wie ein Kommentar zu der ‚Traumnähe‘ einiger ihrer Figuren, insbesondere ihrer Hauptfigur Alexandre in Je suis vivant klingen und aus der sonstigen Schilderung der akuten Lage in Haiti nach dem Erdbeben herausstechen. Sie schrieb: Voodoo durchströmt unsere Geistesstruktur, der Haitianer ist von Natur aus Mystiker, er lebt traumnah. Genau deshalb darf dieses spirituelle Erbe nicht aus unserer Kultur verschwinden. Doch es lebt in einer heuchlerischen Position. Wer jetzt das Risiko einginge, Voodoo zu praktizieren, würde vermutlich gelyncht. Dies ließ sich bereits in heiklen politischen Krisensituationen der Vergangenheit beobachten. Der Voodoo-Glaube muss im Untergrund bleiben. Les esprits de nos ancêtres devront aussi souffrir de la soif et de la faim. Die Geister unserer Ahnen, auch sie werden hungern und dursten müssen (Mars 2010). Es wäre eine andere Untersuchung vonnöten, um die Sprache von Kettly Mars, ihre Verdichtungskunst, ihre Art der Poesie, die den Schrecken nicht aufhebt, einmal mit 48 Dossier diesem spirituellen Erbe in Verbindung zu bringen. Ihr Kommentar macht sehr deutlich, wie stark Aspekte des Schweigens auch aktuell in das kulturelle Leben Haitis hineinspielen. Chancy, Myriam J. A., Framing Silence. Revolutionary Novels by Haitian Women, New Brunswick, Rutgers University Press, 1997. Dalembert, Louis-Philippe, Les dieux voyagent la nuit, Monaco, Éditions du Rocher, 2006. Mars, Kettly, „Ich habe überlebt. Augenzeugenbericht aus Haiti“, in: Zeit online, 21.01.2010. —, Lesung und Gespräch mit Peter Trier im Literarischen Zentrum Göttingen, 4.6.2013 [Video- Mitschnitt des Literarischen Zentrums Göttingen]. —, Aux frontières de la soif, Paris, Mercure de France, 2013. —, Je suis vivant, Paris, Mercure de France, 2015a. —, Ich bin am Leben, trad. Ingeborg Schmutte, Trier, litradukt, 2015b. Price Vorbe, Rachel, Initiation à la littérature haïtienne contemporaine, Port-au-Prince, c3 Éditions, 2014. Trouillot, Lyonel, Bicentenaire, Paris, Actes Sud, 2004. —, Jahrestag, trad. Peter Trier, Trier, litradukt, 2012. Wüllenkemper, Cornelius, „Die karibische Tragödie. Lyonel Trouillots pessimistischer Roman über seine Heimat Haiti“, in: Süddeutsche Zeitung, 23.10.2012. —, „Insel im Meer aus Tinte“, in: Deutschlandradio Kultur, 26.6.2016 [Feature]. 1 „Alles verweist hier nur auf das Nichtmitteilbare und die Stille, die der Lärm und die Wut verbergen. Es geht also nicht darum, denen auf die Sprünge zu helfen, die verstehen wollen, warum die Polizei eine friedliche Menschenmenge angegriffen hat, warum eine bestimmte Stadt einen zum Verbrecher werden lässt, warum dies und jenes so oder so ist. Wie in allen Erzählungen werden hier mehr Stimmen als Anliegen zu hören sein. Oder der Monolog, in dem jede einzelne Stimme ihr Anliegen oder das Fehlen eines Anliegens, das, was ihr eigen ist, das heißt ihren Teil Suche und Unwissenheit, erforscht“ (Trouillot 2012: 7). 2 „Er hat vergessen, sie alle haben vergessen, dass es in diesem Land tausende von Menschen gibt, und im Inneren jedes dieser Menschen leben Schreie, ein Tumult, der sich vervielfältigt und dem Marsch seinen Rhythmus verleiht. Es gibt aber auch eine Welt aus Schweigen, und niemand kann das Schweigen des anderen hören. Dabei ist es diese Vorstellung, die ihn marschieren lässt“ (Trouillot 2012: 71). 3 „Die Wörter sind tot, meine Geliebte“ (Trouillot 2012: 51). 4 „Ohne, dass wir es wussten, änderte sich alles im Haus. Wir wurden uns und anderen gegenüber argwöhnisch. Mussten wir Angst haben, aber wovor eigentlich? Dass unsere Familie auseinanderflog? Wir lernten auf die allerempirischste Weise, dass wir ein Gehirn besitzen und dass es erkranken und uns zu einem befremdlichen Wesen machen kann, das die anderen kaum mehr liebenswert finden“ (Mars 2015b: 46). 5 „[…] als der Wagen von der Anstalt durch das Tor fuhr. […] Das erwartete und befürchtete Ereignis ist eingetreten, und es wiegt schwer wie ein Todesurteil. Wir waren erleichtert, doch es schmerzte uns auch sehr. Wir verstanden nicht, warum es endgültig sein sollte. Warum Alexandre nicht wieder auf die Beine kam, nicht gegen die Schatten ankämpfte, die ihn entführten? […] In unserer Familie wurde nicht viel gesprochen. Wir überließen es dem Schweigen, unsere Geheimnisse und unsere Bekenntnisse in seinen Tiefen zu verwahren“ (Mars 2015b: 40).