eJournals lendemains 38/149

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Narr Verlag Tübingen
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2013
38149

Aurélie Barjonet: Zola d'ouest en est. Le naturalisme en France et dans les deux Allemagnes

2013
Karin Peters
ldm381490135
135 Comptes rendus AURÉLIE BARJONET: ZOLA D’OUEST EN EST. LE NATURALISME EN FRANCE ET DANS LES DEUX ALLEMAGNES, RENNES, PRESSES UNIVER- SITAIRES, 2010, 282 P. Aurélie Barjonet widmet sich in ihrer Bestandsaufnahme der Zola-Rezeption nach Ende des Zweiten Weltkrieges zwei Vermittlungswegen und damit zwei Transpositionsleistungen. Ein Strang befasst sich mit dem gegenseitigen Austausch der deutsch-französischen Forschung und insofern einem interkulturellen Transfer, den Übersetzung und Rezeption zu leisten imstande sind. Der andere Schwerpunkt zielt auf die ideologisch buchstäblich ‚vermauerte‘ Gegenüberstellung ost- und westdeutscher Lektüren in Zeiten des Kalten Krieges. Durch die Editionsarbeit von Rita Schober, deren Neuübersetzung bzw. Herausgabe des Rougon-Macquart-Zyklus bei Rütten & Loening zwischen 1952 und 1976 in dieser Untersuchung im Mittelpunkt steht, stellt sich, so die These Barjonets, eine Revision dieses lange sowohl in Frankreich als auch im geteilten Deutschland verkannten Naturalisten ein. Die Arbeit von Barjonet leistet somit die geistesgeschichtliche Zusammenschau einer prekären Periode: Die Philologien Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik befinden sich dabei offensichtlich im Stadium des Übergangs. Der etwas wehmütig anmutende Verweis auf eine Zeit des Forschens, in der politische „questions fondamentales“ (257) weiterhin zu intellektuellen Grabenkämpfen führen konnten, mit dem Barjonet ihre Studie schließt, sollte dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorin ihrerseits die Untersuchung auch auf den ganz wesentlichen Impulsen theorieorientierter, textimmanenter Relektüren Zolas aufbaut - obwohl diese im Zeichen einer ‚entpolitisierten‘ Nachkriegs-Philologie zu operieren scheinen. Man darf ihrer Herangehensweise daher ein wesentliches Maß an Objektivität bescheinigen, das sich nicht zuletzt in der gewissenhaften Durchsicht zahlreicher Forschungsbeiträge und Dokumente niederschlägt. Mittels der sorgsam aufgearbeiteten Detailbetrachtung (etwa gängiger ‚Zola-Klischees‘) gelingt eine Ausarbeitung der Frage, wie es zwischen 1945 und 1978 zu jener von Rita Schober mitgetragenen, markanten Rehabilitation Zolas - vom enfant terrible zum Klassiker der französischen Literatur - kommen konnte. Zu den besonders lohnenden Ergebnissen der Studie gehört darüber hinaus ein von der Rezeptionsforschung ausgehender Überblick über die intellektuellen Zäsuren romanistischer Forschung nach 1945, 1968 und 1990. Die Untersuchung, die auf einer gekürzten Fassung der 2007 verteidigten Dissertationsschrift Barjonets basiert, ist in vier große Blöcke unterteilt: Im ersten Kapitel, „Zola au lendemain de la Seconde Guerre mondiale: Un patrimoine démocratique“, lässt Barjonet eine Phase Revue passieren, in der zuerst entweder das intellektuelle Engagement des Dreyfus-Verteidigers Zola (u.a. von Jean-Paul Sartre) gegen den faschistischen Antisemitismus ins Feld getragen oder aber der Naturalismus als formbesessener, unpolitischer Utopismus verkannt wird. Die Literaturwissenschaft Ostdeutschlands wird zu dieser Zeit bereits von staatlicher Zen- 136 Comptes rendus sur kontrolliert (cf. 38-52), im Westen wird sie durch den Einfluss französischer Theorie in eine neue Richtung gelenkt. Im Gedenkjahr 1952, fünfzig Jahre nach dem Tod des Romanciers, beginnt in dessen Mutterland schließlich eine neue Auseinandersetzung mit dem scheinbar ‚obszönen‘ Naturalisten. Als „créateur de mythes“ (59) und insofern überzeitlicher Modelle werden Zola und seine Literatur ‚aktualisierbar‘: Vielfach nimmt man dazu eine „parenté d’époque“ (Maurice Druon, zit. 65) an, die sich noch bis zu Rita Schobers Vergleich der westdeutschen Adenauer-Ära und dem Second Empire erstrecken wird (cf. 245); parallel führen die narratologischen Experimente des nouveau roman und das ‚naturalistische‘ Comeback in Form der Filmkunst zu einer neuen Bewertung realistisch-naturalistischen Erzählens insgesamt. Als Meilenstein in der französischen Zola-Forschung gilt „La Terre“ d’Émile Zola von Guy Roberts (1952), der zum ersten Mal in Form eines close reading Struktur und Textualität des Romans über dessen offensichtliche Botschaft stellt (cf. 66). Jean Fréville dagegen trägt zur Rehabilitation Zolas aus marxistischer Perspektive bei (Zola semeur d’orages, 1952), wenn er dessen sozialen Messianismus zum politischen Engagement erklärt. In der DDR avanciert Zola zeitgleich zum Gesellschaftskritiker par excellence (cf. 77), dessen Literatur jedoch im Zuge dessen einseitig als Dokumentation bürgerlicher Dekadenz, eines „déclin de la bourgeoisie“ (ibid.) und Aufstiegs des kämpfenden Proletariats „instrumentalisiert“ (ibid.) wird. Im zweiten - „Du ‚mauvais réaliste‘ au ‚réaliste malgré lui‘ (RDA, 1949-1956)“ - und dritten Kapitel - „La réhabilitation de Zola en ‚novateur‘ (RDA, 1956-1978)“ - steht folglich der ambivalente Status Zolas in der DDR zur Debatte: Barjonet vollzieht dazu den akademischen Werdegang Rita Schobers nach, die sich als Schülerin von Victor Klemperer auf dessen Hinweis hin in ihrer Habilitationsschrift (Émile Zolas Theorie des naturalistischen Romans und das Problem des Realismus, 1954) mit Zolas Ästhetik auseinanderzusetzen begann. Stark geprägt von der Ablehnung Engels’ (cf. den Brief an Miss Harkness, 1888, zit. 18) und vom Diktum Georg Lukács’, dass die Klassenlosigkeit Balzacs dem Reformismus Zolas vorzuziehen sei, geht sie dabei zunächst von der Annahme eines problematischen Naturalismus aus (cf. Kap. „Le problème du naturalisme“, 20-26). Erst über die stärker stilistisch orientierte detaillierte Lektüre einzelner Texte ‚rehabilitiert‘ Schober Zola auch gegen Lukács als „réaliste malgré lui“, der die Epoche des Second Empire ‚wahrheitsgetreu‘ zu dokumentieren verstand (109-113). Trotz einiger Längen, was die akademische Filiation der ostdeutschen Forscherin angeht, beleuchten diese beiden Kapitel in eindrücklicher Weise auch den „autokritischen“ (123) Umschwung von der Parteisprecherin zur heterodoxen Romanistin Schober, die der literarischen Form der Texte Zolas schließlich gegen den sozialistischen Formalismus-Vorwurf vermehrt Rechnung zollt. Dazu tragen in nicht geringem Maße die von Barjonet mit Schober geführten Interviews aus den Jahren 2001/ 2002 und die Sichtung privater Dokumente bei. Auch die editionsgeschichtlich interessanten Entwicklungsschritte Schobers sind wirkungsvoll in dieser Geschichte einer Autokritik platziert: die sozialistisch motivierten Gründe aus dem 137 Comptes rendus Jahr 1952 für und gegen die Publikation einzelner Werke aus den Rougon-Macquart (gegen Le Ventre de Paris sprechen etwa „les descriptions selon le principe naturaliste“, 121, gegen La Curée die exuberante Betonung des Inzests, 120) sowie Schobers eigene Revision aus dem Jahr 1993 gegen ihre „égarements idéologiques de jeunesse“ (zitiert nach Barjonets Übersetzung, 122). Sie münden schließlich ein in die neuen Nachworte, die für die Neuauflagen der Übersetzungen von Schober verfasst worden sind (so z.B. für La Curée im Jahr 1974). Um Zola als „novateur“ in der Beschreibung sozialer Zusammenhänge zu rehabilitieren, konzentriert sich Schober als eine der ersten in der Folge auf Leitmotive und symbolisch-allegorische Elemente seiner Texte. Bereits 1956 wird die nun unselegierte Gesamtausgabe der Rougon-Macquart beschlossen. In der Auseinandersetzung mit Le Docteur Pascal vollzieht Schober endgültig den Wandel zu einer größeren Hochschätzung für den literarisch tiefgründigen Zola, den sie fortan über den vordergründig politischen stellt. Und über die Linie Zola - Lukács - Schober - Barjonet wird zuletzt eine Serie von nur historisch denkbaren Rekontextualisierungen sichtbar, die Interpretation und „situation de réception“ (172) zusammenschließt. Es folgt schließlich im vierten Kapitel der komparatistische Blick auf die Rezeption Zolas in Frankreich, BRD und DDR: „Étude croisée des deux réceptions allemandes et de la réception française (1949-1978)“. Hier werden quantitativ und qualitativ einzelne Publikationen und mediale Organe dokumentiert und verglichen, um schließlich mit der auf beiden Seiten der Mauer einsetzenden Rezeption der 1976 abgeschlossenen Werkausgabe unter Federführung Rita Schobers zu enden. Die Wiederentdeckung des episch-poetisch-lyrischen Zola im Zuge der „mythocritique“ (cf. Gaston Bachelard, Gilbert Durand, Jean Borie), die Revalorisierung seiner Symbolwelten (cf. Gilles Deleuze, Roland Barthes, Michel Butor) und die narratologische Erforschung (Philippe Hamon) führen letztlich in Frankreich zur lange aufgeschobenen „Institutionalisierung“ Zolas als Klassiker (196). Die Aufnahme der Rougon-Macquart in die Pléiade-Ausgabe bei Gallimard (1960-67) beschließt diese Entwicklung. In Deutschland verleihen Hans-Jörg Neuschäfer (Populärromane im 19. Jahrhundert von Dumas bis Zola, 1976) und Hans Ulrich Gumbrecht (Zola im historischen Kontext: Für eine neue Lektüre des „Rougon- Macquart“-Zyklus, 1978) Zola ein neues Gesicht: Seine Texte werden zunehmend als Auseinandersetzung mit modernen Mythemen der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft - dem „Dieu Capital“ (213) und seinen Figurationen in den Pariser Markthallen, der Mine, der Börse - verstanden, und schließlich von Gumbrecht diskursanalytisch gebündelt. Die sozialen Metaphern gewinnen dabei die Überhand über den vielfach kritisierten naturalistischen Pseudo-Szientismus der „hérédité“ (cf. 221). „La thèse des deux Zola“ (26), die über Jahre die Rezeption dominierte und ihn entweder als Schriftsteller oder als Stimme politischen Engagements verstanden wissen wollte, wird ausdifferenziert: Auch die scheinbar ahistorischen mythischen Elemente der Texte Zolas, gegen die sich insbesondere die ostdeutsche Romanistik lange wehrte (cf. 132), können so integriert werden in 138 Comptes rendus eine diskursanalytische Betrachtung, die den Blick auf die Darstellung und Symbolisierung einer konfliktreichen société wendet (cf. dazu aktuell den Band Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Die französische Literatur und Kultur zwischen Sedan und Vichy, hrsg. v. Dietrich Scholler u. Stephan Leopold, München, Fink, 2010). Im Übergang von der Soziozur Mythokritik und deren Durchgang durch den strukturalistischen ‚Mut zum Formalismus‘, der in den Analysen Roland Barthes’ und Philippe Hamons zum Tragen kommt, zeigt Barjonet die Rezeptionsgeschichte Zolas als Abschied vom naiven Historismus: Die Autokritik Schobers dient dabei als Spiegel, wenn - wie Barjonet mit Verweis auf die neuere Forschung zeigt - nicht nur die Werke Zolas, sondern auch deren Lektüre diskursanalytisch neu ‚historisiert‘ werden können. Karin Peters (Mainz) —————————————————— STEPHAN LEOPOLD & DIETRICH SCHOLLER (ED.): VON DER DEKADENZ ZU DEN NEUEN LEBENSDISKURSEN. FRANZÖSISCHE LITERATUR UND KUL- TUR ZWISCHEN SEDAN UND VICHY, MÜNCHEN, WILHELM FINK, 2010, 358 P. Cet ouvrage collectif est né d’une section organisée par les éditeurs en 2008 au Congrès des Francoromanistes. Il est porté par une démarche historique d’un grand intérêt et s’appuye sur un postulat que S. Leopold expose en introduction. La France de la fin du XIX e siècle est marquée par une profonde remise en cause: nouvelle conception de l’homme (Darwin), nouvelles idées économiques (Marx & Engels), religion fragilisée par la science, défaite contre la Prusse. Au-delà de leurs différences, le naturalisme et la décadence se font l’écho de tous ces bouleversements et se retrouvent dans un discours marqué par l’idée de la chute, de la mort et de la dégénérescence. C’est avec la III e République que se met en place un discours de régénération qui n’est ni uniforme et ni exclusivement politique. À un discours de la nausée succède donc un discours du salut. 1 L’originalité du volume est d’étendre ce postulat jusqu’à l’époque de Vichy, de suivre les discours de régénération de l’après-Sedan jusqu’à la Seconde Guerre mondiale. Cette proposition néglige forcément l’importance de la Première Guerre mondiale, des figures ou des mouvements artistiques dominants au profit d’autres, et remet quelque peu en cause les découpages chronologiques en vigueur (voir aussi la dissociation réalisme-naturalisme à laquelle l’auteur de l’introduction souhaite retourner, 11). 1 Je joue sur le titre de l’ouvrage de Jean Borie, Zola et les mythes, ou de la nausée au salut, Paris, Seuil, 1971.