eJournals lendemains 38/150-151

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2013
38150-151

Die Krise Europas

2013
Franck Hofmann
Markus Messling
ldm38150-1510141
141 AActuelles Franck Hofmann / Markus Messling Die Krise Europas Von Gide bis Godard: Denken der Méditerranée und europäische Kultur Kennt also Europa ein völlig neues Heute, jenseits aller erschöpften und erschöpfenden Programme des Eurozentrismus und des Anti-Eurozentrismus? Diese Programme sind freilich unvergesslich - wir können und dürfen sie nicht vergessen, da sie uns auch nicht vergessen (Derrida 1992: 14). Was genau benennen wir, wenn wir von diesem großen See genannt Mittelmeer sprechen? Wie alle Namen, von denen die Rede ist, wie Namen im allgemeinen, bezeichnet auch dieser eine - negative - Grenze und eine Chance; vielleicht besteht die Verantwortung darin, dass man aus dem erinnerten Namen, aus dem Gedächtnis des Namens, aus der idiomatischen Grenze, eine Chance, das heißt eine Öffnung der Identität hin zu ihrer eigenen Zukunft macht (Derrida 1992: 29). Nach der „Zukunft Europas“ fragte die Revue de Genève 1923, acht Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, eine Reihe prominenter Intellektueller und Autoren. Unter den Antworten findet sich auch eine Reaktion André Gides, der bereits 1902 in L’immoraliste mit dem Lob des „Unmenschlichen“ und der Transformation des humanistischen Subjekts im Zeichen einer ästhetischen Erfahrung des Südens einen Bezug des europäischen Bewusstseins zur mediterranen Erfahrungswelt entworfen hatte. Seine Generation, so schreibt Gide, wohne „dem Ende einer Welt, einer Kultur, einer Zivilisation“ bei. Sicher sei nur, „daß alles wieder in Frage gestellt werde[n] [müsse], und daß die konservativen Parteien sich täuschen, wenn sie meinen, die Zukunft in den Institutionen der Vergangenheit unterbringen zu können, denn die alten Formen können den jungen Kräften nicht angemessen sein“ (Gide 1993 [1925]: 32sq.). Diese Diagnose gilt noch heute, im Moment einer anderen Krise, deren Tragweite nicht unterschätzt werden kann, einer Krise, in der wir Europäer zugleich dem Beginn einer Welt, einer Kultur, einer Zivilisation beiwohnen, deren Umrisse noch schwach konturiert sind. Gide fährt mit einem Diktum fort, das insbesondere deutschen und französischen Politikern heute wieder ins Stammbuch zu schreiben ist: „Der wahre europäische Geist widersetzt sich der isolierenden Selbstgefälligkeit des Nationalismus; er widersetzt sich gleichermaßen jener Entpersönlichung, die der Internationalismus herbeiwünscht“ (Gide 1993 [1925]: 33). Gerade durch das Zusammenspiel seiner beiden Teile gewinnt diese Charakterisierung des Europäischen seine gegenwärtige Produktivität. Für Nationen gelte, so Gide weiter, ebenso wie für Individuen, dass man dem Allgemeininteresse umso besser diene, je origineller man sei. Nicht um die 142 AActuelles Tilgung kultureller Differenz geht es also, sondern im Gegenteil um die Stärkung des Unterschieds und die Einsicht in diesen. Diese Wahrheit müsse jedoch durch eine weitere gestärkt werden, deren Gültigkeit auch für ein zeitgemäßes Verständnis der Nation durch einen Vorrang der Politik verdeckt werde: „[I]ndem man sich selbst aufgibt“, so Gide weiter, „findet man sich“. Anzusetzen sei nicht bei den Institutionen, sondern beim Menschen - und heute wie damals scheint zu gelten, „daß es vor allem und zuerst er ist, den man erneuern muß“. Gewiss, es bedarf einer Regulierung der Finanzmärkte, einer neuen politischen Architektur der Institutionen Europas, die dem starken Grad der wirtschaftlichen Integration und der Schwäche demokratischer Legitimation antwortet. Doch die in der gegenwärtigen Staats- und Finanzkrise zur Sichtbarkeit kommende Krise Europas ist auch eine Herausforderung für die Bildungs- und Kulturpolitik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten. Ihr haben sich deren Akteure - Jugendwerke, Bildungsakteure, Austauschprogramme usw. - ebenso zu stellen wie die Forschungspolitik und die durch sie betriebene Schwerpunktbildung in den Wissenschaften. Allen voran aber fordert sie sie das Engagement europäischer Intellektueller. Deren lange währendes Schweigen bringt vor allem eines zum Ausdruck bringt: Konzeptlosigkeit - oder gar Desinteresse? - in Bezug auf die Verfassung der Europäischen Union. 1 Jenseits des sich formierenden polit-ökonomischen Widerstandes ist die Stimme der Kultur und einer räsonierenden Intelligenz kaum zu vernehmen. Einer jüngeren Generation von Intellektuellen und Akademikern, denen Europa, wenn nicht die Welt, zum selbstverständlichen Aktionsraum geworden ist, wird die Frage nach der Verfassung eines europäischen Bewusstseins kaum mehr Gegenstand der Arbeit und der öffentlichen Debatte. Gleichwohl wird gegenwärtig deutlich: Es ist weder garantiert, dass auf dem Weg zu einer Europäischen Union fortgeschritten wird, noch, dass der bisher erreichte Grad der Integration unumkehrbar ist. Das Gefährdungspotenzial nationalstaatlicher Antagonismen und einer Identitätsbildung, die kulturelle Differenz als Bedrohung wahrnimmt, ist fortwährend virulent und nicht weniger bedrohlich als das von Risikotechnologien. Das sich am Horizont europäischer Gedenkpolitik abzeichnende Jahr der Erinnerung an den Ausbruch der Grande Guerre 1914 wirkt wie ein Mahnmal, das zur rechten Zeit wieder in den Blick gerät. Hinter der aktuellen ökonomischen Krise des gemeinsamen Währungsraums stecken zumindest zwei weitere: eine politische Krise und eine Bewusstseinskrise. Beide sind in der defizitären Konstruktion einer Europäischen Union begründet, die, vorrangig an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtet, ohne eine kohärente politische und substanzielle kulturelle Dimension auch nicht in der Lage sein wird, auf die Herausforderung der Eurozone angemessen zu reagieren. Zu schnell vergessen wird die politische Begründung der gemeinsamen Währung: Die Einführung des Euro diente nicht zuletzt dem Ausgleich des Machtgefälles zwischen Frankreich und Deutschland nach der Wiedervereinigung und damit der Stabilisierung des labilen Gleichgewichts im Zentrum der Europäischen Union. Je heftiger die Schläge des internationalen Finanzgeschehens Europa treffen, desto klarer 143 AActuelles treten partikulare nationalstaatliche Egoismen hervor - zumindest in Rhetorik und Wahrnehmung des politischen Diskurses. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise hat dabei nur aufgedeckt, was einen langen Vorlauf hat und in der defizienten Begründung des europäischen Projekts selbst seine Wurzeln zu haben scheint, das als ein Modell zur Vermeidung militärischer Konflikte auf dem Kontinent nicht mehr hinreichend legitimiert ist, nämlich die Absenz kultureller Begründungen einer europäischen Union zwischen den Herausforderungen der Globalisierung und den Sirenengesängen der Renationalisierung von Politik. Doch die Diagnose einer Krise des europäischen Bewusstseins, deren Symptome der bisweilen hysterische Ton und der klischeebeladene Verlauf der Debatten über die Krise der Eurozone ebenso sind wie die Rückkehr zur nationalen Interessenspolitik, steht scheinbar im Gegensatz zu einer europäischen Lebenswirklichkeit nicht nur, aber gerade von Jugendlichen, die sich die Städte des Kontinents zu eigen machen. Europa ist für eine Generation der ‚Easyjetter‘ zum leicht zugänglichen Nahhorizont eines potenziell mondialen Erfahrungsraums der Reisenden und als solcher unproblematisch geworden. Doch ist diese Aneignung umstandslos mit der Ausprägung eines europäischen Bewusstseins verbunden? In welcher Weise muss die Erfahrung einer ‚Stadt Europa‘ begleitet werden, um sich als politisches Bewusstsein niederzuschlagen? Die Erfahrungshorizonte moderner Mobilität werden nicht in eine europäische Politik der Union übersetzt: Mit der Lebenswirklichkeit ihrer Bürger scheint die EU kaum etwas gemein zu haben - obwohl sie bis hin zu Glühbirnen-Vorschriften in diese hineinwirkt - und sie gerät weniger zum Ausdruck des Europäischen als zum Ausdruck undurchsichtiger Machtverhältnisse. Längst ist „Brüssel“ hierfür zum Synonym geworden. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft, die Identifikation mit ihr und ihren Institutionen sind heute sicher abgekühlt und von einem Wechselspiel der Eigen- und Fremderfahrung abgelöst, in dem man sich aber sehr wohl noch immer als Deutscher, Franzose oder Grieche wahrnimmt. Trotz der Erweiterung ihrer lebenspraktischen Räume ist für die mobilen Gesellschaftsschichten vielleicht weniger eine Selbstauffassung als Europäer und als Staatsbürger ihrer Union charakteristisch als vielmehr eine forcierte Individualisierung auf neuen Spielflächen. Ein nationales Bewusstsein wird nicht umstandslos durch ein europäisches ergänzt oder gar abgelöst: Der Verlust des Zugehörigkeitsgefühl zu einem nationalen Kollektiv bedeutet vielmehr einen Gewinn an Individualisierung. Und wo die neue Weltgesellschaft mit ihren Zentrifugalkräften und geöffneten Horizonten nicht gelassen gelebt und eingeübt wird, ist nicht eine Konjunktur des Europäischen als Gegenpol zu beobachten, sondern eine Renaissance des Nationalen im Rahmen eines europäischen Lebensfeldes. Die Begegnung mit dem ‚Anderen‘ und ‚Fremden‘, die Differenzerfahrung als konstitutioneller Bestandteil des Europäischen - wie sie europäische Bildungspolitik der Nachkriegszeit und interkulturelle Pädagogik bis heute stark bestimmte - sollte ergänzt werden durch das Ringen um ein neues kulturelles Paradigma, das den europäischen Integrationsprozess begründet, um seine Hegemonie im intel- 144 AActuelles lektuellen Diskurs und die Verbreiterung seiner Geltung zu gewährleisten. Diese Ausarbeitung eines neuen europäischen Denkens, mit dem auf eine Krise des europäischen Bewusstseins zu reagieren ist, steht nicht im Konflikt mit den legitimen Interessen der Bevölkerung der Europäischen Union: der Sicherung von Lebensstandard und Lebensweise, die in der Dynamik der Globalisierung bedroht scheinen. Sie muss vielmehr genau dort ansetzen: Bei der grundlegenden Skepsis der Bürger Europas gegenüber einer Union, die die ‚ihre‘ schon lange nicht mehr ist: Europa erscheint mehr und mehr als Teil des Problems, nicht der Lösung. Sie muss ansetzen bei der Lebenswirklichkeit der Bürger der Europäischen Union, um zu verhindern, dass die fortgesetzt notwendige Bemühung um eine Überwindung nationalstaatlicher Antagonismen, mit der Europa auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts die richtige Antwort gab, in Gegensatz gerät zu einem Bedürfnis nach sozialer und identitärer Sicherheit, die in einer Wendung zum Nationalen - vergeblich - erhofft wird. Welches Europa wollen wir Bürger? Wofür steht Europa? Europa als Projekt eines unbeschränkten Wirtschaftsliberalismus und einer haltlosen Konkurrenzgesellschaft erscheint kaum mehr mehrheitsfähig - wie die Ablehnung einer europäischen Verfassung durch die Bevölkerungen Irlands, Frankreichs und der Niederlande gezeigt hat. Eine Ablehnung, die weniger dem europäischen Projekt als seinen politischen Intentionen und Qualitäten galt. Ein Bewusstsein europäischer Gemeinschaftlichkeit bleibt abstrakt und seltsam nichtreferentiell: Was das spezifisch ‚Europäische‘ an der Staaten-Union des Kontinents sei und worauf diese sich - jenseits ökonomischer und geopolitischer Minimalinteressen - gründet, bleibt nach dem generellen Verlust normativer Wertorientierung und aufgrund der Skepsis gegenüber symbolischen Formen und Praktiken eine unbeantwortete Frage. Das hegelianische Modell einer zu sich selbst kommenden freiheitlichen Vernunft, die auch Europas Stellung in der Welt - im Grausamen wie im Vorbildlichen - einmal begründet hatte, ist nicht mehr nur anthropologisch und moralpolitisch abwegig, es ist auch längst durch die Aufhebung des Entfaltungs- und Freiheitsversprechens im Spätkapitalismus diskreditiert. Europa sucht sich selbst, ringt um seine kulturelle Standortbestimmung. Notwendig sind heute nicht nur Entscheidungen über die institutionelle Architektur der politischen Union und eine Stärkung ihrer demokratischen Legitimation, sondern eine neue Kritik der politischen Ökonomie und eine Begründung der europäischen Union, die sich argumentativ nicht auf die Absicherung der wirtschaftlichen Stellung ihrer Mitgliedsstaaten in der globalisierten Welt beschränkt. Eines erscheint relativ klar: Die Nationen werden, zumindest als jene politischen Formationen, als die sie im 19. Jahrhundert ausgebildet worden sind, nur noch eine eingeschränkte Rolle spielen können, um die Zentrifugalkräfte der Weltgesellschaft auszutarieren, auch wenn sie als Felder geteilter Sprachzugehörigkeit und - dadurch bedingt - als eingespielte Foren der Verhandlung, vermutlich auch als Phantasmen der Verankerung, Bestandteil eines europäischen Bewusstseins bleiben werden und sollen. Nach einer Phase der forcierten Erweiterung der Europäi- 145 AActuelles schen Union, die durch die Macht des Faktischen, die von den demokratischen Revolutionen im Osten Europas ausging, alternativlos war, scheint heute zudem die Stärkung der Gravitationskräfte Europas angezeigt. Eine Stärkung von argumentativen und kulturellen Kräften, die in der Lage sind, die Zentrifugalkräfte zu beruhigen, die Europas Union in Frage zu stellen drohen, eine Union, die als transnationale Ordnung in historischer Perspektive eine ebenso junge wie labile Konstruktion ist. Worin könnten diese Gravitationskräfte bestehen, die uns auch die Bedingung der Möglichkeit zur Entfaltung einer politischen und kulturellen Union zu sein scheinen, die auf die Agenda gesetzt werden müssen, sobald die akute Bedrohung des europäischen Einigungsprozesses bewältigt sein wird? Jenseits kurzatmiger Krisenbewältigung und einer Politik, die auf Sicht fährt, scheint uns eine Anstrengung als Aufgabe dringlich aufgegeben: Europa vom Süden her neu zu denken. Die Méditerranée ist spätestens seit der Renaissance - und, wie wir meinen, bis heute - ein zentraler europäischer Imaginationsraum für einen Begriff vom Menschen und für seine als Gestaltung zur Welt zu begreifenden kulturellen Produktionen. Wenn wir hier bewusst den französischen Begriff wählen, so weil wir nicht allein auf sozial-geografische Zusammenhänge abheben, sondern auf die politische, ästhetische und imaginäre Aufgeladenheit des mittelmeerischen Raumes, weil wir das Mittelmeer auch als eine symbolische Ordnung begreifen. Mit diesem Erbe ist insbesondere auch auf einen Realitätsbezug verwiesen, den der Romanist Karl Eugen Gass in seinen 1938 bis 1942 geführten römischen Aufzeichnungen charakterisiert: Im „dichterischen Erlebnis“ werde „eine Gesetzmäßigkeit des Weltgeschehens“ und eine „symbolische Struktur erfahren, deren Eigentümlichkeit es [sei], daß sie ästhetisch befriedig[e]“ (Gass 1961: 235). Gass, der sich in Italien mit der Notwendigkeit konfrontiert sieht zu begreifen, worin sich für seine Generation die Erfahrung des Südens von jener Goethes, Rudolf Borchardts und wohl auch von der seines Lehrers Ernst Robert Curtius unterscheidet, formuliert an anderer Stelle seines Pisaner Tagebuchs als seine Aufgabe, zu erkunden, „welche seelische Haltung jener unbedingten Hinneigung zur schönen Form entgegenkommt und welche Rückwirkung die reine Schönheit auf den Menschen ausübt“ (Gass 1961: 20). Auch wenn solch eine konservative Schönheitsemphase heute unzeitgemäß klingt, Konzeptionen und Praktiken der Künste sich radikal gewandelt haben, so bleibt doch die von Gass im Horizont der Geisteswissenschaften und aus der Erfahrung der Méditerranée heraus gestellte Frage weiter aktuell: Welches sind - im Zeichen der Moderne - die kulturellen Bedingungen und spezifischen politischen Möglichkeiten einer ästhetischen Haltung der Welt gegenüber? Man würde ihr gerade heute eine Zukunft wünschen, in einem Moment, in dem die ideologische Ökonomisierung aller Verhältnisse den Möglichkeitshorizont eines ästhetischen Menschen immer weiter einschränkt. Doch in klassizistischen Humanitäts- und Formidealen, die - ebenso wie ihre vitalistisch aufgeladenen Dementis - seit dem 18. Jahrhundert konstitutiv an die Reise in den Süden und an eine lite- 146 AActuelles rarisch programmierte Anschauung der Antiken gebunden sind, kann dieser nicht mehr begründet werden. Diese vermittelten die Relektüre der philosophischen Begründungen der Méditerranée im Medium von Literatur und Kunst mit einer als unmittelbar inszenierten ästhetischen Bewegungserfahrung. Die politische und ästhetische Formenwelt der mediterranen Modellkulturen - verbunden mit der Abwehr ihres als ebenso bedrohlich wie faszinierend wahrgenommen archaischen Hintergrunds - wurde dabei zwar einerseits, wie etwa von Gass, in nationalen Kontexten vereinnahmt, blieb aber andererseits doch ein gemeinsamer neuhumanistischer Bildungshintergrund europäischer Identitäts-, Bildungs- und Gesellschaftsdiskurse. Bereits im 19. Jahrhundert, seit den Mittelalter- und Indiendiskursen der Romantik, wurde dieser an alteuropäischen Vorbildkulturen orientierte Reflexionshorizont durch vielfältige kulturelle Phänomene zunehmend in Frage gestellt - etwa durch Nietzsches dionysisches ‚Griechenland‘ - und die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts nahmen schließlich endgültig Abschied von geschlossenen Vorstellungen des ‚Menschen‘. Ihre Akteure gingen auf Distanz zu überlieferten normativen Modellvorstellungen einer abendländischen Kultur. Wenn sie nicht auf ein vitalistisches Überschreiten der Kulturschwere und die Entstehung eines neuen, technikgroßen ‚Roms‘ drängten, dessen gebauter Ausdruck das Gelände der faschistischen Weltausstellung E42 (EUR) ist, wandten sie sich nicht selten der anderen Seite des Mittelmeers zu, an der sie das ‚Andere‘ des europäischen Rationalismus zu entdecken hofften, aber doch meist nur eine Projektionsfläche ihres kolonial strukturierten Bewusstseins fanden. Vor diesem hier knapp skizzierten Hintergrund kann es heute weder um einen retour à l’ordre noch um eine Rückkehr zur antiken Begründung eines - im Zweiten Weltkrieg unwiederbringlich zerbrochenen - humanistischen Menschenbildes gehen, mit der noch Teile der historischen Avantgarden in ihrer Hinwendung zum Mittelmeer auf Krisen des europäischen Bewusstseins im 20. Jahrhundert zu reagieren suchten. „Das Gefühl, Dingen beizuwohnen, die unser Stern noch nie gesehen hat“, notiert Gass 1941 bei Kriegsausbruch zwischen Japan und den USA, „läßt einen tief schaudern: nun, wo zum erstenmal die ganze Erde mit Krieg überzogen ist, fragt man, was das heißt, ein Stern sein“ (Gass 1961: 234sq.) - und formuliert so den nicht zu hintergehenden Horizont jeder modernen Selbstbefragung Europas im Horizont seines mediterranen Erbes. In der kriegsbedingten Fundamentalerfahrung der Globalisierung gewinnt der Austritt aus der Begrenzung des Mittelmeerbeckens und des klassischen Zuschnitts seines kulturellen Erbes eine neue Dimension. Diese für das moderne Subjekt konstitutive Öffnung zur Welt ist die Voraussetzung einer vielfältig gebrochenen Beobachtung noch dessen, was von einem Denken der Méditerranée als Ressource der Erneuerung europäischen Bewusstseins verblieben ist. Diese Erschütterung halten die Seiten von Gass’ genau an diesem historischen Moment angesiedelten Pisaner Tagebuch fest, nämlich die „Erkenntnis, daß wir bedingt existieren und gleichsam durch ein Gestirn einer Bahn unter vielen anderen möglichen zugewiesen werden.“ Diese Erkenntnis, so Gass weiter, sei uns zu 147 AActuelles tief eingeprägt, dazu das „herbe Wissen“, dass „alles Leben abbricht wie ein zackiges Fragment Gestein, als daß wir nicht der Vorstellung eines allseitig harmonischen entwickelten Menschen mißtrauen sollten“ (Gass 1961: 212). Die Méditerranée ist nicht mehr zu reduzieren auf eine Ordnung der Harmonie, des Maßes und des Ursprungs - war es gewiss nie, außer in den klassizistischen Phantasmen und identitätspolitischen Diskursen zur Begründung moderner europäischer Nationalstaaten. Vor diesem Hintergrund - und aus der Erfahrung Roms als moderner Großstadt heraus - formuliert Gass vier Herausforderungen, denen sich eine Bezugnahme auf die Méditerranée als Ressource der Erneuerung europäischen Bewusstseins noch heute zu stellen hat: Dass, erstens, die „Wahrheit, daß vor [ihm] die einzige europäische Stadt [liege], in der von einer Einheit unserer Geschichte gesprochen werden [könne], [ ] zu der erschütternden Einsicht [geworden sei], wie zweideutig es mit dieser Einheit bestellt ist“ (ibid.: 218). Denn römisches Reich und katholische Kirche, auf denen in historischer Perspektive alle Einheit Europas beruhe - und auf die jede konservative Ideologie Europas Begründung bis heute verpflichten will - seien an der Peripherie, nicht im Zentrum fruchtbar gewesen. Rom hingegen habe es teuer bezahlt, „Jahrtausende hindurch ein idealer Mittelpunkt gewesen zu sein“. Neben diesem Übergang von einer ewig gültigen Wahrheit zu einer „erschütternden Einsicht “ steht, zweitens, dass sich hinter der sich aus dieser idealen Zentralität ergebenden Pracht Roms „jenes unheimliche Vakuum [verberge], in dem Sein und Nichts ineinanderfallen und die Mitte des Werdens angenommen [werde]“ (ibid.). Diesen, einer neuen symbolischen Geopolitik verschwisterten, Existenzialismus ergänzt drittens die Einsicht, dass die in Rom wenig wirksamen aber „ihren symbolischen Gehalt“ offenbarenden historischen „Kräfte“ heute „derart überdeutlich w[ü]rden [ ]“, dass man sich überwältigt „inmitten eines Kreises von Bühnen fühl[e], in ständiger Gefahr aus einem Betrachter zum Gegenstand für meist fremde Zuschauer zu werden“ (ibid.: 219). Dem römischen Spaziergänger Gass, dessen Aufzeichnungen Elemente zu einer Typologie des sich im Spiegel der Méditerranée in den Blick nehmenden modernen Menschen bereithält, scheint das eingreifende Subjekt unter dem Druck der Geschichte zum Objekt zu werden und ein Abbruch der ihres Gehaltes entleerten Überlieferung notzutun. Dieses, in seinem Kern nietzscheanische, Argument korrespondiert viertens mit der von Gass im Verkehrstrubel Roms formulierten Einsicht, dass „die Technik rücksichtslos in einen symbolischen Komplex eingebrochen [sei], so daß für das Gefühl ein unüberbrückbarer Konflikt entsteh[e]“ (ibid.). Formuliert ist hier die Grundkonstellation einer auf die konstitutive Bedeutung des Funktionalen abhebenden Moderne, der ein - in der Erfahrung des Südens bisweilen emphatisch beschworener - Zugriff auf Dimensionen des Lebendigen nicht mehr unvermittelt möglich ist und deren Agenten, mehr noch, aufgefordert sind, den „symbolischen Komplex“, der ihnen in den Monumenten der historischen Überlieferung begegnet, neu zu vermessen. Diese Anstrengung gerät, in Verbindung mit der Auffassung der Méditerranée als Ort einer Konfrontation mit dem Realen und der Einsicht in 148 AActuelles die politische Dimension jeder ästhetischen Haltung den Dingen gegenüber, zu einer Bedingung jedweder Hinwendung zum Mittelmeer im Zeichen einer globalisierten Weltgesellschaft. Gewiss: In dieser ist der - von Gass im Moment seines Verglühens noch einmal erinnerte - Bezugsrahmen eines europäischen Bewusstseins heute ein anderer, ebenso wie der Beitrag eines Denkens der Méditerranée zu seiner Erneuerung. Manche Quellen ‚mediterranen Denkens‘ können nicht mehr unreflektiert aufgerufen werden - etwa die zerbrochene Toleranzidee, die längst korrumpierte Haltung des Maßes, die scheinbare Unmittelbarkeit ästhetischen Reichtums. Doch die Méditerranée erscheint zugleich um so deutlicher als eine wechselhafte Konfiguration von Transgressionen und symbolischen Ordnungen, in der nicht nur ihre beiden Ufer verbunden, sondern auch deren Zeiten, Formen und Geschichten heute selbst globalisiert und über den geographischen Ort des Mittelmeers hinaus ausgedehnt sind. Genau diese von Fernand Braudel in La Méditerranée et le monde méditerranéen (1947/ 49) als Geburtszone des modernen Kapitalismus beschriebene Struktur selbst ist es - und nicht etwa die nach einer fatalen Kariere im 20. Jahrhundert desavouierte Reichsidee und ein transnationaler Katholizismus - aus der heraus ein europäisches Bewusstsein erneuert werden kann, das durch die Selbstauslieferung Europas an die Totalökonomisierung des politischen Diskurses verspielt zu werden droht. Die Erfahrungen identitärer Kämpfe in der Globalisierung unter wenig abgefederten Bedingungen, Wut, das Ringen um Verteilungsmacht, aufbrechende Revolutionen, die Revision der Stellung des ‚Westens‘ zur Welt: Es ist kein Wunder, dass Jean-Luc Godard in seinem letzten Kinoessay „Film socialisme“ (Godard 2010a) seine Suche nach Europa zu Europas Suche nach sich selbst werden lässt. Im Film (Godard 2010b) wird ein Luxusliner - Allegorie des trudelnden Europa - auf eine Reise durch mittelmeerische Welten geschickt, begleitet von Haltungen und Erinnerungen, die oszillieren, vibrieren, zerfließen, aufbrechen, real werden. Während Karl Eugen Gass noch die Bedingungen von Kontinuität im Anzeichen der Brüche reflektierte, sprengt Godard die große Narration. Er radikalisiert in seinem von den Avantgarden geerbten Montageverfahren die Einsicht in den nicht zu hintergehenden Zusammenbruch jedes Bezugsrahmens selbst. Halt gibt es nicht mehr im emphatischen Sinne, Sinn scheint allein dort noch auf, wo die Probleme aufbrechen, wo die Leere des alten Bewusstsein sich als Frage offenbart. Wenn sich in Godards Film Kreuzfahrtjux und Nazi-Episoden vermischen, Einsprengsel griechischer Mythologie - die Figur der Antigone etwa - neben ein gleichsam globalisiertes Lama an einer Tankstelle in Südfrankreich gestellt werden, Sergej Eisensteins Panzerkreuzer-Hafentreppe von Odessa ebenso erinnert wird wie ein Kindertribunal, vor dem den Erwachsenen Auskünfte über den Zustand der Ideale der französischen Revolution abverlangt werden, so ist dies ein trügerisches Amalgam, das doch schon, zu Boden gegangen, in Monaden zerläuft, deren Bezüge kaum mehr sichtbar sind. Die Demokratie erscheint zwar noch als Schwester der Tragödie, doch die Erinnerungsfragmente, die in Godards Film allüberall eingestreut sind, geben dem Bewusstseinsstrom keinen Halt und erlauben 149 AActuelles kein Innehalten mehr. Emphase begleitet allein Momente der Resistenz und der republikanischen Solidarität, wie sie in Szenen aus dem spanischen Bürgerkrieg und der französischen Résistance aufscheinen. Und selbst das Sprechen, zumeist die Domäne der Ratio, hat keine selbsterklärende Wirkung mehr: die Dialoge wirken seltsam entkernt, sie verhallen an Deck, in Wind und Meeresrauschen. Gleichwohl ist im Sprechen doch auch ein Moment menschlicher Solidarität, etwas Geteiltes, indem es als melodiöse Vielsprachigkeit Teil einer Klanggegenwelt ist, die eine globale Ordnung kommunikativen Rauschens unterläuft, deren Sinn und Form auch durch englische Untertitel kaum entschlüsselbar ist. Diese signalisieren zwar weltweite Lesbarkeit, sind aber in Wahrheit Wortfetzen in Navajo-Englisch, die doch nur einen kryptischen Kommentar liefern und den Traum totaler Verfügung als ideologische Oberfläche bloßlegen. So schlingert das Kreuzfahrtschiff von Alexandria über Israel/ Palästina, Athen, Odessa, Neapel nach Barcelona, symbolische Orte, die jedoch selbst keine Haltepunkte mehr sind. In einem Sampling um das Schiff verlaufender Generationsprobleme und kultureller Spannungen, politischer Konflikte und Kriegserinnerungen, Erscheinungen der Dekadenz und des Geldfetischs, bilden sie einen assoziativen Hintergrund für das Terrain, in das der zweite Teil des Films vorstößt: „Quo vadis Europa? “, fragt Godard und entwirft als Antwort einen aus brüchigen Erinnerungsorten und Bewusstseinsfragmenten gebildeten Raum, der letztlich den Raum von Intellektualität selbst beschreibt. Im mediterranen Raum europäischer Selbstverständigung entfaltet er eine Gegenwelt der Musik und des Klangs, der Vielstimmigkeit und der philosophischen Zitate als eine künstlerisch-philosophische Struktur, der eine originäre politische Kraft zukommt. „No comment“ - dieser selbstwidersprüchliche Schlusskommentar Godards zielt auf Opposition. Stärker als „Indignez-vous! - Empört euch! “ fordert er „Résistez! “, behauptet er einen Raum der Vielschichtigkeit des europäischen Erbes und seiner Vielsprachigkeit, der ästhetischen Haltung zur Welt und der intellektuellen Durchdringung der Dinge. Dass die Costa Concordia, der Luxusliner, auf dem Godard seinen Film gedreht hatte, im Januar 2012 vor der italienischen Insel Giglio havarierte, ist die tragisch-ironische Pointe dieser Geschichte, die Godards Arbeit an einer politischen Ikonographie der Méditerranée über den Film hinaus wie selbstständig weiterspann. 2 In Anlehnung an Godards grandiose ästhetische Befragung geht es bei der Hinwendung Europas zur Méditerranée, für die wir hier plädieren, um das vertiefte Verständnis eines differenzierten Gefüges von Spannungen und kulturellen Formkräften. Die Brüche europäischer Identitätssuche, die in kulturarchäologischer Anstrengung freigelegt werden, eröffnen ein Verständnis für ein europäisches Nichtbei-sich-Sein. Die Méditerranée ist darin ein leeres Zentrum. Die Antwort darauf ist weder seine Aufgabe im Globalismus, noch seine Besetzung mit einem identitätsphilosophischen Fundamentalismus. Gerade aufgrund der Spannung zwischen dem kulturgeschichtlichen Archiv und dieser Leere, eröffnet die Méditerranée einen neuen Reflexionsraum, in der Selbstbefragung als Relationalität und in Bezug zur politischen Realität ihren ‚Ort‘ hat. Diese Ausrichtung auf ein „anderes Kap“ 150 AActuelles bedeutet mit Derrida die Resistenz eines Raums kultureller Reflexion und zugleich die Forderung nach einer Neubestimmung der globalen Nord-Süd-Bezüge, die im Mittelmeer ausgehandelt werden. Während Europa heute in einer fundamentalen Bewusstseinskrise gefangen ist, können die Umbrüche des ‚arabischen Frühlings‘ auf der anderen Seite des Mittelmeers - die sicherlich auch Effekt sozialer und demografischer Probleme sind - als Ausdruck einer breiten Politisierung und kulturellen Selbstermächtigung des ‚Volkes‘ (im Sinne von gr. demos) verstanden werden: „Dégage - hau ab! “, schleudert es den Diktatoren ins Gesicht. 3 Zu gleicher Zeit ist in vielen europäischen Gesellschaften - zuletzt bei der Präsidentenwahl 2012 in Frankreich - eine Konjunktur des Populismus und eine Ermattung der republikanischen Gesellschaftsidee zu beobachten, eine Wiederkehr von Adels- und Autoritarismusdiskursen, die den Boden für wenig demokratische Regime, wie jenem Berlusconis in Italien oder Orbáns in Ungarn, und für eine rezente Renaissance faschistischer Ideologien in Europa bereitet haben. Während Europa aus Niedergangsängsten heraus mit sich hadert und nicht geringe Teile seiner Bevölkerung offensichtlich nicht mehr recht an die Kraft der Demokratie glauben, setzen in Nordafrika und dem Vorderen Orient Menschen ihr Leben für das freiheitliche Versprechen ein. In dieser politischen Konstellation, die sich hier formiert, rückt der Süden Europas neu ins Bewusstsein: Hier, inmitten der angeblich so unterbemittelten Mittelmeerwelt, brechen Fragen und Probleme auf, die ins Herz der europäischen Verfasstheit selbst führen. Hallte die Hoffnung der ägyptischen Revolution auf dem Tahrir-Platz nicht schon bei der europäischen Jugend in Madrid, Athen und Frankfurt am Main nach, die sich die Die auf Grund liegende Costa Concordia, im Vordergrund Rettungsboote im Hafen von Giglio (Quelle: Wikipedia) 151 AActuelles arabische Revolte zum Vorbild der Wiederaneignung des öffentlichen Raums nahm? 4 Erleben wir hier nicht jene orientierende Dezentrierung des eigenen ‚Zentrums‘, welche die französische Schriftstellerin Marguerite Yourcenar im kosmopolitisch gewendeten Hellenismus des alexandrinischen Poeten Konstantinos Kavafis ausmacht, um ihn 1940 in der Zeitschrift Mesure gegen die tödliche Emphase des ‚Eigenen‘ zu stellen: Sein Humanismus ist nicht der unsere: Wir erben von Rom, der Renaissance, dem Akademismus des 18. Jahrhunderts ein heroisches und klassisches Bild Griechenlands, einen Hellenismus des weißen Marmors: Unsere griechische Geschichte hat die Athener Akropolis zum Zentrum. Der Humanismus von Kavafis entfaltet sich aus Alexandria und Kleinasien, zu einem geringeren Maße aus Byzanz, und aus einer komplexen Folge von Griechenlanden, die immer weiter von jenem Zustand entfernt sind, der uns als goldenes Zeitalter unserer Herkunft [race] erscheint, in denen aber eine lebendige Kontinuität besteht. Vergessen wir auch nicht, dass der Alexandrinische Stil bei uns allein aus Verachtung lange Zeit als Zeichen der Dekadenz galt: Dabei hat sich erst unter den Nachfolgern Alexanders, in Alexandrien, in Antiochia, jene griechische Zivilisation jenseits der Stadtmauern entwickelt, in der fremde Errungenschaften mit einander verschmolzen und der Kulturpatriotismus endlich den Patriotismus der Rasse [race] überwinden konnte (Yourcenar 1978: 19, Übers. M. M.). Um einen aus solchen Öffnungen und Verschiebungen erwachsenden Verhandlungsraum der Kultur zu stärken, hat Europa heute die Ressourcen, die von den in kulturtheoretischer Absicht betriebenen Philologien und Kunstwissenschaften bereitgestellt werden, nötiger denn je. Es braucht zu seiner Neubegründung eine Konstellation von theoretischer Reflexion, ästhetischer Bildung und politischem Engagement. Uns scheint, dass rein ökonomistische Reaktionen auf die Krise der europäischen Gesellschaften, die einen nationalistischen Gestus nahezu automatisch hervorbringen mussten, auch in der politischen Ausrichtung begründet liegen, der sich die Union nach dem Zweiten Weltkrieg verschrieben hat: in einem heute in seiner liberalistisch-nordtransatlantischen Fokussierung erstarrten Blick auf die Welt, ebenso wie der Vernachlässigung einer kulturellen Begründung Europas. Vor dem Hintergrund der pointierenden Lektüren von Gass, Godard und Yourcenar plädieren wir dafür, neben die mit einem tiefgestaffelten historischen Hintergrund versehene atlantische Dimension Europas eine weitere zu setzen: eine Neuausrichtung der Europäischen Union sollte mit einer Hin-Wendung gerade zu dem Raum zusammengehen, den ökonomische Hardliner gerne aus ihrem Innern verbannen würden: der Méditerranée, und ihrer Bezüglichkeit zur globalisierten Welt, einem Reflexions- und Erfahrungsraum, in dem sich europäische Kultur je aufs Neue wieder zu erkennen, auf ein „anderes Kap“ hin zu orientieren hat. 152 AActuelles Agamben, Giorgio, „Se un Impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa“, in: La Repubblica, 15. März 2013 (http: / / ricerca.repubblica.it/ repubblica/ archivio/ repubblica/ 2013/ 03/ 15/ se-un-impero-latino-prendesse-forma-nel.html, zuletzt aufgerufen am 13.09.13) sowie als „Que l’Empire latin contre-attaque! “, in: Libération, 24. März 2013 (http: / / www.liberation. fr/ monde/ 2013/ 03/ 24/ que-l-empire-latin-contre-attaque_890916, 13.09.13). Derrida, Jacques, Das andere Kap - Die vertagte Demokratie. Zwei Essays, aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1992 [1991]. Gass, Karl Eugen, Pisaner Tagebuch, Aufzeichnungen, Briefe, ed. Paul E. Hübinger, Heidelberg/ Darmstadt, Lambert Schneider, 1961. Gide, André, „Europas Zukunft“, in: Carl Einstein / Paul Westheim (ed.), Europa-Almanach, Leipzig, Kiepenheuer, 1993 (Reprint der 2. Aufl. Potsdam 1925), 24-33. Godard, Jean-Luc, Film Socialisme. Dialogues avec visages auteurs, Paris, P.O.L., 2010 [a]. Godard, Jean-Luc, Film Socialisme. La Liberté coûte cher, Paris, Wild Side Video, 2010 [b]. Habermas, Jürgen, Zur Verfassung Europas - Ein Essay, Berlin, Suhrkamp, 2011. Kojève, Alexandre, „Das lateinische Reich“, in: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft, 15, 1991, 92-122 (Orig.: „L’Empire latin. Esquisse d'une doctrine de la politique française“, août 1945, in: La Règle du jeu, 1, mai 1990). Sorrentino, Paolo, La Grande Bellezza, Frankreich / Italien, Indigo / Medusa / Babe / Pathé Films, 2013. Yourcenar, Marguerite, „Présentation critique“, in: Constantin Cavafy, Poèmes, traduction du grec par Marguerite Yourcenar et Constantin Dimaras, Paris, Gallimard, 1978 [1958], 7-58. 1 Wichtige Ausnahmen hiervon stellen die Interventionen Jürgen Habermas’ dar (Habermas 2011) sowie der politische Vorschlag von Giorgio Agamben (2013) zur Konstruktion einer Deutschland einhegenden Südallianz in Europa, die er auf Überlegungen Alexandre Kojèves zur Wiederbelebung des „lateinischen Reichs“ gründet, die dieser als außenpolitische Strategie nach dem Zweiten Weltkrieg vorgeschlagen hatte (Kojève 1947). Die Agamben-Diskussion ist unseres Erachtens jedoch eher Symptom einer Renationalisierung denn Ausdruck einer Stärkung europäischer Erneuerung. 2 Wieder aufgenommen in Paolo Sorrentinos Film La Grande Bellezza (Sorrentino 2013), wo die gesunkene Costa Concordia in Hommage an Fellinis La Dolce Vita zum nostalgischen Emblem einer versunkenen kulturellen Gewissheit wird. 3 Der Einwand, dass - je nach Perspektive - islamistische Kräfte oder ein alter militärischökonomischer Machtkomplex diese Bewegung schon zum Scheitern verurteilt hätten, ist gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die europäische Gesellschaften mit revolutionären Prozessen gemacht haben, die Jahre, ja Generationen dauern können, in Frage zu stellen. Der Willensausdruck, in einer zukünftigen Gesellschaft mehr ‚Würde‘ zu haben, wie es Bewegungen wie Tamarod reklamieren, also mehr ökonomische Teilhabe und politische Partizipation zu erhalten, wird sich nicht mehr einfach zurückweisen lassen. Dies bleibt auch für die europäischen Bewegungen relevant. 4 So verweist die spanische Protestbewegung Movimiento 15M auf ihrer Homepage auf einen Aufmacher der taz, die am 19. Mai 2013 ein Foto der Puerta del Sol mit der Schlagzeile „Plaza de Tahrir“ betitelt hatte; cf. http: / / www.movimiento15m.org (zuletzt aufgerufen am 16.08.2013).